Kleine und große Kirchen Oktober 2018
Die Heilandskapelle in Frankfurt (Oder) ist das kunstvolle Werk russischer Kriegsgefangener, die sie im Ersten Weltkrieg als „Mehrzweckbau“ für das einstige Lager Gronenfelde erbauten.
In diesen Wochen wird in vielen Teilen der Welt in mahnenden Gedenkveranstaltungen an den Ersten Weltkrieg erinnert, der in Europa am 11. November 1918 mit dem Waffenstillstand in Compiègne beendet wurde. In Frankfurt (Oder) hat sich ein besonderer Erinnerungsort aus dieser Zeit erhalten.
Friedlich mutet es an, das kleine Kirchlein. Wie es so, ganz aus Holz gebaut, inmitten einer beschaulichen Siedlung aus den 1920er-Jahren steht. Kaum noch etwas lässt auf das Elend schließen, das hier einst herrschte. An dieser Stelle, vor den Toren der Stadt, befand sich im Ersten Weltkrieg ein Lager für fast 23.000 Kriegsgefangene. Die Heilandskapelle, in der die Internierten damals ihren religiösen und kulturellen Bedürfnissen nachgehen konnten, ist zusammen mit dem Friedhof das letzte bauliche Überbleibsel. Das Ensemble hält die Schrecken dieses Krieges wach, eines Konfliktes von zuvor nie dagewesenen Dimensionen, mit Schlachtfeldern in Europa, Afrika und Asien.
Vier lange Jahre war Europa im Ersten Weltkrieg Schauplatz großer und verlustreicher Kämpfe. In seiner ersten Phase erlitt besonders das Russische Kaiserreich schwere Niederlagen. Allein bis Frühling 1915 gerieten an der Ostfront fast 500.000 russische Soldaten in die Gefangenschaft der Verbündeten Deutschland und Österreich.
Das erforderte den schnellen Aufbau großer Gefangenenlager. Zu ihnen gehörte das Lager Gronenfelde bei Frankfurt (Oder), in dem bis zu 23.000 Offiziere und Soldaten verschiedener Nationalitäten und Religionen eingesperrt wurden.
Um die Dimensionen dieser „Barackenstadt“ zu verdeutlichen: Frankfurt (Oder) zählte damals etwa 68.000 Einwohner. Die meisten der Internierten stammten aus dem Russischen Reich. Unter den Kriegsgefangenen waren aber auch Engländer, Franzosen, Belgier, Rumänen, Italiener und Serben. 800 bis 1.400 Soldaten mussten sich jeweils in einer der vielen schlichten, aus Holz errichteten Wohnbaracken zusammendrängen. Der Lagerkomplex verfügte zusätzlich über Offiziers- und Ärztebaracken, Werkstätten und Badehäuser, Wachunterkünfte, Latrinen- und Waschhäuser.
Wie mit den Gefangenen umgegangen wurde, beeinflussten maßgeblich die internationalen Haager Konventionen von 1899 und 1907, die verschiedene völkerrechtliche Regelungen enthielten und an die sich die Kriegsmächte zu halten versuchten. Neutrale Kommissionen wie das Rote Kreuz überwachten die Zustände in den Lagern. So war etwa die Versorgung der gefangenen Soldaten gemäß den Haager Statuten an der des eigenen Heeres zu orientieren. Doch im Laufe des Krieges machte die Mangelernährung weder vor der Bevölkerung noch vor den Lagerinsassen halt. Aufgrund von Hunger und schlechten hygienischen Verhältnissen waren Krankheit und Tod stets präsent. Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft, Industrie und im Bergbau führten zu einer weiteren Schwächung der Eingesperrten.
In diesen Zeiten bot den Kriegsgefangenen in Gronenfelde
die heutige Heilandskapelle Trost und Erbauung. Das 1915/16 in Holz errichtete
Gebäude diente als Kirche wie Kulturraum. Anstoß zum Bau gaben schweizerische und amerikanische
Mitglieder des Christlichen Vereins Junger Männer, die bei den deutschen
Behörden die Bauerlaubnis für dieses und weitere Mehrzweckgebäude in vielen
anderen Kriegsgefangenenlagern erwirkten –
so wie es die Haager Konventionen festlegten: „Den Kriegsgefangenen wird
in der Ausübung ihrer Religion und in der Teilnahme am Gottesdienste volle
Freiheit gelassen, unter der einzigen Bedingung, daß sie sich den Ordnungs- und
Polizeivorschriften der Militärbehörde fügen.“ Das Baumaterial für Gronenfelde
– Holz aus Schweden – lieferte das Rote Kreuz.
Die meisten dieser „Multifunktionshäuser“ hatten die Form üblicher Barackenbauten. In Frankfurt entschied man sich für eine davon abweichende, aufwendigere Baugestalt. Die hölzerne Halle hat einen Altarraum im Osten und einen eingestellten Turm im Westen, in dessen Erdgeschoss sich eine erhöhte Bühne befindet. Mit seinen großen Fenstern wurde der Turm von den deutschen Wachmannschaften auch als Beobachtungsposten genutzt. Einen Glockenstuhl erhielt er erst in den 1920er-Jahren. Da die Außenseiten der Halle mit Rundhölzern verkleidet sind, erweckt das Gebäude, dem eine Holzskelettkonstruktion zugrunde liegt, den fälschlichen Eindruck eines massiven Blockbaus.
Errichtet wurde es von russischen Handwerkern. Daher rührt auch der bis heute geläufige Name „Russenkirche“. Besonderes Geschick bewiesen die Gefangenen bei der Ausstattung. Mit zahlreichen Schnitzereien an Fenstern, Giebeln und Balken schmückten die Gefangenen die Halle in der Tradition ihrer Heimat. Außergewöhnlich sind die vielen hölzernen Drachenköpfe, die überall in der Kirche zu finden sind und deren Bedeutung unklar ist. Die Motive könnten aus der damals beliebten nordischen Volkskunst stammen oder aus der russischen Folklore, wobei Drachen in der dortigen kunsthandwerklichen Tradition keine prominente Rolle spielen. Bis heute haben sich auch die originalen Sitzbänke erhalten. Ihre Besonderheit: Sie haben keine Rückenlehnen und ermöglichen so, dass man auf ihnen in zwei Richtungen Platz nehmen kann – bei Theater- oder Choraufführungen mit Blick nach Westen zur Bühne, bei Gottesdiensten mit Blick nach Osten zum Altar.
Deutsche Wachmannschaften und Kriegsgefangene nutzten das Gebäude gleichermaßen. Sie saßen zusammen, wenn der Raum zur Lesehalle und in kalten Wintern zur Wärmestube wurde oder bei Konzerten, die das eigene Lager-Orchester veranstaltete. Diesem Musikensemble gehörten zirka 40 russische Gefangene an, die für ihre täglichen Übungsstunden vom Arbeitsdienst befreit wurden. Zu besonderen Anlässen konnten sie sogar die Zarenhymne anstimmen – und das mitten im gegen Russland kämpfenden Deutschland. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die deutschen Kriegsgefangenen zu Ehren des deutschen Kaisers ebenso verfahren durften.
Als Gotteshaus stand die Halle überwiegend den Wachleuten und Gefangenen evangelischen Glaubens offen. Katholiken konnten in Begleitung von Wachpersonal die Messe in der Stadt besuchen. Rabbiner betreuten die Soldaten und Offiziere jüdischen Glaubens. Für die großen orthodoxen Gottesdienste war die Halle vermutlich zu klein, sie fanden hauptsächlich unter freiem Himmel statt.
Der Bau der Russenkirche und der doch recht humane Umgang mit den feindlichen Gefangenen, auf Grundlage der Haager Konventionen, erstaunt. Er stand in scharfem Kontrast zum Grauen der Schlachten und der mörderischen Behandlung, die besonders die russischen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges erfuhren.
Nach dem Vertrag von Compiègne 1918 schwiegen die Waffen der Großmächte für einige Zeit. Die Kriegsgefangenen wurden nach und nach aus der Haft entlassen und kehrten zum größten Teil in ihre Heimat zurück. Doch das Lager wurde weiterhin genutzt: zunächst als Durchgangsstation für deutsche Soldaten, die aus der Gefangenschaft zurückkehrten, und dann als „Heimkehrlager“ für die sogenannten Optanten. Diese Menschen hatten in den an Polen abgetretenen Gebieten gelebt. Weil sie sich nicht für die polnische, sondern für die deutsche Staatszugehörigkeit entschieden hatten, mussten sie in das Deutsche Reich umsiedeln.
Während die meisten von ihnen bald weiterreisten, ließen sich andere hier dauerhaft nieder. Anstelle der hölzernen Baracken errichteten sie ab 1923 Häuser für ihre Familien und gründeten die „Heimkehrsiedlung“. Allein die „Russenkirche“ blieb stehen. Das schon recht baufällige Gotteshaus wurde restauriert und 1928 als „Heilandskapelle“ geweiht. Im Zuge dessen tauschte man das einstige Pappdach gegen ein Holzschindeldach aus und stellte ein Fundament aus Kalksandstein her. Damit wurde aus dem Provisorium eine auf Dauer angelegte Kirche.
Bis heute bildet sie das Zentrum der Siedlung und wird liebevoll gepflegt. Durch günstige Umstände hat dieses besondere Geschichts- und Architekturdenkmal die letzten hundert Jahre überdauert, während die meisten vom Krieg behafteten Lagerkirchen schnell abgerissen wurden oder verfielen.
Amelie Seck
Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz förderte die Restaurierung der Heilandskapelle 2012–14 mit 47.000 Euro.
Information
Die Heilandskapelle kann außerhalb von Gottesdiensten nach vorheriger Absprache besichtigt werden.
Eine kleine Ausstellung über die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers Gronenfelde im Bühnenraum der Russenkirche ist sehenswert.
Kontakt
Evangelische Kirchengemeinde Frankfurt (Oder), Gemeindebüro Tel. 0335 38728010, Gertraudenplatz 6,
15230 Frankfurt (Oder)
Förderverein Heilandskapelle Frankfurt (Oder) e. V., Tel. 0335 65235.
www.heilandskapelle.weebly.com
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