Kurioses Juni 2013 G
Rindvieh in kreuzgewölbten Hallen, Säue zwischen Säulen - viele rheinhessische Bauern leisteten sich im 19. Jahrhundert steinerne Ställe, die handwerklich perfekt gearbeitet und genauso teuer waren wie ein stattliches Wohnhaus. Was sich kurios anhört, hatte in Wirklichkeit einen ganz praktischen Hintergrund.
Heute ist das sonnenverwöhnte Hügelland zwischen Bingen, Mainz, Worms und Alzey Deutschlands größtes Weinbaugebiet - eine Tradition, die schon auf die Römer zurückgeht. Im Lauf der Zeit erlebte die Region diverse Umbrüche in der Landwirtschaft. Um 1800 wurden Ackerbau und Viehwirtschaft neu strukturiert: Die Stallhaltung des Viehs sollte die Zucht verbessen und höhere Milcherträge bringen. Der Stallmist wiederum konnte als Dünger für die nun vermehrt angebauten Futterpflanzen eingesetzt werden. Dafür waren größere Stallungen nötig, die man zunächst in herkömmlicher Fachwerkbauweise errichtete. Doch die hatte ihre Tücken: Das über den Ställen gelagerte Heu und die typische geschlossene Bauweise der fränkischen Hofreiten erhöhte die Brandgefahr erheblich. Der Verlust von Haus und Vieh war das Schreckgespenst für jeden Bauern. Zudem ließen die Ausdünstungen die Balken innerhalb kurzer Zeit faulen und begünstigten Krankheiten. Einen weiteren Nachteil bedeutete die Abhängigkeit von den stetig steigenden Holzpreisen im waldarmen Rheinhessen.
Massive Steinbauten waren also das Gebot der Stunde, was viele Ökonomen längst so propagierten. Beispiele gab es seit der napoleonischen Zeit genug: Im Zuge der Säkularisation hatte man allerorten Kühe und Schweine in Klostermauern einziehen sehen. Nicht nur zahlreiche Refektorien, sondern auch Kirchenräume waren nach ihrer Profanierung zu Ställen umfunktioniert worden.
Um die Hallen sicher und ohne jegliche Verwendung von Holz zu überwölben, kam nur eine altbewährte Technik in Frage: ein weiß gekalktes Kreuzgewölbe, das auf Säulen und Kragsteinen ruhte. Da diese Architektur vor allem von Kirchen und Klöstern bekannt war, verlieh sie den Ställen eine fast sakrale Anmutung. Kein Wunder, dass der Volksmund die ungewöhnlichen Behausungen für das Vieh später "Kuhkapellen" taufte.
Zu einem Vorreiter wurde der Gutsbesitzer Best aus Osthofen, der um 1830 wohl einen der ersten Gewölbeställe errichten ließ. Seine positiven Erfahrungen machte er 1839 öffentlich und pries die Bauweise auch gleich für weitere Funktionen an. Sein Bericht "Ueber die Errichtung und die Vorzüge leichter Backsteingewölbe (Kreuzgewölbe) statt hölzerner Decken (Gebälke) bei Erbauung von Stallungen, Brennereien, Brauereien, Waschküchen, Remisen etc." erschien in der "Zeitschrift für die landwirthschaftlichen Vereine des Großherzogthums Hessen", einem der wichtigsten Fachblätter jener Zeit.
Die Nachahmer ließen nicht lange auf sich warten, zumal sich mit Franz Ostermeyer ein Spezialist für Gewölbeställe empfahl. Der Maurermeister aus dem nordpfälzischen Eisenberg hatte die Technik perfektioniert. Seine "leichten Kreuzgewölbe aus Backsteinen ohne Einschalung" wurden von Ludwig Freiherr von Lichtenberg, Generalkommissar der Provinz Rheinhessen und ab 1837 auch Präsident des "Landwirthschaftlichen Vereins" für Rheinhessen, hochoffiziell zu Lehrstücken erhoben. 1842 rief er Maurermeister und -gesellen auf, sich von Ostermeyer schulen zu lassen. Die Kosten dafür übernahm der Verein. Bis 1856 folgten etwa 50 Maurer der Fortbildungsmaßnahme und verhalfen unzähligen Bauern und Gutsbesitzern zu den innovativen Ställen, die nicht nur stabil, feuersicher und hygienisch waren, sondern zugleich als Statussymbol taugten.
Die Investition in die aufwendige Bauform lohnte sich, da die Materialien quasi vor der Haustür lagen. Sowohl der Sandstein, aus dem die Säulen gearbeitet wurden, als auch die Bruch- oder Feldsteine, die man für die Mauern benötigte, waren reichlich vorhanden. Die Ziegelsteine für die Gewölbe konnten in der zweiten Jahrhunderthälfte sogar industriell hergestellt werden. So entstanden im vergleichsweise wohlhabenden Rheinhessen wohl an die 300 dieser imposanten Hallen. Zwar wurden auch in anderen Landstrichen vereinzelt kreuzgewölbte Ställe errichtet, doch kann keine andere Gegend eine solche Dichte aufweisen.
Ab 1880 lösten schlanke gusseiserne Säulen vermehrt die Stützen aus Sandstein ab. Nach der Verbreitung der mithilfe von Eisenträgern konstruierten Preußischen Kappendecke - weit günstiger in der Herstellung - gehörten die Kreuzgewölbe im Stallbau gegen Ende des Jahrhunderts der Vergangenheit an.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Vieh- und Milchwirtschaft im kleinen Stil für die meisten Landwirte in Rheinhessen nicht mehr rentabel. Viele verlagerten sich nun auf den Anbau von Getreide und Zuckerrüben sowie den Weinbau. Die "Kuhkapellen" standen leer oder wurden als Lagerraum, Werkstatt oder Garage genutzt. Aufgrund ihrer massiven Bauweise und der Tatsache, dass sie normalerweise mit der übrigen Hofbebauung verbunden waren, blieben die steinernen Ställe glücklicherweise von einer großen Abrisswelle verschont.
Mit der Umstellung von Fass- auf Flaschenwein und der touristischen Vermarktung von Rheinhessen als Weinregion kamen viele Gewölbebesitzer auf den Geschmack: Vor allem die jüngere Generation weiß den Wert dieser kulturhistorischen Besonderheit zu schätzen. Manch ein Zugezogener hat seinen Hof gerade wegen der "Kuhkapelle" erworben. Und so erlebten die vergessenen Ställe seit den 1990er Jahren eine Renaissance. Liebevoll renoviert, werden sie mittlerweile von Winzern als Probierstube oder Straußwirtschaft genutzt, dienen als stilvolles Restaurant und origineller Veranstaltungsraum, kommen als Galerie oder sogar als Trauzimmer zu neuen Ehren.
Heute gibt es in Rheinhessen noch rund 200 "Kuhkapellen", wobei einige auf ihre Wiederbelebung warten. Da die meisten Ställe nachträglich in bestehende Hofanlagen integriert wurden, sind sie von außen allenfalls durch die charakteristischen halbrunden Fenster erkennbar. Seit 1999 besteht die "Interessengemeinschaft Rheinhessische Weingewölbe", die mit kulturellen und gastronomischen Veranstaltungen auf die "Kuhkapellen" aufmerksam macht.
Der Stallgeruch ist längst verflogen: Wo früher gemolken wurde, kann man jetzt zwischen schmucken Säulen Riesling und Scheurebe genießen. An die ursprünglichen Bewohner erinnern allenfalls Abnutzungen auf halber Höhe des Säulenschafts: Am rauhen Sandstein konnten die Kühe einst ihr Fell reiben.
Bettina Vaupel
Peter Warbinek: Neuer Glanz in alten Ställen. Rheinhessische Kreuzgewölbeställe einst und jetzt. Hrsg.: Interessengemeinschaft Rheinhessische Weingewölbe. Zu beziehen bei: Rheinhessen-Touristik GmbH, Friedrich-Ebert-Str. 17, 55218 Ingelheim, Tel. 06132 44170, info@rheinhessen.info, www.rheinhessen.info, www.rheinhessische-weingewoelbe.info
Otto Bartning gehört zu den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Wegweisend sind seine Raumschöpfungen im Bereich des protestantischen Kirchenbaus.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
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Ergänzend zu Ihrem Artikel ist zu erwähnen, dass es in der Pfalz (eher in der nördlichen Hälfe) ebenfalls sehr viele Gewölbeställe gibt. Ich lebe 5 km von Eisenberg (Wohnort von Maurermeister Ostermayer) in Wattenheim in einer Kuhkapelle aus dem Jahre 1863. Bauherr war Joseph Rudolph, mein Ururgroßvater.
Wattenheim alleine zählte 4 dieser Ställe, leider nur 2 sind noch existent. In den Nachbardörfern von Wattenheim und Eisenberg sind ebenfalls solche Ställe zu finden. Vielleicht kann man bei der Aufzählung die Nordpfalz nachträglich hinzufügen.
Ich selbst habe begonnen, ein Kataster solcher Ställe in meiner Umgebung zu erstellen.
PS: Ihren Artikel finde ich trotzdem sehr schön !!!
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