Öffentliche Bauten Kurioses Oktober 2008 W
Nichts ist wohl spannender für Kinder, als in der Spielkiste der Freunde zu stöbern. Was es dort alles zu entdecken gibt: eine Holzente mit Lederfüßen, einen getrockneten Ast, ein Smarties-Fernrohr, weiter unten Wäscheklammern, Kastanien vom vergangenen Herbst und auf dem Boden ein Katzenkalender aus der Apotheke.
Ähnlichen Schatzkisten standen Wissenschaftler gegenüber, als sie 1992 die damals fast 300 Jahre alte Naturalienkammer in den verfallenen Räumen der Franckeschen Stiftungen in Halle sichteten. Eigentlich galten die Objekte der einst berühmten Sammlung bis auf wenige ethnographische Stücke als verloren. Nun fanden sich zur großen Überraschung in den von Taubendreck verschmutzten Schränken Kostbarkeiten: Waschgold aus der Donau, Silbererze aus Indien und Sachsen, Muscheln, Taranteln, ein russisches Panzerhemd, Kleider aus der Türkei, griechische und ägyptische Münzen, Kupferstiche, Flüssigpräparate, das Modell einer Pulvermühle, ein nagelbesetzter Büßerpantoffel und ein drahtgeflochtenes Weltensystem.
Die Wissenschaftler hatten einen Schatz entdeckt, dessen Bergung sich allerdings als äußerst schwierig herausstellen sollte, denn erst einmal konnten nur wenige Objekte zweifelsfrei bestimmt werden. Der damalige Archivar und jetzige Direktor der Franckeschen Stiftungen Dr. Thomas Müller-Bahlke war sich oft nicht einmal sicher, ob es sich um Gegenstände aus der Natur oder um Artefakte handelte. Also wurden die Funde fotografiert und dokumentiert. Man lud Textil-, Stein- und Papierrestauratoren ein, die die verklebten, wurmstichigen oder verstaubten Objekte begutachteten. Die Mühe lohnte. Denn am Ende des langwierigen Zählens und Ordnens stand die Wiederherstellung einer europaweit einmaligen, vollständig erhaltenen barocken Wunderkammer. Die Wissenschaftler hatten Glück: Von den 4696 Stücken, die Gottfried August Gründler 1741 in einem Gesamtkatalog erfasst hatte, waren fast alle noch vorhanden. Die 16 Schränke, die der Kupferstecher und Kunstmaler Gründler eigens für die Sammlung geschreinert und bemalt hatte, zeigten sich aber leider in einem traurigen Zustand. Genauso der ehemalige Schlafsaal des Waisenhauses auf dem Dachboden, der als Ausstellungsraum diente. Weil aber die seltene Chance bestand, Sammlung, Mobiliar, Schauraum und sogar das museumstheoretische Konzept des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren, zögerten Müller-Bahlke und seine Mitarbeiter nicht, die Restaurierung in Angriff zu nehmen.
Es sollte eine Entdeckungsreise zurück in die Zeit des Gründers August Hermann Francke (1663-1727) werden. Die Stiftungen unterhielten damals mehrere Schulen für Arme und Waisenkinder sowie eine Missions- und Bibelanstalt. Der Pietist Francke und später sein Sohn, der stärker als der Vater der Kunst zugeneigt war, bemühten sich, eine Naturalienkammer aufzubauen. Solche privaten Kabinette waren seit der Renaissance in Mode. Gesammelt wurde, was wertvoll war, merkwürdig erschien oder Seltenheitswert besaß. Dies aber keineswegs wahllos. Neu bei Francke war, dass die Modelle, Tierkörper und Muscheln den Schülern als Schaustücke im Unterricht vorgeführt wurden. Anhand dieser Realien sollten sie die Schöpfung hautnah kennen- und verstehen lernen.
Den Grundstein für das Naturalienkabinett legte Francke im 17. Jahrhundert mit einem Brief an seinen Landesherrn, den Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg: "Wann nun in Ewr. Churfl. Durchl. naturalien- und raritaeten-Kammer ohne Zweiffel viele naturalia und rariora in duplo und überflüßig zu finden sind, die etwa ohne Schaden und merckl. Abgang von dero raritaeten- Kammer gemisset werden könten, [...] Ew. Churfl. Durchl. möchten gnädigst geruhen mit solchem Überfluß hiesige zur Erziehung der Jugend gemachte Anstalten gnädigst zu beehren."
Dem Schreiben des Theologen war wie Vielem in seinem Leben nachhaltiger Erfolg beschert. Schon bald konnte Francke den Besuchern des Waisenhauses eine kleine Kollektion zeigen und viele ermuntern, weitere Objekte zu stiften. Die Gaben kamen nicht mehr nur aus Deutschland, sondern von Förderern, Gönnern und ehemaligen Schülern aus aller Welt. Als besonders eifrige Sammler seltener Tiere, Pflanzen und Kuriosiäten erwiesen sich die Missionare der Dänisch-Halleschen Mission im südindischen Traquebar. Diese erste protestantische Mission wurde über 150 Jahre von Halle aus betreut.
1713 äußerte Francke beim Besuch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. triumphierend: "Diese Kammer bringt mir mehr ein, wie alles andere; denn da kommen manche Leute umb d. Naturalien-Cammer, u. besehen denn das gantze Werck, u. laßen denn was fürs Haus zurück." Was bei vielen Bürgern und Klerikern reine Sammelleidenschaft war, diente dem nüchtern denkenden Protestanten als Werbeinstrument für seine wohltätigen Einrichtungen.
Vor der Jahrtausendwende war die Restaurierung der 16 eigens auf die
Sammlung abgestimmten Schränke mit ihren malereiverzierten
Giebelbekrönungen gelungen. Weil Gründler ungewöhnlich qualitätvolle
Farben aus der hauseigenen Waisenhaus-Apotheke verwendet hatte, musste
man nur die Firnisschichten entfernen, damit die exotischen Motive und
Tiere wieder kräftig leuchteten. Im renovierten Dachgeschoss des
Waisenhauses kann der Besucher jenen Mikrokosmos bestaunen, den Gründler
1741 aus der zuvor ungeordneten Sammlung von Naturalien und Artefakten
schuf.
Inzwischen hat man sich der Wunderkammer des 18. Jahrhunderts noch mehr genähert: Neue Beuleuchtung simuliert das Tageslicht, in dem die Objekte einst ganz deutlich zu erkennen waren.
Längst nicht abgeschlossen ist jedoch die Erforschung der einzelnen Objekte. Wissenschaftler und Fachkundige aller Richtungen werden in den kommenden Jahren gedanklich auf Weltreise gehen müssen, um in die entfernten Winkel der Erde vorzudringen, in denen Hallenser Pietisten missioniert, gelehrt und Aufsehenerregendes zusammengetragen haben. Sie alle wollen einer enzyklopädischen Sammlung auf die Spur kommen, einem Sammelsurium im positiven Sinne, das die Phantasie beflügelt und dem Geist Raum gibt.
Der Besuch einer barocken Wunderkammer verlangt vom heutigen Betrachter allerdings ein Umdenken. Denn es geht hier nicht um Einzelstücke, sondern um das Beziehungsgeflecht zwischen Tieren und Pflanzen, Mensch und Kunst. Lassen wir uns also auf die Sichtweise der Sammler ein, die vor 200 Jahren feuerfeste Perücken, Ölgemälde, seltene Steine und doppelte Kokosnüsse zu einer Einheit verschmolzen, alles im Glauben an eine universale Bildung. Vielleicht sehen wir dann in einer solchen Gesamtschau wie in den bunt gemischten Alltagsfunden unserer Kinder noch viel eher den Spiegel der Welt als in den häufig so sorgsam sortierten Spezialausstellungen der heutigen Zeit.
Dr. Christiane Schillig
Wunderkammer im Historischen Waisenhaus
Di-So 10 bis 17 Uhr. Eine Audioführung ist am Infotresen zu entleihen. Führungen finden jeden ersten Do im Monat (15 Uhr) statt sowie nach Vereinbarung. Tel. 0345/2 12 74 50
Museumspädagogisches Programm für Kinder
Kinderkreativzentrum Krokoseum im Historischen Waisenhaus Tel. 0345/2 12 74 78
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
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