Öffentliche Bauten Kurioses Ikonographie Juni 2010
Schade: Die Lateinschule in Alfeld an der Leine aus dem Jahr 1610 ist schon lange keine Schule mehr.
Vielleicht wäre es um das Lernen besser bestellt, wenn noch einige dieser liebevoll gestalteten Gebäude in Betrieb wären. Stattdessen besuchen Kinder heute oft gesichtslose Schulen.
Vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges sahen es die Ratsherren und Bürger der Städte als vornehmste Aufgabe, für die Gemeinschaft zu bauen. An wichtigster Stelle standen die Rathäuser, gefolgt von Pfarrkirchen und Schulen. In Alfeld machte sich ein Einzelner um die Bildung verdient und hinterließ ein Denkmal des Humanismus.
Der Lehrer und Theologe Bartholomäus Sengebähr, der als Generalsuperintendent nach Alfeld berufen worden war und sich dort "der Schulen getreulich angenommen" hatte, sammelte in der Bürgerschaft Spenden für den Neubau. Als Initiator gab er selbst die größte Summe. Die Stadthistoriker vermuten, dass Sengebähr als führender Kopf der kleinen Stadt das Epigramm verfasste und auch die Ideen für die 132 figürlichen Reliefs an der Fassade hatte. An der Lateinschule wurden seit dem Mittelalter Kinder auf einen geistlichen Beruf oder ein späteres Studium an der Universität vorbereitet. Unterrichtet wurde, wie der Name schon sagt, vor allem Latein. Als Ziel galt "docta et eloquens pietas", die gelehrte und rhetorisch geformte Frömmigkeit. Nach der Säkularisation verschwand der Begriff "Lateinschule", sie hieß dann Gelehrtenschule, Gymnasium oder Lyzeum.
Äußerlich ist die Alfelder Lateinschule ein Prachtbeispiel bürgerlicher Renaissance-Baukunst. Sie entstand hier unter dem Einfluss von Hildesheim, wo sich ein eigener Stil in der Fachwerkarchitektur ausgebildet hatte. Es handelt sich um einen kombinierten Backstein-Fachwerkbau mit waagerechten Setzschwellen, Gebälk, Konsolen und senkrechten Ständern, die reliefartige Figuren tragen. Um das gesamte Haus herum läuft als "Dichtkunst im Freien" - auf der Setzschwelle des ersten Stockwerks in der Nordwestecke beginnend - eine Inschrift in großen lateinischen Lettern. Es ist ein Epigramm, das aus sechs Distichen, dem antiken Doppelvers aus Hexameter und Pentameter, besteht. Der Verfasser bezieht sich auf Genesis 28, die Erzählung über Jakobs Traum von der Himmelsleiter in Bethel. Ein Auszug daraus ist hier abgedruckt. Das Relief mit dieser Szene befindet sich an der Ostseite.
Der evangelisch-lutherische Humanismus wurde mit diesen Worten in Holz geschnitzt. Es galt, den rechten Glauben zu bewahren und zu festigen, um das Wohl des Landes zu vergrößern.
Bartholomäus Sengebähr war ein tüchtiger Philologe, ein fleißiger Dichter, und er sprühte vor Phantasie. Seine Worte ließ er mit 132 Bildplatten ausschmücken, die sich als farbenfrohes, horizontales Band um das Haus ziehen. An der Ostseite fängt das Programm mit Adam und Eva an; auf insgesamt 53 Reliefs erscheinen Szenen aus dem Alten Testament. Das Neue Testament findet sich am Südgiebel. Unten links ist Jesus Christus als "Eckstein" zu sehen - triumphierender Weltenherrscher und Lehrer zugleich.
Um das Thema Schule geht es an der Westseite: Ganz oben zeigen sich die neun Musen als Beschützerinnen der Künste und Wissenschaften und die sieben freien Künste, das heißt die Fächer der Lateinschule und der unteren Fakultät. In der unteren Reihe gibt es vier Schriftsteller, neben Salomon als Dichter der Weisheit und der Psalmen die römischen Dichter Tibull, Ovid und Marcellius, der wahrscheinlich als Marcellinus zu deuten ist. Als wichtige Lernziele dürfen die Tugenden nicht fehlen, die rechts und links vom Portal erscheinen. Es sind Glaube, Liebe und Hoffnung, ergänzt durch die Geduld, und die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Alle erscheinen in lateinischer Fassung.
Der Nordgiebel stellt die Lateinschule in Bezug zur Universität, führt die Fakultäten an: die Theologie, verkörpert durch die Reformatoren Luther und Melanchthon, die Jurisprudenz mit Bartolus und Tribonianus und die Medizin in Gestalt von Hippocrates und Galenus.
Damit nicht genug: Das gesamte waagerechte und senkrechte Balkenwerk ist mit Schmuckformen wie Beschlagwerk, Rosetten, Vasen, Vögeln, Hahn und Hirschkopf, Masken, weiblichen Köpfen und Engeln dekoriert. Die Alfelder sind in der glücklichen Lage zu wissen, wer hier schnitzte: Meister Andreas Steiger und sein Sohn Johann aus Hildesheim, so belegt es eine Bauakte im Stadtarchiv.
Wie eingangs erwähnt, ist das Gebäude nicht immer Schule geblieben. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde in Alfeld das Bedürfnis, Latein zu lernen, immer geringer. Seit 1813 gab es hier ein Lehrerseminar, ab 1855 war es eine Volksschule. Im Aufwind der Gründerzeit planten die Stadtväter ein Gymnasium, das 1899 an anderer Stelle gebaut wurde. Das Schicksal der Lateinschule ist aber dennoch kein trauriges: sie dient inzwischen als Stadtmuseum. Vor allem anderen stellt sie sich selbst aus. Frei stehend und 2008 restauriert, verweist sie gleich neben der Nicolai-Kirche mit Wort und Bild extrovertiert auf ihren ehemaligen Zweck. Man möge auch diese Ikone der humanistischen Bildung - neben dem Alfelder Faguswerk von Walter Gropius - in sein Reiseprogramm aufnehmen.
Christiane Schillig
Am Tag des offenen Denkmals, dem 12. September 2010, feiern das Stadtmuseum Alfeld und die Kirchengemeinde St. Nicolai gemeinsam
ein Jubiläums-Fest auf dem Kirchhof, das um 9.30 Uhr mit einem Gottesdienst beginnt. Ein Jazzfrühschoppen folgt um 11 Uhr. Von 14 bis 17 Uhr präsentieren Musikgruppen und Chöre Musik aus der Renaissance. Daneben finden
Führungen rund um die Lateinschule und eine Ausstellung zur Geschichte
des 400 Jahre alten Gebäudes statt.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
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Vielleicht interessiert Sie folgender Aufsatz zur Lateinschule: S. Döpp, Lateinlernen im Alfeld der Frühen Neuzeit, in: M. Korenjak, F. Schaffenrath (Hgg): Der Altsprachliche Unterricht in der Frühen Neuzeit, Innsbruck 2010, S. 79-90.
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