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Nicht immer lassen sich Geschichten von Auswanderern als Erfolgs-Märchen erzählen. Für die 17-jährige Martha Hüner aber wird 1923 der Traum vom neuen - besseren - Leben wahr. Am 10. Dezember, als sie am Kai von Bremerhaven auf die Abreise wartet, weiß sie dies noch nicht. Bislang hat sie ihren Stadtteil Geestemünde noch nie verlassen, und nun reist sie ganz allein nach Amerika.
Letzte Umarmungen und Küsse werden ausgetauscht, weiße Taschentücher geschwenkt. Während die Zurückbleibenden mit ihrer Trauer kämpfen, mischen sich bei denen, die mit Martha Hüner an Bord gegangen sind, Hoffnung und freudige Erwartung ins Durcheinander der Gefühle. Mit tränenumflorten Blick auf den Neuen Hafen sagen die Auswanderer der Heimat Lebewohl. In ihren Köpfen werden die Bilder an der Columbuskaje, der schlanke Backstein-Leuchtturm und später die sich weitende Weser mit dem imposanten großen Bruder "Roter Sand" für immer als Erinnerungsorte ins Gedächtnis eingegraben sein.
So wie Martha Hüner traten mehr als sieben Millionen Auswanderer zwischen 1830 und 1974 von Bremerhaven aus die Schiffspassage in die USA, nach Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien an. Dort, wo sie Europa verließen und sich einst die Lagerhallen befanden, steht seit 2005 das Deutsche Auswandererhaus.
Die Besucher des Museums werden eingeladen, Geschichte mit allen Facetten des äußeren Scheins und sämtlichen Gefühlen nachzuerleben. Sie begleiten Auswanderer auf ihrem Weg in die ungewisse Zukunft. Beginnend mit dem Abschied, stehen sie selbst in einer rekonstruierten kahlen Wartehalle der Reederei Norddeutsche Lloyd, drängen sich mit täuschend echt gestalteten Figurengruppen vor der respekteinflößend düsteren Bordwand des Schnelldampfers "Lahn", ringen auf dem schwankenden Boden des Schiffs um Halt und laufen durch das niedrige, enge Zwischendeck während der Überfahrt. Bei der Ankunft in Amerika werden sie in die "eisernen Käfige" der Einwandererstation Ellis Island vor Manhattan entlassen. 16,5 Millionen Menschen passierten die zur Quarantänestation ausgebaute Insel vor der Stadt. Nach einer medizinischen Untersuchung und einer Befragung durch Inspektoren entschied sich dort, wer einreisen durfte und wer zurückgeschickt wurde.
Mit einer elektronischen Eintrittskarte, dem Boarding Pass, können Besucher in der Ausstellung die Lebensgeschichte eines bestimmten Migranten und seiner Familie bis zu dessen noch heute lebenden Nachfahren verfolgen. So beispielsweise das Schicksal der Martha Hüner. Das Ende der Geschichte, die hier am Anfang als Auswanderer-Märchen angekündigt wird, steht noch aus. Tatsächlich musste Martha nicht völlig ins Ungewisse reisen, wie noch viele hungernde Bauern und Handwerker im 19. Jahrhundert, die sich überhaupt kein Bild vom Land ihrer Träume hatten machen können. Mut allerdings brauchte auch sie, denn die unbegrenzten Möglichkeiten waren längst geschrumpft. Martha Hüner wurde von ihren in Amerika lebenden Tanten eingeladen, die ihr zwar keine Reichtümer, aber gute Chancen als Haushaltsgehilfin oder Dienstmädchen in Aussicht stellten und ihr anboten, die Reise zu bezahlen. Als Martha am 20. Dezember 1923 eintraf, holte ihre Tante Käthe sie ab und fuhr mit ihr durch das weihnachtlich geschmückte New York. Neun Jahre später heiratete Martha und eröffnete mit ihrem Mann eine Bäckerei in New Jersey.
Über diesen Lebensweg, der zwar nicht dem eines 1867 geborenen Carl Laemmle aus Laupheim in Oberschwaben entspricht - auch er wanderte mit 17 Jahren aus und gründete 1913 in Los Angeles die Universal City Studios und damit Hollywood -, kann man als Inhaberin der persönlichen Eintrittskarte "Martha Hüner" nur erleichtert sein. Denn natürlich erging es nicht allen so wie Carl Laemmle oder der jungen Frau. Ihre Hinterlassenschaften werden in einem der beeindruckendsten Säle des Hauses, der "Galerie der sieben Millionen", zusammengetragen, laufend angereichert durch Angehörige von Auswanderern, die dem Museum den Nachlass ihrer Eltern, Onkel und Tanten stiften.
In Tausenden mit Namen versehenen Schubladen verbergen sich Briefe, Fotos, Dokumente und Erinnerungsstücke, die auch darüber Auskunft geben, ob die Menschen Europa freiwillig verließen und ob sie später das Heimweh packte.
Sogar Martha Hüner, die 1987 starb, dachte trotz ihres glücklichen Schicksals gelegentlich an Bremerhaven, das für sie zugleich Heimat und Abschiedsort war, zurück. Aus einem Stück Leinen, das ihr die Mutter schickte, nähte sich das Geestemünder Dienstmädchen eine "Heimwehdecke", gestickt und geklöppelt, und servierte darauf in New York Apfelkuchen nach deutschem Rezept.
All die anderen, die damals aus Schwaben, Bayern, Mecklenburg oder von weit her angereist waren und in Bremerhaven an Bord nach Übersee gingen, trugen auch ein Stück Heimat mit sich: Familienporträts, kleine Andenken oder im Herzen die Bilder ihrer Kirche, in der sie getauft worden waren oder geheiratet hatten. So hielt man Verbindung über Jahre oder Generationen und linderte Heimweh.
Für die "emotionale Vermittlung von Geschichte über Inszenierungen, die dem Theater entlehnt sind, und die wissenschaftliche Aufbereitung des Themas Migration" erhielt das vom Architekten Andreas Heller und der Migrationsforscherin Dr. Simone Eick konzipierte Auswanderermuseum den bedeutendsten Preis der europäischen Museumslandschaft, den European Museum of the Year Award 2007.
Hinter der faszinierenden Erlebniswelt des Museums versteckt sich viel technisches Know-how. Eine Forschungsabteilung schafft solide Grundlagen. Dennoch erfährt der Besucher alles Wissenswerte über das Phänomen "Auswanderung" wie im Spiel: nebenbei, suchend, tastend und zuhörend. Abstrakte Zahlen und Fakten, Diagramme von Migrationsbewegungen bekommen Gesichter. Geschichte formt sich aus Einzelschicksalen. Besonders die Reise nach Übersee blieb den meisten als großes Abenteuer ihres Lebens im Gedächtnis. Am 25. September 1854 schrieb eine junge Frau an ihre Mutter und ihren Bruder aus Theresa/Wisconsin: "(...) als wir am 3. Mai Abends 7 Uhr [in Bremerhaven] ankamen, mussten wir ins Auswanderungshaus, das ist ein schönes großes Gebäude in 4-Eck worin mehrere große Säle sind für die Auswanderer, in jedem derselben können 80-90 Personen logiren (...)".
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Eigentlich hätte der 1827 von der Hansestadt Bremen gegründete Hafen allein dem Handel dienen sollen. Aber mit Auswanderern ließ sich noch mehr Geld machen. Bremer Kaufleute, deren Segelschiffe Waren wie Tabak und Baumwolle aus der Neuen Welt nach Europa brachten, verkauften für den Hinweg Tickets für Auswanderungswillige, um die Schiffe auszulasten. Die sogenannte Bremer Verordnung von 1832 bescherte der Stadt einen bedeutenden Startvorteil gegenüber Rotterdam, Le Havre oder Hamburg. Auf den Schiffen, die unter Bremer Flagge segelten, mussten Mindeststandards eingehalten werden. Die Schiffe galten als sicher, die Sterblichkeitsrate mit drei Prozent während der Überfahrt als sehr gering. Außerdem wurde 1848 das - historische - Auswandererhaus eröffnet, in dem bis zu 2.000 Menschen zu günstigen Preisen und unter guten hygienischen Bedingungen übernachten konnten. Bremerhaven wurde schnell zum beliebtesten deutschen Hafen für Auswanderer. Als wenige Jahre später, 1857, der Norddeutsche Lloyd an Ort und Stelle gegründet wurde, gab es die erste regelmäßige Dampfschiff-Verbindung zwischen Deutschland und den USA.
Heute fasziniert das Thema Auswanderung wieder ganz besonders. Beinahe täglich zeigen private Fernsehsender die Schicksale von Menschen, die sich fern der Heimat niederlassen, neu beginnen, Fuß fassen oder entmutigt zurückkehren. Dies alles nicht von ungefähr: Der Boom der Sendungen hat einen realen Hintergrund. Denn es gibt - auch dies lernt man ganz nebenbei im Museum - wiederkehrende Muster von Auswanderungswellen. Zu Beginn von Wirtschaftskrisen kommt es selten zu Massenauswanderungen. Eine gewisse Zeit lang hoffen die Menschen noch auf eine Verbesserung ihrer Lage. Erst nach fünf wirtschaftlich schlechten Jahren beginnen Enttäuschte wegzugehen. Das war 1881 und 1882 so und wiederholte sich nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes im Jahr 2000. 2005 wanderten über 150.000 Deutsche offiziell aus, die höchste Zahl von Emigranten seit 122 Jahren!
Doch noch einmal zurück zur Geschichte: Am 17. Mai 1974 legte die "Britannis" mit mehr als 350 Auswanderern an Bord von der Columbuskaje in Richtung Australien ab. Es war das letzte Auswandererschiff, das Bremerhaven verließ. 140 Jahre lang hieß Bremerhaven auch die "Stadt des Abschieds". Ihre Entwicklung aber ist nicht stehengeblieben. Derzeit wird an der Stelle der Columbuskaje, wo einst die Dampfer nach Übersee ablegten, eine neue "Kaiserschleuse" für Autotransport-Schiffe errichtet. Am Rande dieser größten Schleusenbaustelle Europas - mitten im lärmenden Wandel - steht das Auswandererdenkmal. Es wurde 1985 den Mutigen gewidmet, die von hier zu neuen Ufern aufbrachen.
Dr. Christiane Schillig
Deutsches Auswandererhaus
Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel. 0471/90 22 00, info@dah-bremerhaven.de
März bis Okt. täglich 10-18 Uhr Nov. bis Febr. 10-17 Uhr
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Auswandererhaus, Recherche Service, Fax 0471/9 02 20 22.
Passagierlisten der Schiffe, die aus aller Welt in US-amerikanische Häfen einliefen. Einsicht in Militärregister, Geburts-, Heirats- und Todeslisten sowie US-amerikanische Telefonbücher, Listen der Volkszählungen seit 1790 finden Sie hier:
Otto Bartning gehört zu den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Wegweisend sind seine Raumschöpfungen im Bereich des protestantischen Kirchenbaus.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
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