Kleine und große Kirchen Barock Dezember 2009
Für Touristen aus Übersee ist sie ein fester Programmpunkt auf der gebuchten Reiseroute "Europa in zehn Tagen". Abends in Frankfurt am Main eingetroffen, wird die Nacht im Bus verbracht, um pünktlich um 8.00 Uhr morgens, wenn die Wieskirche ihre Pforten öffnet, von diesem Inbegriff des bayerischen Rokoko empfangen zu werden.
Die weltweite Aufmerksamkeit verdankt die "Wies" ihrem Status als Weltkulturerbe. Über eine Million Menschen besuchen jährlich "das Meisterwerk menschlicher Schöpferkraft". Dieses Kriterium vergab die beratende Fachorganisation ICOMOS an die Wieskirche und fügte ohne eine weitere Begründung hinzu, sie sei Zeugnis einer untergegangenen Kulturepoche, nämlich der des bayerischen Barock. So wurde die Wieskirche im oberbayerischen Steingaden 1983 von der UNESCO nach den Domen von Aachen und Speyer sowie der Würzburger Residenz in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Eine Ehre, die dem Spätwerk des barocken Baumeisters Dominikus Zimmermann mit Recht zuteil wurde.
Wundersame Tränen lösten den grandiosen Bau der Wieskirche bei Steingaden in Oberbayern aus. Tränen waren es, die die schmächtige, ungelenk wirkende Holzfigur des Gegeißelten Heilands am 14. Juni 1738 vergossen haben soll und die zu den geistigen Bausteinen dieses "Stück Himmels auf dieser leidvollen Erde" wurden.
1730 hatten zwei Patres des Steingadener Prämonstratenserordens die hölzerne Christusstatue für die neueingeführte Karfreitagsprozession angefertigt. Doch schon vier Jahre später wurde der Gegeißelte Heiland mit dem geknoteten Lendenschurz - dieser ist für ihn charakteristisch, denn damit wurde auch das Ordensgewand der Prämonstratenser gegürtet - wieder ausrangiert. 1738 erbat sich die Wieshofbäuerin Maria Lori die Christusstatue für ihr Haus. Als sie nun an jenem Samstagabend im Juni vor ihm betete, sah sie zu ihrem ehrfürchtigen Erstaunen, dass der Heiland weinte.
Der Abt des Klosters Steingaden war ob dieses vermeintlichen Wunders sehr skeptisch und ordnete eine eingehende Prüfung an. Derweil sprach sich das Tränenwunder schnell herum. Eine kleine Wallfahrtskapelle musste errichtet werden, da die Menge der Gläubigen nicht mehr in die enge Stube der Bäuerin Lori passte.
Der Theologe und Augustinerchorherr Eusebius Amort, ein Anhänger der katholischen Aufklärung, befürwortete die Wallfahrt, und so entschloss sich der Abt Hyazinth Gassner (1729-45), eine größere Kirche in Auftrag zu geben. Noch 1745 begann man mit dem Bau, obwohl die kurfürstliche Erlaubnis erst von Gassners Nachfolger, Abt Marianus II. Mayr, eingeholt wurde. Mit der Skepsis der Kirche, welche die Tränen des Gegeißelten nicht als Wunder, sondern als Gnadenerweis Gottes betrachtete, erklärt sich unter anderem auch der seltsame Bau der Wieskirche. Im "Pfaffenwinkel" gab es viele Wallfahrten, deshalb wollte Kloster Steingaden abwarten, wie groß der Andrang der Pilger tatsächlich sein würde. Hätte die Wallfahrt zum "Wiesherrle" nachgelassen, hätte der 1746 fertiggestellte Chorraum als eigenständige Kirche ausgereicht.
Aber die Kirchenoberen sollten eines Besseren belehrt werden. Mit dem Bau wurden die berühmten Brüder Dominikus und Johann Baptist Zimmermann beauftragt. Dominikus Zimmermann (1685-1766) hatte sich mit Kirchenbauten einen Ruf als herausragender Baumeister des Barock in Bayern gemacht. Die Wieskirche sollte sein reifstes und schönstes Werk werden. Dominikus und sein älterer Bruder Johann Baptist (1680-1758), Freskomaler und Stukkateur, zählen zu den bedeutendsten Vertretern der über die Grenzen hinaus bekannten Wessobrunner Handwerkerschule, die zu ihrer Zeit bereits ein Begriff für Qualität, künstlerische Schöpferkraft und ausgezeichnete Organisation war. Sie brachten weitere Zimmerleute, Maler und Stukkateure mit. Gemeinsam mit den Chorherren von Steingaden, besonders aber mit Eusebius Amort, der wohl maßgeblich am Entwurf des theologischen Bildprogramms beteiligt war, schufen sie bis 1754 ein Gotteshaus, das noch über 250 Jahre später als sakrales Gesamtkunstwerk des Rokoko einzigartig ist und bis heute eine lebendige Wallfahrtstradition bewahrt hat.
Umspielt von saftig grünen Wiesen und Weiden hebt sich die Wieskirche langgestreckt und strahlend gegen die dunkle Silhouette der Voralpen ab - selten war ein Name sinnfälliger. Von außen betrachtet, wirkt der creme- und apricotfarbene Kirchenbau eher schlicht. Dem Besucher fällt vor allem die merkwürdige Bauform auf: An den ovalen Zentralbau mit dem wuchtigen Dach und der barock geschwungenen Westfassade schliesst sich der niedrigere, fast ebenso lange Chorbau an, der im Osten von einem schmalen Turm bekrönt wird.
Betritt der Besucher den Kirchenraum, wird er vom Überschwang der Schmuckfreude überwältigt. Die weißen Wände und Säulen lassen das Innere licht und hell erscheinen. Das durch die großen Fenster einfallende Tageslicht durchströmt in einer tänzelnden Ordnung den Raum und lenkt die Blicke in den Chor. Dort steht in der dramatisch im Dunkeln gehaltenen Mitte des Hochaltars, leidend wie in einem Kerker, der Gegeißelte Heiland.
Das Gold am Blattwerk der Kapitelle, an Kämpfern und Gewölbezwickeln zieht die Blicke wiederum nach oben zum Gewölbe, wo den Besucher eine ungeahnte Pracht empfängt: Girlanden, Blumen, Blätterranken, Amphoren, dralle Putti und Engelsfiguren, Wolken und Vorhänge rahmen bewegte, farbenfrohe und dennoch zarte Deckengemälde mit gewagten Perspektiven ein. All dies schufen im 18. Jahrhundert die bedeutendsten Künstler und Architekten nördlich der Alpen.
Die Schönheit, die durch die künstlerische und theologische Kreativität in der Wieskirche zum Ausdruck gebracht wurde, im einzelnen aufzuzeigen, würde Bücher füllen. So soll nur ein besonderer Kunstgriff Dominikus Zimmermanns erwähnt werden. Er, der Stukkateur und Baumeister, ersetzte im Innern der Kirche die Architektur durch das Ornament. Mit der Idee, Rocailles, diese für das Rokoko so typischen Muschelornamente, als Ersatz-Architektur zu verwenden, hatten schon manche Baumeister im Barock gespielt. Zimmermann aber hat es meisterlich verstanden, sie als architektonisches Prinzip im Bau der Wieskirche anzuwenden. Auf der Ebene des Betrachters setzte er die architektonischen Mittel noch recht konventionell ein, doch zur Decke hin löste er mit dem Ornament die Architektur auf. Sie ist plötzlich nicht mehr greifbar, stattdessen geben durchbrochene Rocailles und Kartuschen immer neue Durchblicke auf die biblischen Themen der Deckengemälde preis. Der Kunsthistoriker Herrmann Bauer beschreibt es so: "In der Wies stehen wir in einem ungreifbar, unwirklichen Realraum, der uns Blicke freigibt auf die eigentliche Wirklichkeit: das Altarsakrament und oben den Gnadenhimmel."
Darum pilgern noch heute viele Gläubige zum Gnadenbild in der Wieskirche. Die lebensbejahende Theologie der Bilderfolge und die tröstende Heiterkeit der Wieskirche empfand auch schon Abt Marianus II., der von 1745 bis 1772 Kloster Steingaden vorstand. Im Prälatensaal des Priesterhauses, das sich an die Wies anschliesst, ritzte er mit seinem Diamantring wie ein Schuljunge in eine Fensterscheibe: "Hoc loco habitat fortuna, hic quiescit cor - An diesem Ort wohnt das Glück, hier findet das Herz seine Ruh".
Christiane Rossner
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In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
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