Kleine und große Kirchen Öffentliche Bauten Dezember 2010
Groß war die Enttäuschung, als Martin Luther 1510 nach beschwerlicher Reise in Rom eintraf. Keine überwältigende Hingabe und Erleuchtung erfasste den Wallfahrer mit dienstlichem Auftrag im Epizentrum der christlichen Kirche, sondern purer Schrecken und Ekel angesichts der durchaus weltlichen Zustände in der klerikalen Welt. Enttäuscht kehrte er diesem Hort der fleischlichen Sünden und der feilgebotenen Ablässe den Rücken und machte sich zurück in Richtung Heimat.
Rom, am Beginn seiner Blütezeit als majestätische Renaissancestadt, wurde für Luther als Sitz der korrupten Päpste ein Synonym für den moralischen Niedergang der Kirche. Man weiß, wie sich seine römischen Erlebnisse nach seiner Rückkehr niederschlugen und in ganz Europa erschütternde Ereignisse ihren Lauf nahmen.
Welten sind damals für den jungen Luther aufeinandergeprallt, deren Unterschiede man sich kaum krasser vorstellen kann: Das wirre Rom, das sich gerade nach langen Jahrhunderten des Niedergangs mit Unmengen von Geld und Künstlern wie Raffael und Michelangelo zwischen Ruinenfeldern strahlend neu erfand, und das Kloster der Augustinereremiten in Erfurt, wo Luther seine lange Reise angetreten hatte. Zwar war Erfurt, die fleißige Handelsstadt, damals eine der größten Städte Deutschlands und besaß eine berühmte Universität, aber Luther verbrachte sein Leben hauptsächlich hinter hohen Klostermauern in Klausur. Vor seiner Reise war ihm Erfurt schon für zehn Jahre Heimat geworden. 1501 schickt ihn sein Vater zum Grundstudium der freien Künste an die Erfurter Universität, wo er vier Jahre später die Magisterwürde erlangt und daraufhin 1505 das Jurastudium aufnimmt. Nur wenige Wochen später hat Luther am 2. Juli in der Nähe Erfurts bei Stotternheim ein alles veränderndes Erlebnis: Bei einem starken Gewitter wird er fast vom Blitz getroffen und gelobt im Angesicht des Schreckens der heiligen Anna, Mönch zu werden. Am 17. Juli klopft er an die Pforten des Erfurter Augustinerklosters und bittet um Aufnahme.
Ein langes inneres Ringen ist dieser Entscheidung vorausgegangen. Denn Luther weiß, worauf er sich einlässt. Entgegen der manierierten und luxuriösen Gepflogenheit weiter Teile des römischen Klerus nehmen die Augustiner-Eremiten des schwarzen Klosters in Erfurt die Grundlagen ihrer religiösen Bewegung ernst. Schwarz - von daher der Name - und grob gewebt ist die Kutte. Der Tag beginnt kurz nach Mitternacht mit der Matutin und endet je nach Jahreszeit erst spätabends.
Der gesamte Tagesablauf ist gefüllt mit Stundengebeten, Messen und geistlichen Lesungen. Erst um zwölf Uhr mittags wird das erste Mal, schweigend und betend, gegessen, kurz vor Nachteinbruch gibt es eine Abendmahlzeit. An Fastentagen besteht sie nur aus Obst und Brot, und gefastet wird das halbe Jahr. Die Mönche schlafen auf einfachen Strohsäcken in der Regel gemeinsam im Dormitorium. Die Zellen, die den Schlafraum säumen, werden für die wenigen nichtreglementierten Stunden am Tag als Ort der persönlichen Zwiesprache mit Gott und vor allem für die wissenschaftliche Arbeit genutzt. Damit keinerlei Gefühl des persönlichen Eigentums oder einer eventuellen Heimeligkeit aufkommen kann, werden die Zellen regelmäßig getauscht.
Sie sind durch Gitterfenster jederzeit einsehbar. Und um dem Müßiggang zuvorzukommen, wird permanente Beschäftigung verlangt. Lachen gilt als Vergehen im Kloster. Luther legt nach einer Vorprüfungszeit und einem Jahr als Novize, in dem er mit großer Hingabe die Bibel studiert, ja fast auswendig lernt, im September 1506 das Mönchsgelübde ab - die Verpflichtung zu Gehorsam, Armut und Keuschheit.
Das Kloster hatte bis zu Luthers Zeiten bereits eine Geschichte von fast zweieinhalb Jahrhunderten hinter sich. 1266 lassen sich die Augustiner in der prosperierenden Stadt Erfurt nieder und beginnen 1276 mit dem Bau des Klosters. Eine alte Pfarrkirche von 1131 wird übernommen und abgetragen, um der weitaus größeren Klosterkirche Platz zu machen. Gleichzeitig entstehen der fast quadratische Kreuzgang und der Westflügel des Klostergebäudes. Um 1335 dürften die Arbeiten an den Hauptgebäuden des Klosters abgeschlossen sein. Ein beeindruckendes Tempo für die damalige Zeit. Mit der Fertigstellung der Waidhäuser um 1490 und des Bibliothekbaus 1516 hat das Kloster seine größte, durchaus beachtliche Ausdehnung erreicht. Im Spätmittelalter gilt es als führendes geistiges Zentrum mit hohen geistlichen Würdenträgern und namhaften Gelehrten, die oft an der Universität lesen.
Der strikte Tagesablauf zu Luthers Zeiten sollte jedoch nicht täuschen: Auch die Augustiner - ihres Zeichens Bettelordensmönche - hatten sich einst des Eintreibens von Ablässen bedient, um diesen ausladenden Klosterbau finanzieren zu können. Sie hatten sogar vom Papst die Erlaubnis erhalten, auch in anderen Pfarrbezirken - gegen gutes Geld - Absolutionen erteilen zu dürfen. Seelenheil lässt sich eben gut verkaufen. Nach dem Beginn der Bettelordensbewegung - Erfurt ist eine der frühesten Niederlassungen des Ordens - hatte sich schnell eine etwas laxere Auslegung der augustinischen Regeln verbreitet. Mitte des 14. Jahrhunderts bildet sich eine Gegenbewegung innerhalb des Augustinerordens. Man will sich wieder an die ursprünglichen Gelübde halten: Kein Besitz, auch keine persönliche Kleidung und Bücher sollen den Weg zu Gott behindern. 1474 schließt sich auch das Erfurter Kloster der Reformkongregation an. Die Mönche leben nach der neuen Ordnung im Sinne der Reformen, verstärken das Bibelstudium und vertiefen sich in die humanistische Lehre. Innerhalb des Ordens kommt es zu großen Spannungen, und Luther steckt mittendrin. Seine Reise nach Rom 1510 bis 1511 sollte der offiziellen Unterstützung der "observanten", der strengen Vertreter im Augustinerorden durch den Papst dienen.
Dieses große Gären in der Kirche, die unterschiedlichen Kräfte, die sich aneinander reiben und schließlich geschichtlichen Persönlichkeiten wie Luther Platz machen, wo ließe es sich noch heute besser örtlich festmachen als im - mittlerweile - evangelischen Augustinerkloster in Erfurt?
Bis in unsere Tage hat sich das Kloster sein mittelalterliches Erscheinungsbild weitgehend bewahrt. Das Areal ist noch immer zum Teil von der alten Klostermauer umschlossen. Der Kreuzgang, der Klostergarten, die ehemalige Klausur: Vieles lässt die stumme und in sich gekehrte Welt der Vorreformation erahnen. Gleichzeitig ist dieser Ort einstiger größtmöglicher Abgeschiedenheit heute ein einladendes Haus. Zum einen ist das Kloster Luthergedenkstätte und für jedermann zu besuchen. Der Ort, an dem Luthers Kirchenkritik zu einem explosiven Sprengsatz heranwuchs, ist fassbar, sogar die Zellen, in denen er mit sich, Gott und der Kirche gerungen hat, sind zu besichtigen.
Zum anderen betreibt die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen seit 1980 eine Begegnungs- und Tagungsstätte im Klosterkomplex. Es werden Tagungen und Seminare ausgerichtet, und der Besucher kann im Kloster übernachten. Behutsam versucht man, eine Balance zwischen Authentizität und wirtschaftlichem Betrieb zu halten. Die schlichten, ursprünglichen Zimmer des Besuchertrakts um den wunderschönen Innenhof mit der uralten Kastanie atmen Ruhe. Nur eine Mauer trennt diese ungewöhnliche Herberge vom mittelalterlich geprägten, dennoch modernen Stadtkern Erfurts.
Die Pforte in der Mauer, durch die Luther eintrat, um sein Leben im Kloster zu verbringen, war früher ein Schritt in ein anderes Leben, heute ist es ein willkommenes, zeitlich begrenztes Refugium. Es braucht einige Zeit, bis der Besucher sich im großen und vielteiligen Klosterkomplex zurechtfindet. Was einerseits die Faszination ausmacht, ist andererseits große Last: Viel gibt es zu tun, um solch einen eigenen Kosmos instand zu halten. Zwar wurden schon zu DDR-Zeiten die Kirche und andere Gebäude nach dem schweren Luftangriff auf Erfurt im Jahre 1945 wiederhergestellt. Von der Bibliothek und den Waidhäusern im Westteil der Anlage aber standen lange Zeit nur noch die Fundamente. Und immer wieder treiben Hiobsbotschaften den Verantwortlichen den Schweiß auf die Stirn: Eher zufällig stellte man im Mai 2008 fest, dass das berühmte Löwen- und Papageienfenster in der Klosterkirche auseinanderzubröseln drohte.
Am 10. November 2003, an Luthers Geburtstag, wurde deshalb die "Stiftung Augustinerkloster zu Erfurt" als 125. treuhänderische Stiftung in der Obhut der Deutschen Stiftung Denkmalschutz errichtet. Am 17. Juli 2005 - 500 Jahre, nachdem Luther das Kloster betrat - wurde bei einem Festakt in die historische Mauer der ehemaligem Klosterbibliothek eine Gedenktafel eingelassen. Anlass war der Beginn des Wiederaufbaus der Bibliothek. Nach einem aus einem Architekturwettbewerb 2004 hervorgegangenen Entwurf errichtete man in den letzten Jahren auf den Fundamenten des historischen Gebäudes einen modernen Bau. Seine Besonderheit ist, dass er auf "Mikro-Pfählen" steht und somit über den historischen Grundmauern zu schweben scheint.
Vor Baubeginn wurden aber im Frühjahr 2006 zunächst archäologische Untersuchungen vorgenommen - mit ebenso sensationellen wie ergreifenden Ergebnissen: Handwerker-Häuser aus dem frühen 11. Jahrhundert, Überreste eines Waisenhauses mit 82 Kindergräbern und weitere zahlreiche Funde aus dem 11. bis 14. Jahrhundert liefern viele neue Erkenntnisse über die Geschichte Erfurts. Ebenso wie das neue Waidhaus - seine Eröffnung als Ruhe- und Andachtsraum fand am Tag des offenen Denkmals am 14. September 2008 statt -, das auf dem Standort der alten Waidhäuser gebaut wurde, erweist die Bibliothek in moderner Architektursprache, aber alter Kubatur Respekt vor dem Vergangenen. Im Sommer 2010 wurde die neue Bibliothek feierlich eröffnet. Sie beherbergt heute unter anderem eine Gedenkstätte für die Opfer des Bombenangriffs auf das Augustinerkloster vom Februar 1945 sowie die Geschäftsstelle der internationalen Martin-Luther-Stiftung.
Mit den großen Bauprojekten, die ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte des Erfurter Augustinerklosters aufschlagen, konnten endlich die schmerzenden Kriegsspuren beseitigt werden. Außerdem benötigte das Kloster, lebendig wie es ist, dringend Platz. So wie vor einem halben Jahrtausend, als Luther auch auf einen Bibliotheksneubau schaute. Damals bat der Bettelorden um Spenden, um das Kloster in Betrieb halten zu können. Dieser Tradition wollen wir heute folgen, denn nach den Feierlichkeiten zur Eröffnung der spektakulären neuen Gebäude brauchen die alteingesessenen Bewohner des Augustinerklosters wie die Papageien im Kirchenfenster wieder unsere ganze Aufmerksamkeit.
Beatrice Härig
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
Otto Bartning gehört zu den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Wegweisend sind seine Raumschöpfungen im Bereich des protestantischen Kirchenbaus.
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Eine hervorragende Präsentation!
Seit 1990 bin ich immer wieder dort gewesen, jetzt leider schon über ein Jahr nicht mehr. Bei der ersten Gelegenheit fahre ich mit Kindern und Enkeln wieder hin!
Ich möchte mich äußern, weil ich das ganz und gar anders sehe als Prof. Neumann und seiner Ansicht nicht folgen kann. Die Bibliothek, zumindest so, wie sie sich hier in den Bildern zeigt, ist für mich völlig deplatziert. Was soll diese schwarze Glaswand (Galerie Bild 3) zwischen den alten Mauern? Bild 2, die andere Seite des Bibliothekbaus, ist eine glattgehobelte, nichtssagende Fläche mit Löchern.
Weiter wäre es schön gewesen, zumindest einmal zu erklären, was ein Waidhaus (gewesen) ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das noch viele Leute kennen. Das Wort "Waid" ist heute nur noch im Zusammenhang mit der Jagd gebräuchlich.
Unter den Bildern ist eine Lupe angebracht. Mit ihr soll man das Bild vergrößern können. Die mögliche Vergrößerung ist marginal, also kann man sie auch entfallen lassen, insbesondere weil das sich öffnende Fenster nicht vergrößern läßt. Schauen Sie mal bei Wikipdia rein, was die für Bilderqualitäten vorzeigen!
Anm. d. Red. Mehr über die Geschichte der Waidhäuser erfahren Sie hier
www.waidhaus-erfurt.de/geschichte.html
Als begeisterter Monumente-Leser und Lutheraner stieß ich auf diese wunderschöne Klosteranlage in Erfurt. Ihre sehr gut bebilderte Darstellung finde ich vorzüglich, ein Anreiz zu einem Erfurt-Besuch. Eine Frage fand ich darin nicht beantwortet: Was ist ein Waidhaus, doch kein Waisenhaus? Ein Dank und Glückauf aus Bochum!
Anm. d. Red. siehe Kommentar oben
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