Februar 2015
MO: Das Ruhrgebiet nimmt seit geraumer Zeit eine Vorreiterrolle in Bezug auf die Konversion großer Industrieareale ein. Leuchtturm dieses Umwandlungsprozesses ist Zollverein in Essen, seit 2001 Unesco-Welterbe. Nach der Zeche wird nun auch die Kokerei Zollverein erschlossen. Was genau ist geplant?
Gabriele Heidner: Zeche und Kokerei Zollverein werden zu einem lebendigen, integrierten Kultur- und Wirtschaftsstandort entwickelt. Die Stiftung Zollverein folgt dabei dem städtebaulichen Masterplan des Office for Metropolitan Architecture / Rem Koolhaas aus dem Jahr 2001. Sowohl auf der Kokerei als auch auf der ehemaligen Schachtanlage 1/2/8 entstehen in Nachbarschaft zu der inspirierenden Industriearchitektur Zollvereins moderne Bürogebäude.
Auf der Schachtanlage 1/2/8 entsteht auf einem 35.000 m² großen Areal die Designstadt Zollverein. Der erste Neubau "Designstadt N°1" ist vollständig vermietet und bietet flexiblen Raum für diverse Betriebsgrößen und Nutzungen. Im Herbst 2014 fiel der Startschuss für zwei neue Großprojekte: Bis Sommer 2017 wird auf dem ehemaligen Materiallagerplatz der Neubau für den Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste errichtet, der das bereits von der Hochschule genutzte SANAA-Gebäude auf Schacht XII ergänzt. Außerdem soll bis Ende 2017 ein Hotelneubau bezugsfähig sein. Die Welterbe Entwicklungsgesellschaft mbH & Co. KG, eine Projektgesellschaft der Essener KÖLBL KRUSE GmbH und der RAG Montan Immobilien GmbH (RAG MI), hat dafür zwei Grundstücke auf dem Standort erworben und investiert rund 50 Millionen Euro in die Projektentwicklung. Auf angrenzenden Grundstücksflächen ist eine Bebauung mit Wohnungen sowie mit Büros für Start-Ups geplant.
Auf der Kokerei Zollverein hat die RAG Montan Immobilien (RAG MI) im Jahr 2012 in einem mit dem Denkmalschutz abgestimmten Neubau ihren Unternehmenssitz bezogen. Weiterer Baustein für die Entwicklung des Unternehmensstandortes Zollverein ist der geplante Neubau für die Zentrale der RAG AG mit rund 250 Büroarbeitsplätzen, der in direkter Nachbarschaft zur RAG MI auf dem Kokerei-Areal entsteht. Der Baubeginn ist für Mitte 2015 vorgesehen, im Herbst 2017 ist der geplante Einzugstermin. Das denkmalgeschützte Kammgebäude auf der "weißen" Seite der Kokerei wird seit 2014 für Unternehmen der Kreativwirtschaft ertüchtigt, um unter anderem den erwarteten Neugründungen von Absolventen des Fachbereichs Gestaltung der Folkwang Universität der Künste geeignete Räume zu bieten. Der erste Mieter - das expandierende Produktentwicklungsbüro MMID aus Essen - zieht Ende 2015 ein.
Mit dem Spatenstich für die Convention Hall in der ehemaligen Sauger- und Kompressorenhalle auf der Kokerei wurde ein Meilenstein für die künftige Ausgestaltung des Areals als Eventlocation gesetzt. Ab Ende 2015 soll die neue Veranstaltungshalle ihren Betrieb aufnehmen. Nach dem von einer privatwirtschaftlichen Investorengruppe betriebenen Umbau in Höhe von 6 Millionen Euro wird eine Convention Hall, die mit 5.000 m² dann zu den größten Event-Locations des Ruhrgebiets zählt, neue Maßstäbe für den Eventbusiness setzen und damit einen wichtigen Wirtschaftszweig für Zollverein und die Region dazugewinnen.
MO: Entsteht ein neues eigenständiges Stadtquartier in Essen? Warum sind keine Wohnungen vorgesehen, wenn - außergewöhnlich für ein Unesco-Welterbe - eine Gewerbenutzung erlaubt wurde?
Gabriele Heidner: Nein, auf dem Unesco-Welterbe Zollverein entsteht kein neues Stadtquartier. Zollverein verbindet heute durch neu geschaffene Wege den Stadtbezirk VI-Zollverein und die umliegenden Stadtteile Schonnebeck, Katernberg und Stoppenberg, in dem viel Wohnraum vorhanden ist. Die Gewerbenutzung ist in der Tat ungewöhnlich für ein Unesco-Welterbe. Diese Art der Nutzung war bereits Bestandteil des Managementplanes, der Grundlage für die Beantragung des Welterbe-Titels war, und auch Teil des Masterplans von Koolhaas, der ebenfalls der Unesco-Kommission vorliegt. Das Welterbe Zollverein steht exemplarisch für die denkmalpflegerische Maxime "Erhalt durch Umnutzung".
MO: Neben Kulturtouristen werden Arbeitende im Dienstleistungssektor und Kreative die neuen "Nutzer" der Kokerei werden. Außerdem ist, wie Sie erwähnten, ein Hotelbau geplant. Wie soll man sich die riesigen Freiflächen des Areals vorstellen? Wird es vermehrt Gastronomie geben, gestaltete Grünflächen, Kinderspielplätze - oder sind keine weiteren Eingriffe in die Brachen geplant?
Gabriele Heidner: Aktuell kommen jährlich rund 1,5 Mio. Kulturtouristen auf das Welterbe Zollverein, nur um das Denkmal in der inneren Zone des riesigen Areals zu besuchen. Die geplanten Neubauten für die neuen Nutzer im Kreativ- und Dienstleistungssektor befinden sich an der Peripherie. Sie markieren die äußeren Eckpunkte des Standortes und werden über eigene Zufahrten erschlossen. Ein Blick auf den Gesamtplan verdeutlicht, dass die Freiflächen zwei Funktionen zugeordnet werden. Ein Teil gehört zum ZOLLVEREIN® Park, von dem bereits große Teile realisiert wurden. Dabei werden vorhandene Strukturen wie beispielsweise Gleise oder Brücken aufgegriffen und in den Park einbezogen. Weitere Freiflächen werden auf der Grundlage des Masterplanes für eine gewerbliche Nutzung unter Federführung der Grundstückseigentümer, der NRW Urban und der RAG MI, bebaut. Auf den Flächen, die den Investoren gehören, obliegt den Investoren die Schaffung einer Infrastruktur u.a. mit gastronomischen Angeboten etc. Dem Duktus des ZOLLVEREIN® Parks entsprechend wird es auch in der Designstadt neue, gestaltete Grünflächen geben. Und neben den bereits vorhandenen Spielflächen auf dem Zollverein-Areal ist aktuell mit der Stadt Essen ein sogenannter Parcours für Jugendliche geplant. Auch die neue Kita in der Designstadt wird über kindgerecht gestaltete Grünflächen verfügen.
MO: Gibt es eine Anbindung an die historische Stadt Essen, an die Stadtteile Katernberg, Schonnebeck und Stoppenberg? Kann man den alteingesessenen Essener mit Zollverein wieder stärker verbinden?
Gabriele Heidner: Eine Vielzahl von Radwegen und auch die "Kulturlinie" der Essener Verkehrs AG (EVAG), die auf einer Nord-/Süd-Route die gesamte Stadt quert, verbindet Zollverein mit der Essener Innenstadt. Die umliegenden Stadtteile Katernberg, Schonnebeck und Stoppenberg werden durch neu geschaffene Wegeverbindungen im Zollverein Park miteinander verbunden. Die städtischen und regionalen Radwege schließen an die Ringpromenade an: das ist ein 3,5 km langer Weg für Rad- und Fußgänger, der das gesamte Zollverein-Areal umschließt. Der Zollverein Park ist ein für alle Bürger offener, neuer Stadtpark und wird insbesondere von den Anwohnern sehr gut angenommen.
Die historisch gewachsene enge Verbindung zwischen dem Welterbe Zollverein und den Stadtteilen Katernberg, Schonnebeck und Stoppenberg zu stärken, ist zudem die Aufgabe der bei der Stiftung Zollverein angesiedelten und von der RAG-Stiftung geförderten Initiative "Zollverein mittendrin". Wichtige Projekte im Jahr 2014 waren die Erzählwerkstatt "MEIN ZOLLVEREIN", für die mehr als 110 Mitwirkende ihre persönliche Zollverein-Geschichte aufschrieben, vertonten oder inszenierten, und das Projekt "Sentimentale Urbanität", in dem Bewohner aus dem Stadtbezirk VI - Zollverein und Studierende der Folkwang Universität der Künste ins Gespräch über geliebte Orte kamen. Eine weitere gute Nachricht kam zum Jahresende: Die Förderung für "Zollverein mittendrin" wurde von der RAG-Stiftung bis ins Jahr 2018 verlängert.
MO: Essen war 2010 Kulturhauptstadt Europas, davor von 1989 bis 1999 Teil der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park. Zollverein hat davon ungemein profitiert, doch allein in Essen gab es noch andere Projekte, ganz zu schweigen von den weiteren Ruhrgebietsstädten. Schürt man nicht in derselben Stadt, in derselben Region Konkurrenzen um Kultur-, Kreativ- und Bürostandorte?
Gabriele Heidner: Das sehe ich nicht so, vor allem weil Zollverein sozusagen ein "geborener" Designstandort ist: Mit seiner historischen Architektur, die sich mit dem Schacht XII seit 1932 als "gebautes Design" durch die gelungene Verbindung von technischer Funktionalität und ästhetischer Gestaltung auszeichnet und dem Bauhaus-Gedanken "form follows function" folgt; mit renommierten Design-Institutionen wie dem Design Zentrum Nordrhein Westfalen und dem international bekannten Red Dot Design Museum, die bereits seit 1997 ihren Sitz auf dem Areal haben; als Standort der Kreativwirtschaft mit inzwischen mehr als vier Dutzend Unternehmen und eben in Zukunft als Design Campus Zollverein mit einem Neubau für den Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste inklusive Raumangeboten für die Designer von morgen.
Insofern sehen wir uns nicht als Konkurrenz zu anderen Standorten. Bei den auf Zollverein ansässigen Unternehmen handelt es sich entweder um Gründungen, um Ausgründungen wie beispielsweise das Unternehmen MMID, das zuvor im Zukunftszentrum Triple Z auf dem Schacht 3/7/10 seinen Sitz hatte und im Herbst 2015 das mehr Platz bietende Kammgebäude auf der Kokerei bezieht, oder auch um Essener Unternehmen, die ihren Sitz nach Zollverein verlegt haben.
Mit den neuen Unternehmenszentralen für die RAG MI und die RAG AG entstehen Bürogebäude für zwei Unternehmen, die heute für die Transformation des Ruhrgebiets stehen, die die Entwicklung von ehemaligen Bergbaustandorten aktiv begleiten und künftig von Zollverein aus Verantwortung für die Umgestaltung der Region übernehmen. Einen symbol- und prestigeträchtigeren Ort für diese Aufgaben kann man sich kaum vorstellen.
MO: Wie gehen Sie mit dem prognostizierten demografischen Wandel um? Ist es nicht gewagt, einen neuen - wenn auch sehr attraktiven - Stadtteil entstehen zu lassen, in Hinblick auf schrumpfende Bevölkerungszahlen in den nächsten Jahren?
Gabriele Heidner: Wie gesagt: Mit der Umgestaltung von Zollverein ist kein neuer Stadtteil entstanden. Außerdem muss man sehen, dass hier eine Brache neu genutzt und nicht eine grüne Wiese bebaut wird. Der Gesamtplan verdeutlicht zudem, dass Zollverein mit dem ZOLLVEREIN® Park zu großen Teilen aus Grünflächen besteht: Im Eigentum der Stiftung Zollverein befinden sich 62 Hektar Parkfläche. Zum Vergleich: Das Gesamtareal des Welterbes Zollverein umfasst 100 Hektar.
Die Attraktivierung des Zollverein-Areals als Design-Campus und als weitläufiger Park ist mit zwei Zielsetzungen verbunden: Zum einen sollen die bis zu 600 Studierenden, die ab 2017 in dem Neubau der Folkwang Universität studieren, Impulse auch in die umliegenden Stadtteile bringen. Zum anderen soll eine Abwanderung der bereits ansässigen Bevölkerung verhindert werden. In den vergangenen fast 10 Jahren sind die Bevölkerungszahlen im Stadtbezirk VI - Zollverein mit 50.000 Bewohnern absolut konstant geblieben. Mit anderen Worten: Das Thema schrumpfende Bevölkerungszahlen stellt sich in den Stadtteilen rund um das UNESCO-Welterbe Zollverein bislang nicht.
MO: Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Beatrice Härig
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
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