Denkmalarten Wohnhäuser und Siedlungen Stile und Epochen 1600 Ausgabe Nummer Juni Jahr 2025
Sechsmal im Jahr verwandelt sich das denkmalgeschützte Haus, in dem einst der Görlitzer Scharfrichter wohnte, in eine lebendige Werkstatt. Etwa 25 Freiwillige in der Jugendbauhütte beschäftigen sich hier mit historischem Handwerk – und damit, wer man sein will im Leben.
Hierher sollte zu Besuch kommen, wer bereit ist, sich überraschen zu lassen: Nach Görlitz. Wer sich für historische Gebäude interessiert, für Handwerk und für junge Menschen findet all' das im jahrhundertealten Wohnsitz der Görlitzer Scharfrichter. Dort sind nicht nur das Büro der Jugendbauhütte Sachsen und gut ausgestattete Werkstätten untergebracht, sondern jeden zweiten Monat bis zu 25 junge Leute. Sie tauchen hier tief ein ins Denkmal und in die Möglichkeiten, die sich daraus beruflich – und persönlich – ergeben.
Clara, Line, Leonie, Jim und Karline schauen genau hin, wenn Antje Dathe-Wagler ihnen vorführt, wie das ungewohnte Werkzeug geschickt zu halten und zu bewegen ist.
Dathe-Wagler ist gelernte Steinmetzin und studierte Bildhauerin. Ihr familiär geführter Betrieb muss ein paar Tage lang auf sie verzichten, denn es ist wieder Seminarwoche. Und das Interesse der Freiwilligen an der Steinbearbeitung ist groß. Bei aufwendig gestalteten Grabmälern auf dem benachbarten Gottesacker in der Görlitzer Nikolaivorstadt hatten sie Anregungen gesucht. Diese haben sie abgezeichnet, wobei sie, und das war für die meisten ungewohnt, schon beim Skizzieren anfangen sollten, in drei Dimensionen zu denken.
Schließlich soll bis Ende der Seminartage ein fertiges Werkstück aus sächsischem Sandstein entstehen. „Zwischendurch verliere ich immer wieder den Überblick“, erzählt Clara Hoffmann, „auf welcher Ebene jetzt was sein soll.“ Sie hat sich ein komplexes Blumenornament ausgesucht, das sie, Schicht für Schicht, aus dem Stein haut.
Für Clara wie für alle anderen ist das eine Abwechslung zu dem, was sie seit einem halben Jahr ihren Alltag nennen. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) in der Denkmalpflege gehören zu den Jugendbauhütten. Von ihnen gibt es 16 im ganzen Bundesgebiet, die die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (DSD) nicht nur ins Leben gerufen hat, sondern auch mit ihren Unterstützern finanziell sicherstellt. Partnerin und Trägerin des Programms sind die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (ijgd).
Die sächsische Jugendbauhütte mit ihrem Sitz in Görlitz gibt es schon seit 2003. Seit zwei Jahren leitet sie Melina Wüstner, leidenschaftliche Denkmalretterin. Sie betreut die jungen Menschen und vermittelt sie in sogenannte Einsatzstellen, also die Orte, an denen sie während des Jahres ihren Dienst leisten. Diese sind über das ganze Bundesland verteilt: Museen und Denkmalpflegevereine, Handwerksbetriebe und Restauratoren, Denkmalbehörden, Forschungsinstitute, Architekturbüros. Hier lernen die Jugendlichen Berufsfelder in der Denkmalpflege kennen und erhalten Hilfen für ihre spätere berufliche Orientierung.
Eine dieser Einsatzstellen ist die Solidarische Wohnungsgenossenschaft in Leipzig. Dort verbringt Clara ihr FSJ und arbeitet unter Anleitung eines Tischlers die historischen Fenster auf.
Respekt für historisches Handwerk
Die Leiterinnen und Leiter der Jugendbauhütten vermitteln aber nicht nur junge Freiwillige in Einsatzstellen. Sie organisieren auch die sechsmal jährlich stattfindenden Seminarwochen und planen dafür Workshops unter Fachanleitung. „Mir ist es wichtig zu vermitteln, wie schön die Arbeit mit tollen Handwerkerinnen und Handwerkern ist“, sagt Wüstner. In dieser Woche leiten neben der Steinmetzin Antje Dathe-Wagler Tobias Behley, gelernter Schmied und studierter Gestalter, sowie der Kunstglaser und Glasmaler Camillo Schulz die Jugendlichen an.
Für die fünf Seminartage ist er extra aus Dresden gekommen – und kann nun im Scharfrichterhaus über zwei Werkstatträume im ersten Geschoss verfügen. Man stößt sich fast den Kopf an den ungewohnt niedrigen Türstürzen, wenn man eine der Werkstätten betritt, um Luise, Ella und Annabella bei ihren Glasarbeiten zuzuschauen. Und während die jungen Frauen Blei in Form bringen und Glas schneiden, bleibt Zeit für Gespräche, die über das gesprungene Glas oder den ungewollten Zwischenraum hinausgehen.
Überhaupt fällt auf, wie offen die jungen Menschen sind. Wie sie den Austausch suchen und einander – und die Reporterin – in ihre Überlegungen einbeziehen. So entsteht das, was Melina Wüstner und auch ihre Kolleginnen und Kollegen in allen anderen Jugendbauhütten so sehr fördern: eine Gemeinschaft auf Zeit – und vielleicht auch fürs Leben.
Annabella Garttan ist als Freiwillige bei der Unteren Denkmalschutzbehörde in Görlitz beschäftigt. Wider Erwarten macht ihr dort sogar die Büroarbeit Freude. Doch vor allem ist ihr bewusst geworden, wie einzigartig das baukulturelle Erbe von Görlitz ist.
Nun ist sie fast ein wenig verdorben für künftige Wohnorte, an die es sie auf ihrem weiteren Weg ziehen wird. „Mittlerweile macht es mir schlechte Laune, wenn es so hässlich ist“, sagt sie und ist voller Respekt für das, was vergangene Generationen in Görlitz geschaffen haben.
Fordern Sie gern kostenfrei den Jahresbericht 2024 an (56 Seiten, Format A4)
E-Mail: jugendbauhuetten@denkmalschutz.de
Tel. 0228 9091-160
Respekt könnte man ohnehin fast als eine Art Leitmotiv des FSJ und insbesondere der Seminarwochen sehen. Respekt für die anderen und andere Meinungen. Respekt für die Älteren, die als Anleiter Fertigkeiten und Fachwissen weitergeben. Und Respekt für das Handwerk und seine Leistungen.
Vielleicht ist der Respekt vor der Schmiede am größten, weil sich alle im Laufe der zurückliegenden Monate damit noch am wenigsten beschäftigt haben dürften. Hier, unter Anleitung von Tobias Behley, können sie nun nicht nur kunstvolle Schmuckstücke nach eigenen Entwürfen schmieden, sondern auch ihr eigenes Werkzeug etwa für die Steinbearbeitung herstellen oder zumindest schärfen.
Gemeinsam gerettet: das Scharfrichterhaus
Respekt haben die jungen Menschen auch für das Denkmal, in dessen Mauern sie zu Gast sind. Ihre Vorgänger haben in Seminaren und Arbeitseinsätzen das Scharfrichterhaus instand gesetzt.
Sein Zustand war nach langem Leerstand ruinös. Die Dachkonstruktion, Teile des charakteristischen Fachwerks und Decken waren zerstört. Fenster und Türen sowie die Gebäudetechnik waren verschlissen. Hier konnten die ersten Freiwilligen Aufmaß und Schadenskartierung am Denkmal gut erlernen. Schon früh war klar, dass so viel Originalsubstanz wie irgend möglich bewahrt und die ursprüngliche Grundrisskonzeption wiederhergestellt werden sollten. Zudem sollten konstruktive Elemente sichtbar gelassen werden – so sind nun das Jugendbauhüttenbüro in den offenen Dachstuhl und die Glas- und Holzwerkstatt in das erste Obergeschoss mit dem sichtbaren Fachwerk gezogen.
Es ist eines der ältesten Fachwerkhäuser in der Region. Bewohnt war es ab Anfang des 17. Jahrhunderts von Henkern, auch Scharfrichter genannt. War wohl bereits seit 1377 ein städtischer Scharfrichter verzeichnet, sollte dieser gut 200 Jahre später nicht mehr intra, sondern extra muros wohnen. So kam es zum Hausbau unmittelbar hinter dem Finstertor, dem nördlichen Stadttor von Görlitz. Mit diesem bildet es ein bauliches Ensemble, jedoch gehört nur das Scharfrichterhaus, zu DDR-Zeiten ein Jugendklub, mittlerweile der DSD in Erbpacht.
Aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der sächsischen Jugendbauhütte im Jahr 2023 ließ es sich Ministerpräsident Michael Kretschmer nicht nehmen, mit den Freiwilligen im Scharfrichterhaus zünftig zu feiern. Denn auch in der Politik müssen die Antworten auf große Fragen mühsam erarbeitet werden – mit Respekt vor anderen und ihren Leistungen.
Der Landesvater jedenfalls war beeindruckt und sagte seine Unterstützung zu. Der DSD sind die Jugendbauhütten ein wichtiges Anliegen, helfen sie doch, die Grundvoraussetzung ihres Auftrags zu sichern: den Respekt vor der Denkmalkultur. Auch Sie, liebe Leser, können die wertvolle Arbeit der Jugendbauhütten unterstützen.
Julia Greipl
www.jugendbauhuetten.de/sachsen
Scharfrichterhaus
Finstertorstraße 8, 02828 Görlitz
Der Sitz der Jugendbauhütte Sachsen ist der ehemalige Wohnsitz des Görlitzer Henkers – das denkmalgeschützte Scharfrichterhaus, erstmals 1377 erwähnt. Hier befinden sich heute das Büro sowie Werkstatt- und Aufenthaltsräume.
für die Arbeit der Jugendbauhütten
Ohne Handwerk keine Denkmalpflege: Für die Zukunft unserer Denkmale sind Fachkräfte wichtig – sie fehlen. Die DSD engagiert sich daher kontinuierlich für die Wertschätzung, die Qualität und den Nachwuchs im Handwerk.
Nach ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr bei der Orgelmanufaktur Klais macht Judith Macherey dort die Ausbildung zur Orgelbauerin.
2021 verwüstete eine Flut Teile von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Zwei Jahre später stellten die Jugendbauhütten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz ein Fluthilfecamp ins Ahrtal: Über 300 Freiwillige leisteten einen Beitrag für den Wiederaufbau.
Lassen Sie sich per E-Mail informieren,
wenn eine neue Ausgabe von Monumente
Online erscheint.
Auch kleinste Beträge zählen!
Antwort auf: Direkt auf das Thema antworten
© 2023 Deutsche Stiftung Denkmalschutz • Monumente Online • Schlegelstraße 1 • 53113 Bonn
Spenden | Kontakt | Impressum | Datenschutz