Denkmalarten Schlösser und Burgen Stile und Epochen 1800 1700 Barock Renaissance 1500 Ausgabe Nummer Oktober Jahr 2024 Denkmale A-Z H S
1974 erhielten junge Menschen das heruntergekommene Schloss im hessischen Hungen zum Geschenk. Langjährige und neue Bewohner öffnen die Türen zu ihrem beispielhaft erhaltenen Denkmal.
Die Wohnungsklingel funktioniert nicht. Doch die sechsjährige Liva muss etwas geahnt haben, denn sie öffnet die Tür einen Spalt breit und ist sofort wieder verschwunden. Ihre Mutter Diana Mahazosoa kommt hinzu, den MONUMENTE-Besuch hatte sie zwischen zwei Onlinekonferenzen eingeplant. Sie lädt ein in ihre Wohnung.
Kochen und Essen, Wohnen und Arbeiten, Musizieren und Schlafen gehen ineinander über. „Und das ist unsere Werkstatt. Sie zieht von Raum zu Raum, wo wir gerade renovieren“, sagt sie beim Öffnen einer Zimmertür. „Wir haben das immer schon hobbymäßig gemacht, aber daraus ist jetzt hier im Schloss sehr viel mehr geworden.“ Mahazosoa und ihr Mann André Deckert hatten eine Wohnung im Raum Frankfurt gesucht. Fast hätten sie die in Hungen im Landkreis Gießen gar nicht mehr angeschaut. Was bedauerlich gewesen wäre – für die junge Familie ebenso wie für das Schloss.
Denn hier können sie das verwirklichen, was vor 50 Jahren schon junge Menschen begeistert hat: in einem historischen Gebäude individuell zu leben und mit Gleichgesinnten ein wertvolles Baudenkmal, ein Schloss zumal, durch Bewohnen zu bewahren. Bereits 1970 hatten die letzten Eigentümer, das Haus Solms-Braunfels, der Stadt Hungen und der Kirche ihr Schloss zum Geschenk angeboten. Angesichts der drückenden Instandsetzungslast verzichteten jedoch beide. Was dann kam, hätte man nicht schöner planen können: Ein Gießener Theologieprofessor, Adolf Hampel, beobachtete von seinem historischen Wohnhaus in unmittelbarer Nachbarschaft mit Sorge den Verfall des Schlosses. Er setzte sich mit den gräflichen Eigentümern in Verbindung, sammelte 16 Enthusiasten aus seinem und dem Freundeskreis seiner Frau Renate – und nahm das geschenkte Schloss an.
Bewahren durch Bewohnen
Mit Unterstützung vom Leiter des gerade gegründeten Landesdenkmalamtes Hessen, Professor Gottfried Kiesow, konnte ein Projekt beginnen, dessen glückliche Entwicklung kaum jemand zu hoffen gewagt hatte: Es wurden 23 völlig unterschiedlich geschnittene Wohnungen geschaffen und dabei die Denkmalsubstanz bestmöglich und in Absprache mit den Behörden erhalten. Dringend mussten jedoch zunächst einmal alle einsturzgefährdeten Teile gesichert und undichte Dächer repariert werden. Gemeinsam beschloss man, den Zustand so wiederherzustellen, wie er sich zum Ende des 18. Jahrhunderts dargeboten hatte. Das betraf auch die Farbfassung des 17. und 18. Jahrhunderts, die für die Anlage so charakteristisch ist. Sie bildete die Grundlage für die Fassadenrestaurierung.
Zudem plante die Schlossgruppe – das war den jungen Leuten besonders wichtig –, Platz für soziale Projekte und kulturelle Veranstaltungen ein. Sowohl die Außenanlage als auch der Blaue Saal und der alte Pferdestall sind so für die Öffentlichkeit und bei Veranstaltungen zugänglich. Um das Programm kümmert sich der Freundeskreis Schloss Hungen, ein Verein, den die neuen Schlossbewohner bereits zwei Jahre nach Übernahme gegründet hatten. Sollte in der Stadt je Argwohn gegenüber den jungen Leuten bestanden haben, wich er nun einem bis heute andauernden, sehr guten Kontakt.
So, wie sich die Schlossretter in den ersten Jahren fühlten, geht es nun auch Familie Mahazosoa: Sie empfinden es als Glück, sich zwischen Familie und Beruf mit der sorgfältigen Instandsetzung ihrer Wohnung zu beschäftigen. Alle Wände haben sie mit Lehmputz ausgebessert. Die Fenster sollen noch entschichtet und danach denkmalgerecht mit Leinöl behandelt werden. Unter ihnen wohnen die Eheleute Sabine und Christoph Fellner von Feldegg.
Alte und neue Schlossgeschichten
Sabine Fellner von Feldegg ist Bewohnerin seit den frühen Jahren. Sie erinnert sich gut an den Garten, der heute so einladend aussieht und früher ein regelrechter Müllabladeplatz gewesen sei. Von den Renovierungsarbeiten erzählt sie: „Wir haben ein fahrbares Gerüst gebaut, und damit haben wir alles selbst gestrichen.“ Beim Herrichten ihrer Wohnung im Neuen Saalbau bewahrte sie die dekorativen Malereien auf den Deckenbalken – in den 1970er Jahren eine Besonderheit, denn das Bewusstsein dafür war nicht sehr ausgeprägt. „Die Türen haben wir bewusst so dunkel gelassen, als Antwort auf den Kamin aus dem 19. Jahrhundert.“ Für ihre jährliche Nikolausfeier mit jetzt schon der zweiten Kindergeneration ist das seit Jahrzehnten der ideale Raum.
Gemeinsam mit ihrem späteren Mann Christoph beschäftigt sich Fellner von Feldegg zudem mit der jüngeren Geschichte des Schlosses. Das Institut zur Erforschung der Judenfrage war 1943 zum Schutz vor Bombardements aus Frankfurt nach Hungen gebracht worden. Was mit der NSDAP und dem Raub an Juden begann, führte im Schloss sowie seit der Beschlagnahmung durch Amerikaner zur Rettung von wertvollen Büchern und Gegenständen aus jüdischem Besitz.
Im Wechsel mit Klaus-Dieter Wildhack bietet Sabine Fellner von Feldegg Führungen zur Baugeschichte an. „Fast hätte ich gesagt, ich kenne jeden Stein hier mit Namen“, sagt Wildhack. „Sein Geschichtsbewusstsein ausleben, das kann mein Mann hier“, ergänzt seine Frau Angelika Werner-Wildhack. Ihm sind die sorgfältig recherchierten Publikationen zu verdanken. Zudem hat er als gelernter technischer Zeichner Pläne und Zeichnungen rekonstruiert und, ganz aktuell, für die interessierte Öffentlichkeit die Ausstellung im ehemaligen Pferdestall eingerichtet.
Dort erfährt man, dass Schloss Hungen als Falkensteiner Burganlage erstmals um 1383 urkundlich erwähnt wurde. Im 15. Jahrhundert ließ die Fürstenfamilie Solms-Braunfels sie erweitern. Große bauliche Veränderungen und der Umbau zum Schloss folgten im 17. und 18. Jahrhundert. Die zuletzt in der Dreiflügelanlage lebenden Familienmitglieder führten nach dem Krieg ein Altenheim. Nach dessen Auflösung dienten Teile des Schlosses ab Mitte der 1960er Jahre als Unterkunft für über 100 türkische Gastarbeiter einer Eisengießerei im benachbarten Laubach. Auch ihre Geschichte zeigt Wildhack, denn hätten sie die verschachtelte Anlage nicht bewohnt, wäre der Verfall womöglich ungehindert fortgeschritten.
Hier, im Pferdestall, werden auch persönliche Erinnerungen wach. Angelika Werner-Wildhack berichtet aus den Anfangsjahren: „Ich gehörte ja zu den Allerersten, weil ich mit Renate Hampel befreundet war.“ Die beiden jungen Frauen interessierte vor allem der soziale Aspekt, eine neue Form des Zusammenlebens zu etablieren. Es herrschte immer noch das Ideal der ganz für sich lebenden Kleinfamilie vor. Aber die jungen Schlossgeister, wie sie wohl häufig genannt wurden, wollten anders leben.
„Meinen Mann habe ich auf dem Schlossdach beim Reparieren kennengelernt. Über einen Freund war er zum Schloss gekommen“, erzählt Werner-Wildhack. Sie gründeten eine Familie mit zwei Kindern, womit sie sich in bester Gesellschaft befanden. Mit viel Gemeinsinn organisierten sie die Rahmenbedingungen ihrer Wohnungseigentümergemeinschaft und die zuverlässige, wechselseitige Betreuung ihres Nachwuchses. Acht Kinder wurden gleichzeitig eingeschult, alle Eltern konnten berufstätig bleiben. „Das Schloss war unser Hobby und unser soziales Umfeld, eine tolle Zeit“, sagt sie. Möglicherweise rückt in der Rückschau die Anstrengung ein wenig in den Hintergrund: Jedes Jahr standen Erhaltungsarbeiten an, die der Frankfurter Architekt Otto Fresenius bis zu seinem Tod 1984 begleitete. Jede Entscheidung erfolgte gemeinschaftlich.
Auch Sven Köppe, der mit seiner Lebensgefährtin Caroline Morel seit vier Jahren im Mittelbau wohnt, interessiert sich für die Schlossgeschichte. Das ist ein Glücksfall für das Schloss – und für das Paar, denn es „war Liebe auf den ersten Blick. Wir wussten schon, das ist es, als wir nur in den Gang schauten“, erzählt Köppe von seinem ersten Eindruck. Dieser Gang war einmal ein hofseitiger Laubengang, später als Übergang zum Neuen Saalbau überbaut.
Köppe und Morel sind seit 1974 die dritten Bewohner dieser Wohnung. Nach so vielen Jahren war hier eine grundlegende Überarbeitung nötig, die ungeahnte Balken, Durchgänge und Nischen zutage förderte. Ideenreichtum war gefragt, um die individuelle Wohnung modernen Anforderungen entsprechend her- und einzurichten. Mit der Bereitschaft, Altes zu bewahren und sich auf ein unkonventionelles Wohnen einzulassen, befinden sie sich in der Tradition der ersten Bewohner nach 1974.
Glückliche Bewohner, geglücktes Experiment
Während sich jedoch die Neu-Eigentümer vor allem um die Bewahrung und Instandhaltung ihrer Wohnräume kümmern können, wollten die Eigentümer in den 1970er Jahren nicht nur Altes bewahren. Ihnen lag auch daran, neue Strukturen des Zusammenlebens zu entwickeln. Die sogenannte Wohnungseigentümergemeinschaft mit Selbstverwaltung, die sie etablierten, war ungewöhnlich, zumal in einem Denkmal wie dem Schloss.
Es war Gottfried Kiesow, der bereits damals den Wert einer solchen Wohnform erkannte: Zum 25. Jubiläum, als er schon die Deutsche Stiftung Denkmalschutz gegründet hatte, wünschte er, dass sich die „Konstruktion“ bewähren und als Vorbild dienen würde. Heute, weitere 25 Jahre später, lässt sich sagen, dass sie sich bewährt hat. Es ist gelungen, ein vom Verfall bedrohtes, historisches Gebäude durch Bewohnen zu bewahren. Professor Adolf Hampel, der im Jahr 2021 mit der Ehrenbürgerwürde der Stadt Hungen geehrt wurde und vor zwei Jahren gestorben ist, wäre zu wünschen gewesen, er hätte dieses besondere Jubiläum noch miterleben können.
Julia Greipl
www.denkmalschutz.de/schloss-hungen
Schloss Hungen
Schlossgasse 11
35410 Hungen
Das Schloss liegt innerhalb der Stadtmauern von Hungen im mittelhessischen Landkreis Gießen, von Frankfurt am Main etwa eine Autostunde entfernt.
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