Herrscher, Künstler, Architekten Februar 2012 M

200 Jahre Märchen der Brüder Grimm

Die Guten ins Töpfchen

Wenn im Winter dicke Schneeflocken fallen, hat Frau Holle ihre Kissen aufgeschüttelt. Ein Dornröschenschloss ist ein Garant für Romantik, die Liste der Rapunzeltürme weit länger als des schönen Kindes Haar. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute: in Büchern, Filmen und in der Werbung, als nostalgische Glanzbilder oder computergeneriert. Aschenputtel, Rotkäppchen und der Froschkönig sind auf der ganzen Welt präsent. Die Märchenfiguren, die die Brüder Grimm so populär gemacht haben, scheinen unsterblich.

Vor 200 Jahren wurde der erste Band ihrer "Kinder- und Hausmärchen" veröffentlicht, der zweite folgte 1815. Diverse erweiterte Auflagen erschienen noch zu Lebzeiten der Brüder. In 160 Sprachen übersetzt, gehört die Märchensammlung heute neben der Lutherbibel zu den bekanntesten Büchern der deutschen Kulturgeschichte. 2005 wurden die Kasseler Handexemplare in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen.

"Heute back’ ich, morgen brau’ ich, übermorgen hol’ ich der Königin ihr Kind." (Collage mit einer Märchenfigur von Elvira Kersting aus dem Park des Dornröschenschlosses Sababurg) 
Dornröschenschloss Sababurg © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
"Heute back’ ich, morgen brau’ ich, übermorgen hol’ ich der Königin ihr Kind." (Collage mit einer Märchenfigur von Elvira Kersting aus dem Park des Dornröschenschlosses Sababurg)

Märchen kennen keinen Ort und keine Zeit. Sie sind in allen Kulturkreisen bezeugt, phantastische Erzählungen wurden in den frühesten Schriftzeugnissen überliefert. Die Urthemen kreisen um die Verwandlung in eine andere Gestalt, um den Übergang in eine andere Welt. Sie erzählen von Geburt und Tod, von Belohnung und Bestrafung, von Reife und Bewährung. Tiere und Dinge können ganz selbstverständlich sprechen, man kann hundert Jahre schlafen, und der Tod ist nicht das Ende. Die Figuren sind klar in Gut und Böse geschieden. Die grausamen Elemente, wenn Kinder mal als Pfand versprochen, mal im Wald ausgesetzt werden, gaben in jüngerer Zeit immer wieder Anlass, die Märchen in Frage zu stellen. Doch zu guter Letzt ist die Welt - zumindest in der Grimmschen Fassung - immer in Ordnung. Das große Verdienst der Brüder war es, nicht nur die vollständigste Sammlung geliefert, sondern die alten Erzählungen durch ihr Sprachverständnis literarisch aufgewertet zu haben. Sie trafen den rechten Ton, der die Tradition der Volksmärchen sicherte.

Der Rapunzelturm von Otto Ubbelohde 
Rapunzel, Otto Ubbelohde
Der Rapunzelturm von Otto Ubbelohde

Die Stoffe galten lange Zeit als urhessisch. "Hessen hat als ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes und zunächst mit dem Ackerbau beschäftigtes Land den Vorteil, daß es alte Sitten und Überlieferungen besser aufbewahren kann", schrieb Wilhelm Grimm 1819 in der Vorrede zur 2. Auflage. Auch wenn die heute bekannten Quellen anderes verraten, scheinen die Märchen tatsächlich besonders gut in die waldreiche Heimat der Grimms zu passen, geben die mittelalterlichen Burgen, die verwinkelten Städte, verträumten Dörfer und verschwiegenen Täler eine dankbare Kulisse ab.

In jungen Jahren genossen Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1759) im südhessischen Kinzigtal eine kleinstädtisch-ländliche Idylle. In Hanau geboren, verbringen die Geschwister ihre Kindheit in Steinau an der Straße, wo der Vater 1791 eine Stelle als landgräflicher Amtmann angetreten hat. Nach seinem plötzlichen Tod im Jahr 1796 ist die unbeschwerte Zeit vorbei: Die Mutter bleibt schlecht versorgt mit sechs Kindern zurück, die Familie muss fortan um ihr Auskommen kämpfen. 1798 ziehen Jacob und Wilhelm als Kostgänger nach Kassel, um dort das Lyceum Fridericianum zu besuchen. Schon als Schüler beginnen sie, Bücher zu sammeln und Texte zu exzerpieren. Wilhelm kränkelt allerdings: Herz- und Atembeschwerden werden ihn für den Rest seines Lebens begleiten.

Ubbelohdes Vorlage: Der achteckige Erker am Schloss Amönau bei Wetter ist eigentlich ein Renaissance-Lusthäuschen. 
Wetter, Schloss Amönau © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Ubbelohdes Vorlage: Der achteckige Erker am Schloss Amönau bei Wetter ist eigentlich ein Renaissance-Lusthäuschen.

Nach dem erfolgreichen Schulabschluss entscheiden sich beide Brüder für das Studium der Rechte. Jacob geht 1802 nach Marburg, Willhelm folgt ihm ein Jahr später. Zum ersten Mal sind die beiden, die "stets in einer Stube gewohnt und in einem Bett geschlafen" haben, getrennt. Von der Stadt zeigen sie sich nicht sonderlich angetan, die Umgebung erscheint ihnen dafür umso reizvoller.

Neben dem eigentlichen Studium tauchen sie noch intensiver in die Welt der Literatur ein, verfolgen die neuesten Entwicklungen. Die Marburger Studienjahre bescheren den Brüdern wegweisende Begegnungen. Da ist zunächst Friedrich Carl von Savigny: Der junge, vielseitig gebildete Jura-Professor, dem Inhalt und Stil gleichermaßen wichtig sind, eröffnet ihnen einen neue Welt. Er fördert, vor allem bei Jacob, das Interesse an mittelalterlicher Poesie. Savigny ist der typische Universalgelehrte der Romantik, der seine beiden Schüler in Kreise einführt, in denen Freundschaft und Wissenschaft sich wechselseitig befruchten. Clemens Brentano und Achim von Arnim, den beiden Repräsentanten der Heidelberger Romantik, verdanken die Grimms die Anregung zum Sammeln der Volksmärchen.


Die Vertreter der Aufklärung hatten Märchen als Zeugnisse überkommenen Aberglaubens geschmäht, doch mit der Romantik änderte sich die Sichtweise. Angeregt von Johann Gottfried Herder, der die Volkspoesie wieder salonfähig gemacht hatte, entstanden gegen Ende des 18. Jahrhunderts diverse Sammlungen von Volksmärchen. Als Brentano und Arnim alte deutsche Lieder für "Des Knaben Wunderhorn" zusammentragen, können sie die Grimm-Brüder als eifrige Helfer gewinnen. Aus dem Projekt für die Freunde sollte sich bald ein eigenes herauskristallisieren. "In den Volksmärchen liegt lauter urdeutscher Mythos", begeisterte sich Wilhelm Grimm.

Einladung zum Klettern: Rapunzels Gegenwart wird auf Burg Trendelburg heraufbeschworen. 
Burg Trendelburg © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Einladung zum Klettern: Rapunzels Gegenwart wird auf Burg Trendelburg heraufbeschworen.

In Kassel, wohin auch die übrige Familie übersiedelt, setzen die Brüder ihre Arbeits- und Forschungsgemeinschaft fort. Jacob hat die Marburger Universität vor dem Abschluss verlassen und 1806 eine Stelle als Sekretär beim hessischen Kriegskollegium angetreten. Wilhelm hingegen macht sein Examen. Kurz darauf ziehen napoleonische Truppen in Kassel ein, was Jacob den Arbeitsplatz kostet. Wilhelm bleibt zunächst ohne Beruf. Mit ersten literaturgeschichtlichen Publikationen machen die Brüder Fachkreise auf sich aufmerksam. Im neuerrichteten Königreich Westphalen wird Jacob 1808 schließlich Privatbibliothekar bei Jérôme Bonaparte. Er arbeitet auf Schloss Wilhelmshöhe, das jetzt Napoleonhöhe heißt. Den jüngsten Bruder Ludwig Emil, den es zur Malerei drängt, vermitteln die beiden in den Kreis der Heidelberger Romantiker.

Derweil sichtet Wilhelm Bibliotheken, man sammelt weiter Mythen, Sagen und Volkslieder. Ein weiteres Mal bittet Clemens Brentano die Brüder um Mithilfe: Diesmal sollen sie ihm Kindermärchen zutragen, was sie bereitwillig tun. Doch Brentano verfolgt das Projekt nicht weiter. Glücklicherweise hatten sich die Grimms eine Abschrift bewahrt, denn sie erhielten das Konvolut nie zurück. Achim von Arnim drängt die beiden schließlich 1812 zur Veröffentlichung: "Es ist alles schon so reinlich und sauber geschrieben." Er vermittelt sie an seinen Berliner Verleger, und so erscheint die Erstausgabe noch im selben Jahr mit der Widmung "An die Frau Elisabeth von Arnim für den kleinen Johannes Freimund", den erstgeborenen Sohn des Dichterpaares.


Lange hielt sich die von den Autoren durchaus genährte Vorstellung, sie hätten ihre Märchen in den Stuben der einfachen Leute gesammelt, alten Weibern beim Spinnen oder Bauern auf dem Feld gelauscht. Inzwischen weiß man, dass die wichtigsten Übermittler aus einem bürgerlichen, gebildeten Umfeld stammten, sie vielfach hugenottischer Herkunft und der französischen Sprache mächtig waren.

Aus Hessen waren dies etwa die Pfarrerstochter Friederike Mannel, die schon Brentano bei seiner "Wunderhorn"-Sammlung unterstützt hatte, sowie die Schwestern Hassenpflug. Auch die befreundete Nachbarsfamilie des Apothekers Wild - Wilhelm heiratete später die Tochter Dorothea, genannt Dortchen - steuerte manche Geschichte bei. Die Familien Haxthausen und Droste-Hülshoff lieferten den Brüdern westfälische Märchen.

Bewährung für die Goldmarie: "ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif." Ihr Einsatz wird von Frau Holle reich belohnt. 
Mellnau © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Bewährung für die Goldmarie: "ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif." Ihr Einsatz wird von Frau Holle reich belohnt.

Zur bekanntesten Beiträgerin aber wurde Dorothea Viehmann. Mit der Vorrede zum zweiten Band der "Kinder- und Hausmärchen" von 1815 hat Wilhelm ihr ein Denkmal gesetzt: "Einer jener guten Zufälle aber war die Bekanntschaft mit einer Bäuerin aus dem nah bei Cassel gelegenen Dorfe Zwehrn, durch welche wir einen ansehnlichen Theil der hier mitgetheilten, darum ächt hessischen, Märchen, so wie mancherlei Nachträge zum ersten Band erhalten haben." In Wirklichkeit war die "Viehmännin" keine Bäuerin, sondern die Frau des Schneiders, die zuweilen Gemüse aus dem eigenen Garten auf dem Markt feilbot. Sie stammte ebenfalls aus einer Hugenottenfamilie und war französisch erzogen worden. Die Gastwirtstochter hatte schon als Kind die Geschichten der Fuhrleute und Soldaten gehört und in ihrem Gedächtnis bewahrt. Dorothea Viehmann ist die einzige Quelle, die namentlich genannt wird. Ansonsten beschränkten sich die Brüder auf Herkunftsangaben wie "aus Hessen" oder "aus den Maingegenden", um den unverfälschten Volkscharakter zu betonen.

Auf dem Christenberg bei Münchhausen fand der Illustrator Ubbelohde gleich mehrere Motive. 
Münchhausen © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Auf dem Christenberg bei Münchhausen fand der Illustrator Ubbelohde gleich mehrere Motive.

"Ächt hessisch" war der Fundus keineswegs. Jacob und Wilhelm Grimm haben nicht nur mündliche, sondern auch schriftliche Quellen erschlossen und im Laufe ihres Lebens die gesamte abendländische Literatur durchforstet. Vor allem die italienischen und französischen Märchensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts waren wichtige Vorläufer. Wesentliche Anregungen hatte Charles Perrault mit seinen 1697 erstmals in Paris erschienenen Erzählungen geliefert: Darin waren bekannte Stoffe wie "Rotkäppchen", "Aschenputtel", "Dornröschen" oder "Der gestiefelte Kater" für ein höfisches Publikum aufbereitet.

Die Brüder Grimm haben in ihre Geschichten ganz gezielt volkstümliche Redensarten eingebaut. Sie waren um einen typischen Märchenduktus bemüht, den sie aber selbst kunstvoll hinzufügten. So wurden die Grimmschen Märchen gerade durch die poetische Bearbeitung zu dem, was sie heute verkörpern und was sie über zwei Jahrhunderte so erfolgreich machte: zu Volksmärchen.

Das Grab, an dem Aschenputtel die Mutter beweint, verlegte Ubbelohde auf den Friedhof um die Martinskirche. 
Aschenputtel, Otto Ubbelohde
Das Grab, an dem Aschenputtel die Mutter beweint, verlegte Ubbelohde auf den Friedhof um die Martinskirche.

Die erste Auflage umfasste 900 Exemplare. Die Märchen waren einerseits als Lektüre für Kinder gedacht, andererseits aber mit Anmerkungen versehen. Während für Jacob der wissenschaftliche Anspruch im Vordergrund stand, beugte sich Wilhelm vor allem bei den Neuauflagen der Forderung des Publikums nach einem Kinderbuch. So veränderte er etwa Stellen, die als anstößig empfunden wurden oder zu brutal erschienen. Während Rotkäppchen bei Perrault schlicht gefressen wird, darf es bei den Grimms fröhlich aus dem Wolfsbauch herausspringen.

Über 200 Texte haben die Brüder zusammengetragen, haben die Szenen immer anschaulicher ausgeschmückt, die Handlung durch ihre Sprache lebendiger und letztlich wohl typisch deutsch erscheinen lassen. Der Erfolg stellte sich zunächst nur schleppend ein. Brentano fand die Erzählungen "langweilig" - für ihn war zu viel Volk und zu wenig Kunst daraus zu lesen. Wirklich populär wurden die Kinder- und Hausmärchen wohl erst durch die Illustrationen. 1825 erschien eine "Kleine Ausgabe" mit 50 ausgewählten Märchen, die mit Bildern von Ludwig Emil Grimm versehen war. Dem Malerbruder folgten bis heute unzählige Illustratoren unterschiedlichster Stilrichtungen, die den Wäldern, Burgen und Schlössern, den bösen Stiefmüttern und den schönen Stieftöchtern, den Feen und Hexen eine konkrete Gestalt verliehen haben.

Das benachbarte alte Küsterhaus stand Pate für das Hexenhaus aus Hänsel und Gretel. 
Hänsel und Gretel, Otto Ubbelohde
Das benachbarte alte Küsterhaus stand Pate für das Hexenhaus aus Hänsel und Gretel.

Unter ihnen tat sich Otto Ubbelohde (1867-1922) als derjenige hervor, der sie auch bildlich in Hessen lokalisierte und damit der Vorstellung neue Nahrung gab, die Heimat der Grimms, die auch die seine war, müsse das wahre Märchenland sein. Der aus Marburg stammende Maler und Grafiker wählte als Schauplätze für seine 447 Federzeichnungen reale Landschaften und Orte. Er ließ Frau Holles fleißige Magd das Lahntal und den Rimberg beschneien, ließ Schneeweißchen und Rosenrot in Schwälmer Tracht auf dem Bären reiten. Es war ein äußerst erfolgreiches Rezept, das seine 1907-09 erstmals veröffentlichten, dem Jugendstil verpflichteten Illustrationen weltweit bekannt machte. Bis heute werden die mit den Ubbelohdeschen Zeichnungen versehenen Ausgaben der "Kinder- und Hausmärchen" in hohen Auflagen verbreitet.

Das Bedürfnis, den alten Geschichten einen Ort und eine Zeit zu geben, ist ungebrochen. Seit 1975 die Deutsche Märchenstraße etabliert wurde, die von Hanau nach Bremerhaven führt, spüren Touristen aus aller Welt den Figuren nach, die sie seit Kindertagen kennen - allen voran Japaner, die zu den eifrigsten Konsumenten der Grimmschen Märchen gehören.

Bei Festen, Märkten und Stadtführungen bieten Dornröschen, Aschenputtel, Schneewittchen und Frau Holle dann kamerataugliches Lokalkolorit. Auf der Trendelburg lässt Rapunzel im Sommerhalbjahr jeden Sonntag pünktlich um 15 Uhr ihr Haar herab. Danach steht sie, gemeinsam mit ihrem Prinzen, für Autogramme bereit. Die Eventkultur im Namen der Brüder Grimm blüht.

Dass Rotkäppchen schon viel früher in den französischen Wäldern zuhause war - wen stört das in der Schwalm, wo die Mädchen noch heute zu Festtagen stolz ihre Tracht mit der markanten roten Betzel auf dem Kopf tragen. Längst heißt die Gegend offiziell Rotkäppchenland - wissenschaftliche Märchenforschung kontra Tourismusstrategie. Schon die Brüder Grimm hatten an der Schwalm, einer reizvollen Kulturlandschaft mit traditionsbewussten Menschen, ihre Freude.

Von der Sagengestalt zur Märchenfigur: Am Frau-Holle-Teich auf dem Hohen Meißner überlagern sich die Erzählungen. Der Eingang zum Reich der Frau Holle hat eine wahrhaft mystische Ausstrahlung. 
Hoher-Meissner © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Von der Sagengestalt zur Märchenfigur: Am Frau-Holle-Teich auf dem Hohen Meißner überlagern sich die Erzählungen. Der Eingang zum Reich der Frau Holle hat eine wahrhaft mystische Ausstrahlung.

Wirklich sagenumwobene Orte finden sich an der Märchenstraße nur wenige. Eine Ausnahme ist der Frau-Holle-Teich auf dem Hohen Meißner. Sein Name ist allerdings nicht von der schneebringenden alten Frau abgeleitet, die die Brüder Grimm als Märchengestalt berühmt gemacht haben. Der geheimnisvolle Ort galt als Tor zu Unterwelt, um ihn ranken sich uralte germanische Fruchtbarkeitsmythen. Dem Volksglauben nach kommen die Kinder aus dem Teich, und die Seelen der Verstorbenen kehren dorthin zurück. In diesem Zusammenhang steht auch der überlieferte Ritus, junge Frauen mit Kinderwunsch hätten im Teich gebadet oder der Muttergottheit hier Opfer dargebracht. Die Brüder Grimm kannten das magische Gewässer und haben Frau Holle in ihre 1816-18 veröffentlichte Sammlung "Deutsche Sagen" aufgenommen.

Die meisten anderen sogenannten Märchenorte haben weder etwas mit überlieferten Sagen noch mit den Grimmschen Stoffen zu tun. Dennoch: Malerische Flecken, die in märchenhafte Stimmung versetzen können, sind allemal dabei. Und dass die hessischen und niedersächsischen Dörfer und Kleinstädte mit ihren schiefen Fachwerkhäusern gerade den ausländischen Besuchern genauso urdeutsch erscheinen wie vermeintlich die Märchen, ist nachvollziehbar.

©  Marburg-Tourismus, G. Kronenberg
© Marburg-Tourismus, G. Kronenberg
„Zu Marburg muss man seine Beine rühren.“ (Jacob Grimm). Während ihrer Studienjahre entdeckten die Brüder ihre Leidenschaft für die Märchen.
Burgruine Mellnau © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Burgruine Mellnau © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Die Burgruine Mellnau diente Otto Ubbelohde als Vorlage für die Illustration des Märchens “Der Eisenhans”.
© Brüder Grimm-Gesellschaft, Kassel
© Brüder Grimm-Gesellschaft, Kassel
Die Märchenerzählerin Dorothea Viehmann (1755–1815), radiert nach einer Zeichnung von Ludwig Emil Grimm. Das Porträt zierte ab der zweiten Auflage alle Ausgaben.
©  Tourismusservice-Rotkäppchenland, Heidrun Englisch
© Tourismusservice-Rotkäppchenland, Heidrun Englisch
"Ein Käppchen von rotem Sammet“ – hier ist Rotkäppchen in Schwälmer Tracht unterwegs. Ludwig Emil Grimm hingegen soll sich bei einer frühen Illustration des Märchens an der im Niederen Fläming getragenen Tracht orientiert haben Diese kannte er aus Wiepersdorf, dem langjährigen Arbeits- und Lebensort Achims und Bettinas von Arnim.
©  Tourismusservice-Rotkäppchenland, Heidrun Englisch
© Tourismusservice-Rotkäppchenland, Heidrun Englisch
Märchenhaftes Ambiente: Das Dornröschenschloss Sababurg bei Hofgeismar. Im 16. Jahrhundert soll eine hohe Dornenhecke zum Schutz vor Wildtieren das ehemalige landgräfliche Jagdschloss umgeben haben. Im 19. Jahrhundert wildromantisch verfallen, nährte dies den Volksglauben, hier müsse Dornröschen geschlafen haben.
 
 
© Marburg-Tourismus, G. Kronenberg
„Zu Marburg muss man seine Beine rühren.“ (Jacob Grimm). Während ihrer Studienjahre entdeckten die Brüder ihre Leidenschaft für die Märchen.
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Burgruine Mellnau © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Die Burgruine Mellnau diente Otto Ubbelohde als Vorlage für die Illustration des Märchens “Der Eisenhans”.
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© Brüder Grimm-Gesellschaft, Kassel
Die Märchenerzählerin Dorothea Viehmann (1755–1815), radiert nach einer Zeichnung von Ludwig Emil Grimm. Das Porträt zierte ab der zweiten Auflage alle Ausgaben.
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© Tourismusservice-Rotkäppchenland, Heidrun Englisch
"Ein Käppchen von rotem Sammet“ – hier ist Rotkäppchen in Schwälmer Tracht unterwegs. Ludwig Emil Grimm hingegen soll sich bei einer frühen Illustration des Märchens an der im Niederen Fläming getragenen Tracht orientiert haben Diese kannte er aus Wiepersdorf, dem langjährigen Arbeits- und Lebensort Achims und Bettinas von Arnim.
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© Tourismusservice-Rotkäppchenland, Heidrun Englisch
Märchenhaftes Ambiente: Das Dornröschenschloss Sababurg bei Hofgeismar. Im 16. Jahrhundert soll eine hohe Dornenhecke zum Schutz vor Wildtieren das ehemalige landgräfliche Jagdschloss umgeben haben. Im 19. Jahrhundert wildromantisch verfallen, nährte dies den Volksglauben, hier müsse Dornröschen geschlafen haben.
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Daneben rücken authentische Lebensstationen und Museen die Grimms in den Vordergrund. Auch wenn die Brüder oft auf ihre Märchen reduziert werden, haben sie für die europäische Kulturgeschichte weit mehr geleistet. Sie waren politisch wache Geister, die Stellung bezogen. Als Professoren schlossen sie sich 1837 dem Protest der "Göttinger Sieben" an. Jacob Grimm setzte sich als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung 1848 für die Grundrechte des deutschen Volkes ein. Mit ihrer Sprach- und Literaturforschung, ihrer "Deutschen Grammatik" und ihrem "Deutschen Wörterbuch" gelten die Grimms als Mitbegründer der Germanistik.

Der Familienvater Wilhelm und der unverheiratete Jacob lebten und arbeiteten stets gemeinsam, sie verkörperten das romantische Ideal der Brüderlichkeit wie kein zweites Paar. Den Herbst ihres produktiven Lebens verbrachten sie als angesehene Gelehrte in Berlin. Dass sie im 21. Jahrhundert als Weltmarke firmieren würden, hätte ihre Vorstellung wohl überstiegen.

Die Märchen bleiben zeitlos durch ihre Entrücktheit, die die Grimms so meisterlich in Sprache und Szene gesetzt haben. Und so werden wohl noch weitere Generationen Wilhelm Grimm beipflichten: "Wo sie noch da sind, da leben sie so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch oder abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, weil man sie so empfangen hat, und freut sich daran ohne einen Grund dafür."

Bettina Vaupel

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2 Kommentare

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  • Kommentar als unangemessen melden
    ereprojekte schrieb am 04.04.2016 09:47 Uhr

    Der netteste Artikel seit langem über derartige fachübergreifende Themen, regards

    Auf diesen Kommentar antworten
  • Kommentar als unangemessen melden
    Ekkehart Schnurbusch schrieb am 04.04.2016 09:48 Uhr

    Ein sehr schöner, vor allem informativer Beitrag über die Themen "Märchen" und "Brüder Grimm". Ich drucke ihn mir aus und lege ihn zu unserem Familienbuch "Märchen der Gebrüder Grimm", das unsere Kinder und Enkelkinder, aber auch wir eifrig gebrauchen. Ich kenne Rotkäppchen auch in der von Perrault gefassten Version. Diese ist viel härter und grausamer. Ich wusstenicht, dass die Hugenotten es nach Deutschland gebracht haben und die Grimms ihnen das unvergleichlich Märchenhafte (Rotkäppchen und Großmutter leben doch weiter!) gegeben haben. Ganz herzlichen Dank an Frau Dr. Vaupel!

    Ekkehart Schnurbusch

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