Denkmalarten Kleine und große Kirchen Wohnhäuser und Siedlungen Technische Denkmale Landschaften, Parks und Friedhöfe Stile und Epochen 1900 Jugendstil / Art Déco 1700 1500 Ausgabe Nummer Oktober Jahr 2024

MONUMENTE unterwegs - Folge 3

Wal in Sicht!

Borkum voraus! Mit Volldampf zum „schönsten Sandhaufen der Welt“. MONUMENTE ist wieder unterwegs auf Denkmal-Tour. In Folge 3 erkunden wir mit Dampfer, Inselbahn und Fahrrad die einstige Walfängerinsel Borkum.

Mit lautem Getute, rauchendem Schornstein und Freddy Quinn im Ohr geht es los. „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“ ist die Auslaufhymne der Prinz Heinrich. Gerade hat der alte Doppelschraubendampfer seinen Heimathafen Leer, das Tor nach Ostfriesland, verlassen. „Volle Fahrt voraus“, ruft Kapitän Holger Grafentein.


Mit einem Hebel am Maschinentelegrafen wird der Befehl an den Maschinenraum weitergegeben. Sofort beginnen die 100-PS-Dampfmaschinen zu stampfen. „Borkum ist ein Highlight“, ­erklärt mir Grafentein, denn neben regelmäßigen Emsrundfahrten macht sich das Schiff höchstens einmal pro Jahr auf die siebenstündige Reise über Emden zum „schönsten Sandhaufen der Welt“, wie die Nordsee­insel Borkum liebevoll beworben wird.

Das Dampfschiff Prinz Heinrich vor dem Leuchtfeuer nahe dem Borkumer Schutzhafen.
© Torsten Dachwitz Fotografie
Das Dampfschiff Prinz Heinrich vor dem Leuchtfeuer nahe dem Borkumer Schutzhafen.

Das 37 Meter lange und sieben Meter breite Traditionsschiff mit ­einem Tiefgang von 1,80 Metern lief 1909 im benachbarten Papenburg als Post- und Passagierdampfer vom ­Stapel. Bis 1970 fuhr es mit bis zu 390 Passagieren über die Ems zur Insel Borkum. 2003 wurde das schwimmende Denkmal von einem tatkräf­tigen Verein von Schifffahrts- und Technikenthusiasten vor der Verschrottung gerettet und bis 2018 aufwendig restauriert. „Das Schiff ist ein technisches Denkmal mit Schulungseffekt“, erklärt Bootsmann ­Arnold Folkerts. „Es ist ein fahrender Wissensdampfer“. Denn die 25 ehrenamtlichen Seebären geben ihr Wissen gern an Jüngere weiter, wie etwa an Studenten der hiesigen Seefahrtsschule. Als ältestes See­bäderschiff Deutschlands und Förderprojekt der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD) ist es die perfekte Entschleunigung auf dem Weg nach Borkum.


Mit 36 Quadratkilometern die größte der sieben Ostfriesischen ­Inseln, liegt Borkum rund zehn Kilometer vom niederländischen und 20 vom deutschen Festland entfernt inmitten des UNESCO-Weltnaturerbes Wattenmeer. Heute leben die meisten der rund 5.000 Insulaner direkt oder indirekt vom Tourismus und den jährlich 300.000 Besuchern. Doch vor 250 Jahren waren ihre Vorfahren als erfolgreiche Walfänger bekannt. Gerade dieser Teil der Inselgeschichte macht sie zu einem spannenden Reiseziel. Doch was haben Wale mit Denkmalschutz zu tun?


Landgang


Wir gehen im Schutzhafen Borkums an Land. Der aufkommende See­bädertourismus ab etwa 1830 hatte zu einem erhöhten Fährbetrieb geführt, weswegen 1888 der erste tiden­unabhängige Anleger im Süden der Insel gebaut und später erweitert wurde. Ganz in der Nähe wartet auch schon die Inselbahn, um die Passagiere an Sanddornbüschen vorbei in den siebeneinhalb Kilometer entfernten Ort zu fahren. Die heutigen Waggons der Schmalspurbahn sind den historischen der Borkumer Kleinbahn nachempfunden. Auch ein Museumszug ist in der Saison einmal pro Woche unterwegs.

Der Hauptstrand Borkums mit den mondänen Hotels auf der Promenade. Im Hintergrund der Neue Leuchtturm, der 1879 nach dem Brand des Alten Leuchtturms in wenigen Monaten errichtet wurde.
© Roland Rossner / DSD
Der Hauptstrand Borkums mit den mondänen Hotels auf der Promenade. Im Hintergrund der Neue Leuchtturm, der 1879 nach dem Brand des Alten Leuchtturms in wenigen Monaten errichtet wurde.

Auf Borkum legt man Wert auf Tradition, das wird uns schnell klar, als wir am nächsten Morgen Tjard Steemann treffen. Er hat uns eingeladen, der Walfang- und Seefahrtsgeschichte Borkums vor der Zeit von Kleinbahn, Fährbetrieb und Tourismus auf den Grund zu gehen. „Das ist unser Inselmuseum, das vom hiesigen Heimatverein betrieben wird“, begrüßt er uns, nachdem wir unter einem 15 Meter langen Pottwal­skelett Platz genommen haben. „Vereinseigentum“, sagt Steemann lachend. „Aber Spaß beiseite. Der ist 1998 in Schleswig-Holstein, bei der Halb­insel Eiderstedt an Land geraten.“ Das Tier wurde dem Museum geschenkt.


Eigentlich habe man auf der Insel von der Landwirtschaft gelebt, doch Anfang des 18. Jahrhunderts überkam die Borkumer das Walfang­fieber. „Die Insulaner waren damals ganz hervorragende Seeleute, das ist das, was den Reedereien in Amsterdam und Hamburg gefehlt hat“, erzählt Steemann. „Die hatten Fachkräftemangel.“ Im Walfang wurde damals viel Geld verdient, weswegen sich die Borkumer gern als Arbeitsmigranten verdingten.


Dabei ging es vor allem um den Speck, aus dem man das wertvolle Tranöl gewinnen konnte. Dafür jagten sie damals bevorzugt Bartenwale wie Grönlandwale oder Nordkaper. Im Gegensatz zum bezahnten Pottwal haben diese sogenannte Barten im Maul. „Das ist eine hocheffiziente Filteranlage“, erklärt Steemann, „um Kleingetier und Plankton aus dem Wasser zu filtern.“ Ein Grönlandwal kann bis zu 250 Jahre alt, 18 Meter lang und mit einer etwa 70 Zentimeter dicken Speckschicht 80 Tonnen schwer werden, „weil er immer gut isst und sich wenig bewegt“. Dadurch war er höchst profitabel und konnte sehr viel einfacher gejagt werden.


Steemann führt uns zu einem kleinen Treppenaufgang zum Obergeschoss und zeigt auf zwei gebogene Knochen: „Das sind zwei echte ­Unterkieferknochen, Walkinnladen.“ Diese konnten, so erklärt er, bis zu sechs Meter lang sein. Aus ihrem Knochenmark wurde das sogenannte Knochenöl gezapft. „Das ist ein ganz hochwertiges Öl. Es ist säurefrei und greift kein Metall an.“ Deshalb sei es besonders für Uhrmacher und Feinmechaniker interessant gewesen.

Etwa 100 Kinnladen von vielleicht 25 Grönlandwalen der Fahrten zwischen 1715 und 1782 sind noch erhalten.
© Roland Rossner / DSD
Etwa 100 Kinnladen von vielleicht 25 Grönlandwalen der Fahrten zwischen 1715 und 1782 sind noch erhalten.


Die entölten Kinnladen konnten die Walfänger auf ihrer kargen, baumlosen Insel gut gebrauchen: Sie wurden zu Toreinfassungen, Scheuerpfählen für Vieh, Zäunen und mit Initialen versehenen Grenzsteinen verbaut. Auch in anderen Orten der Nordseeanrainer sind Walknochen als Gebrauchs- oder Kunstgegenstände bekannt. So wurden etwa Wirtshausschilder aus Walschulterblättern gefertigt oder Walwirbel als Pflastersteine oder Möbel, wie beispielsweise der Lutherschemel auf der Wartburg.


Knochen als Baumaterialien? Darüber wollen wir mehr wissen. Steemann schickt uns zum Experten auf diesem Gebiet, der bereits mehrere Bücher über den historischen Walfang veröffentlicht hat. Wir treffen Gregor Ulsamer bei der Arbeit an. In kurzen Hosen und Sandalen rupft er Unkraut auf dem alten Walfängerfriedhof im Schatten des noch älteren Alten Leuchtturms. Nach einem kurzen „Moin“ erklärt er: „Ich mache gerade die Grabpflege meiner Vorfahren.“ Das hier sei seine Ururururururgroßmutter und dahinten ruhe noch ihr Vater.


Der denkmalgeschützte Friedhof liegt etwas erhöht auf einem Plateau, neben einer ansteigenden Straße. Die Sanierung der ihn umgebenden Mauer unterstützte die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (DSD) 2009. Jetzt stehe aufgrund neuer Brandschutz­be­stim­mungen ein viel größeres Projekt an, sagt Ulsamer und zeigt auf den Turm. „Auf dem Borkumer Wappen sieht man zwei Wale, zwei Bartenwale und den alten Turm mit Wellen darunter“, erklärt er. Der jetzige alte Turm wurde 1576 errichtet und ist damit nicht nur das älteste Gebäude Borkums, sondern aller Ostfriesischen Inseln.

Für die evangelisch-reformierte Glaubensgemeinschaft ein wichtiges Motiv: der Totenkopf, Symbol der Vergänglichkeit. Eine der vier Grabstelen auf dem Walfängerfriedhof, dazwischen ein Walknochen und dahinter der Alte Leuchtturm.
© Roland Rossner / DSD
Für die evangelisch-reformierte Glaubensgemeinschaft ein wichtiges Motiv: der Totenkopf, Symbol der Vergänglichkeit. Eine der vier Grabstelen auf dem Walfängerfriedhof, dazwischen ein Walknochen und dahinter der Alte Leuchtturm.

Schon zuvor stand hier ein Kirchturm, der als Tagessichtzeichen zur Navigation auf dem Meer diente. „Denn eine Kirche war ­immer auch ein Seezeichen“, sagt Ulsamer. Die dazugehörige Kirche wurde mehrfach neu gebaut, bis die letzte schließlich 1903 gänzlich abgebrochen wurde. Doch der Turm blieb. Bereits 1817 wurde er zu einem Leuchtturm umgerüstet. Das Spitzdach wurde entfernt und durch eine Glaskuppel mit Lichtanlage ­ersetzt. 1879 brannte der Turm vollständig aus, wurde danach aber noch zur Wetterbeobachtung und für das Militär genutzt.


Aus dem nahe gelegenen Toornhuus, dem Turmhaus, kommt Gottfried Sauer zu uns. Er hat die Schlüssel und führt uns gern hinauf, obwohl, wie er betont, ein Aufenthalt innerhalb des Turmes nicht mehr gestattet sei. „Der Turm steht eigentlich fest, das ist nicht das Problem“, doch eine Sanierung sei notwendig, „weil die baulichen und brandschutzrechtlichen Richtlinien der EU für den Turm nicht mehr gegeben sind, denn wir haben keinen Rettungsweg.“ 


Doch man habe endlich mit den zuständigen Behörden eine Lösung gefunden. Es sollen Brandschutzdecken eingebaut werden, „die einer Brandlast von 90 Minuten standhalten“. Außerdem ein Rettungsbalkon, von dem die Besucher im Brandfall mit einer Drehleiter geborgen werden können. Doch zuvor müssen die von der Witterung geschädigten Turmfassaden und das Dach denkmalgerecht restauriert werden. Die DSD hat hier finanzielle Unterstützung zugesagt, damit ein weiteres Zeugnis der Inselgeschichte bewahrt werden kann.

Im Alten Leuchtturm: die Borkumkenner Ulsamer und Sauer mit Autor Kroener (u.).
© Roland Rossner / DSD
Im Alten Leuchtturm: die Borkumkenner Ulsamer und Sauer mit Autor Kroener (u.).

Auf der 34 Meter hohen Aussichtsplattform des Turms zeigt Sauer nach oben zu einer Flagge im Wind. „Das ist die Borkum-Flagge. Mediis tranquillus in undis – ruhig inmitten der Wogen“, zitiert er das Inselmotto. „Der Turm ist unser Wahrzeichen. Dieses Kantige, Trutzige, das ist so ein bisschen das, was ja die insulare Bevölkerung, die ostfriesische Bevölkerung ausmacht.“ Egal, in welche Richtung man die Insel verlasse, der Turm sei lange sichtbar, sagt Sauer, der als Bootsführer der Bundesmarine mehrere Jahre zur See gefahren ist. „Damit verbindet man Borkum.“


Auf dem Walpfad


Nachdem wir uns von Sauer verabschiedet haben, begleitet uns Ulsamer weiter auf dem sogenannten Walpfad, einem touristisch gestalteten Lehrpfad mit Informationstafeln. Nur eine Straße weiter hält er an ­einem unscheinbaren, weißen Zaun. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir, dass es Knochen sind. „Das ist hier der Knochenzaun des erfolgreichsten Commandeurs“, wie die Borkumer Walfangkapitäne genannt wurden. „Der hat auf knapp 50 Fahrten fast 300 Wale erlegt und hat dann diesen Zaun zusammengestellt.“


Nachdem man die Kinnladenknochen zersägt hatte, um an das Knochenöl zu kommen, wurden sie als Sandfangzäune verwendet, um die wertvolle Erdkrume der Nutzgärten zu schützen. „Sie sind jetzt über 250 Jahre alt“, erzählt Ulsamer, „und verwittern immer weiter.“ Um diesen Vorgang zu stoppen und die Knochen zu bewahren, wurde zusam­men mit einer Restauratorin ein Konzept erarbeitet. „Wir wollten sie hier in situ lassen, aber gegen Feuchtigkeit schützen.“ Deswegen habe man eine Dachkonstruk­tion gebaut mit einer Absperrung, einer Tabuzone, um zu neugierige Hände fernzuhalten. Die zwei erhaltenen Borkumer Walknochenzäune sind in ihrer Größe einmalig und wohl die letzten ihrer Art auf den Ostfriesischen Inseln. Früher gab es solche Zäune auf allen Inseln, die mit Walfang zu tun hatten.

Modernes Zeugnis der Inselgeschichte: Brunnen am Borkumer Walpfad.
© Roland Rossner / DSD
Modernes Zeugnis der Inselgeschichte: Brunnen am Borkumer Walpfad.
Löcher in den Knochen sollten durch Luftzufuhr den Ölfluss beschleunigen.
© Roland Rossner / DSD
Löcher in den Knochen sollten durch Luftzufuhr den Ölfluss beschleunigen.
 


Sehr wahrscheinlich auch vor dem Haus des letzten Borkumer Commandeurs drei Straßen weiter, einem ehemaligen DSD-Förderprojekt. In dem Haus erinnern Fliesen aus den Niederlanden daran, dass mit dem Walfang Reichtum auf die Insel kam. Trotzdem möchte Ulsamer diese Zeit nicht als goldene Epoche für Borkum bezeichnen, weil sie auch Tod und Elend in die Familien brachte. Viele Männer blieben auf See, zumal sich die Schiffe durch die rücksichts­lose Dezimierung der Walbestände immer weiter in die Nordmeere der Arktis begeben mussten. Mit den napoleonischen Kriegen endeten 150 Jahre Borkumer Walfang. Die Insel ­verarmte und viele Seefahrer verließen ihre Heimat.


Erst mit dem aufkommenden Seebädertourismus begann die goldene Zeit Borkums. Unsere letzte Station ist die 1897 errichtete evangelisch-reformierten Kirche, ein neugotischer Backsteinbau mit Schmuckelementen des Jugendstils. Dort treffen wir Pastorin Margrit Tuente. „Die Touristen ­haben damals eine neue Kirche gefordert“, erzählt sie. Denn in der alten Inselkirche am Alten Leuchtturm seien die ­Besucher aufgrund der Enge reihenweise in Ohnmacht gefallen. Heute bietet die Kirche rund 800 Besuchern Platz.


Zwar steht hier kein Walknochen vor oder in der Kirche, doch finden sich viele maritime Details. Einerseits natürlich, weil man auf einer Insel wohne, sagt Tuente, andererseits „weil wir Reformierten außer auf die hugenottischen Glaubensflüchtlinge auch auf die geflüchteten Protestanten aus den holländisch-belgischen Religionskriegen zurückgehen.“ Das Schepken Christi, das Schiff als Rettungsboot, das man in der neuen Heimat gefunden habe, befindet sich noch heute auf dem Siegel der Glaubensgemeinschaft.

Gebaut nach der Ära des Walfangs: die evangelisch-reformierte Kirche von 1897.
© Roland Rossner / DSD
Gebaut nach der Ära des Walfangs: die evangelisch-reformierte Kirche von 1897.
In der Tradition der Seefahrt: Gewölbe als Schiffsrumpf und Steuerradleuchter.
© Roland Rossner / DSD
In der Tradition der Seefahrt: Gewölbe als Schiffsrumpf und Steuerradleuchter.
 

Doch das ist nicht das einzige Seefahrtsdetail. „Die Innendecke ist nicht nur einem Schiffsrumpf nachempfunden, sondern auch tatsächlich gebaut wie einer, also mit Spanten und Planken.“ Im Kirchenschiff schaut man also nach oben wie in den Rumpf eines Schiffs. Auch an der Fassade und an den Fenstern, die vor wenigen Jahren mit Hilfe der DSD restauriert wurden, finden sich als Dekor Meeres­wellen. So beginnt und endet unsere Reise zwar nicht im Bauch eines Wals, wie in der biblischen Geschichte von Jona, aber in dem eines Schiffs ruhig inmitten der Wogen vor Borkum.


Stephan Kroener


www.denkmalschutz.de/alter-leuchtturm-borkum

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