Denkmalarten Kleine und große Kirchen Öffentliche Bauten Kurioses Ausgabe Nummer Februar Jahr 2023 Denkmale A-Z T
Bei Wind und Wetter harrten sie auf ihren Türmen aus und hielten Ausschau nach Feinden und Bränden, machten Musik und gaben die Zeit an. Am Ende wurden sie, die „höchsten Beamten“, eingespart. Heute tragen moderne Türmer ihre Fackel weiter und lassen ihre Signale in der Nacht hören.
Nach und nach stiegen die beiden Kuchenbleche in die Höhe. Unten stand der Bäcker, der sie kurz zuvor aus dem Ofen geholt hatte. „Wir zogen langsam und vorsichtig“, erzählte Johann Münch seinem Zuhörer. „Die Kuchen waren schon über dem Dach der Vorhalle droben, da trieb sie der Wind hinüber zum Südturm.“ Die Vorrichtung aus Seilen hatte sich der Stadttürmer selbst ausgedacht, um wie alle anderen Bayreuther zum Erntedankfest seinen Zwetschgenkuchen essen zu können. Doch in etwa 25 Metern Höhe kippten die schwankenden Bleche. Das in die Stadtgeschichte eingegangene Zwetschgenkuchen-Drama von Bayreuth nahm seinen Lauf. Während Münch und seine Frau oben jammerten, balgte sich unten lachend die Stadtjugend um die Reste des Kuchens.
Johann Münch, der Türmer der Stadtkirche Heilige
Dreifaltigkeit in der oberfränkischen Festspielstadt, erhielt für seinen Kuchen
noch Wochen nach dem Unglück Ende September 1911 schriftliche Trauerbekundungen
von nah und fern. „Aus München, Berlin, Prag, ja aus Amerika“, so berichtete
später der Heimatpfleger Professor Karl Meier-Gesees, „bezeugte man dem
‚höchsten‘ Beamten der Stadt Bayreuth das Beileid.“
Türmerstubenbesuche
Meier-Gesees war im November 1932 auf einen letzten Besuch beim alten Türmer. Einige Wochen später sollte Münch nach rund 25 Dienstjahren in den Ruhestand versetzt werden. Damit endete eine fast 500-jährige Tradition in der Stadt. Seit 2013 laden aber wieder Turmführer in die im Stile der 1930er Jahre eingerichtete Türmerstube im Nordturm der um 1370 gebauten spätgotischen Kirche.
Pfarrer Dr. Carsten Brall öffnet die schwere Holztür und führt auf den Wegen des alten Türmers die Treppe hoch durch den Nordturm zum Querbau. Von dort geht es zu einer Wendeltreppe im Südturm, vorbei an den Glocken und insgesamt 156 Stufen nach oben. Dann tritt man aus einer kleinen Tür nach draußen auf eine steinerne Brücke, die die 50 Meter hohen Türme verbindet.
„Das war hier der Arbeitsplatz der Familie Münch“, erklärt
Brall und deutet auf die Aussicht. „Da drüben das Fichtelgebirge und hier geht
es hoch in die Fränkische Schweiz.“ Im unteren Teil der Türmerstube liegt die
Schlafkammer, in der Münch, seine Frau und ihre beiden Kinder in Schichten
schliefen. Denn die Türmerei war oft ein Familienbetrieb, alle mussten helfen.
Trotzdem war das Gehalt des Türmers bescheiden. Deswegen findet sich oben ein
Arbeitsraum, in dem sich früher „Esstisch, Kachelofen, Sofa, Regale,
Kakteenständer und Werktisch“ befanden, wie Meier-Gesees beschreibt. Münch war
Schuster und Puppenmöbelbauer, Handwerke, die man gut auf engem Raum verrichten
konnte.
Eine Toilette oder gar Badezimmer sucht man vergeblich. Der erste Türmer, der 1448 in den Kirchturm einzog, durfte diesen nur alle 14 Tage für ein Bad verlassen. Die Notdurft wurde in einem Eimer gesammelt und über die Seilwinde nach unten gelassen. Aus der oberpfälzischen Stadt Cham sind Beschwerden gegen einen Türmer bekannt, der der Einfachheit halber nachts vom Turm seinen „Leibstuhl auf öffentlichen Kirchenweg“ schüttete.
„Man möchte nicht in einer frühneuzeitlichen Stadt gewohnt und geatmet haben“, sagt Brall hoch über Bayreuth, „das muss ziemlich gestunken haben.“ Doch durch die frische Luft hier oben war der Turm „hygienisch gesehen kein schlechter Ort“.
Wenn man an der Brüstung weitergeht und die Türmerstube umrundet, sieht man auf der anderen Seite die wohl bekannteste Erhebung Bayreuths, den Grünen Hügel, auf dem das Festspielhaus steht. Im alten Gästebuch, das Münch den Besuchern, die ihn auf- und vor allem den Ausblick suchten, finden sich einige weit angereiste Wagnerianer, etwa aus der Türkei und Japan.
Menschliche Feuermelder
Entstanden ist der Berufszweig der Türmer in den Städten des
Hochmittelalters. Weite Verbreitung fand er insbesondere in Mitteleuropa. Er
unterscheidet sich von den militärischen Wachposten auf mittelalterlichen
Wehranlagen vor allem dadurch, dass er in den Städten zu einem eigenständigen
Ausbildungsberuf wurde. Die Hauptpflicht der Türmer galt dabei dem Brandschutz.
Da sich die Städte aufgrund der sie umgebenden Stadtmauern kaum weiter ausbreiten konnten, die Bevölkerung aber wuchs, verdichtete sich der Wohnraum. Die Brandgefahr in mittelalterlichen Städten war enorm hoch, vor allem aufgrund der vorwiegenden Holzbauweise und der Verwendung von offenem Feuer in Werkstätten, Küchen sowie zum Heizen. Dazu kam die mangelnde Löschvorsorge. In vielen Regionen waren die Bürger verpflichtet, einen Löscheimer in der Wohnung zu haben und bei Bränden zu helfen, sobald der Ruf ertönte. Türmer waren sozusagen menschliche Feuermelder.
Sie wachten oft auf Kirchtürmen, aber auch auf anderen
erhöhten Gebäuden, wie etwa Schloss-, Rathaus- oder Stadttürmen. Der Blaue Turm
in Bad Wimpfen und der Rote Turm in Kulmbach – beide von der Deutschen Stiftung
Denkmalschutz (DSD) gefördert – sind Beispiele für solche bewohnten Wehrtürme.
Die Türmer mussten durch Glockenschlag und ein Signalhorn
auf Gefahren aufmerksam machen. Bei Feuer hängten sie tagsüber eine rote Fahne
in die Richtung, in der das Feuer brannte, nachts taten sie dasselbe mit einer
Laterne.
In vielen Stadtchroniken liest man von großen Bränden. In Bayreuth wurde 1605 und 1621 dabei zweimal die Stadtkirche zerstört. Spuren des Feuers wurden 400 Jahre später sichtbar. Denn die Hitze hatte zu Schäden am Sandstein geführt, wodurch seit 2006 eine Grundsanierung nötig wurde, bei der auch die DSD half.
Gefahren auf dem Turm
Dass die Türmer selbst von Bränden bedroht waren, zeigte sich 1918 in Bayreuth, als aus heute unbekannten Gründen die Orgel Feuer fing. Durch die verrauchten Türme musste sich die Familie Münch in Sicherheit bringen. Auch Blitzschlag war eine Gefahr. In ihrem Tagebuch berichtet Henriette Feuerbach, die Stiefmutter des bekannten Malers Anselm Feuerbach, dass 1843 ein Blitz in den Freiburger Münsterturm schlug und eine Steinrose zerschmetterte. „Der Türmer lag zwei Stunden ohnmächtig von dem furchtbaren Donnerschlag.“
Das oft als „schönster Turm der Christenheit“ beschriebene
Münster war ein unwirtlicher Ort. Eine Fotoserie zeigt den Türmer Simon
Baldinger (1825–1919) in dickem Schaffellmantel, Mütze und gefütterten
Filzstiefeln in seiner Türmerstube. Hier tat er mit weiteren Türmern über ein
halbes Jahrhundert Dienst. Zeitweise war der 116 Meter hohe Turm, der nach
seiner Fertigstellung 1330 lange Zeit zu den höchsten Bauwerken der Welt
gehörte, vom Einsturz bedroht. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz unterstützt
seit 2003 kontinuierlich die Instandhaltung der gotischen Maßwerkkonstruktion.
Im Hintergrund eines der Fotos mit Baldinger sieht man das
lange Blechsprachrohr, mit dem er und seine Kollegen bei Gefahr die Bürger der
Schwarzwaldmetropole warnten und sich mit dem Nachtwächter auf dem Münsterplatz
verständigten. Unten in den Straßen war dieser der Konterpart des Türmers.
Beide galten mit ihren Rufen als nächtliche Ruhestörer. Der Türmer war außerdem
ähnlich wie der Müller (siehe unsere Kulturgeschichte der Mühle) für die mittelalterliche
Stadtgesellschaft eine obskure Figur: Beide lebten weit weg von den Mitmenschen.
Der eine draußen beim Bach oder auf dem Hügel, der andere oben auf dem Turm.
Zudem mussten sie oft nachts arbeiten, um zu wachen oder aufkommenden Wind zu
nutzen.
Dabei verrichteten die Türmer außer der überlebensnotwendigen Brandwache noch viele weitere wichtige Arbeiten für die Gemeinde. Zu ihren Pflichten gehörten je nach Ort und Epoche: das Blasen des Horns sowie das Schlagen der Glocke als Zeit-, Warn- und Wachsignal; das Choralblasen vom Turm sowie das öffentliche Musizieren; das Richten der Kirchturmuhr nach der Sonnenuhr; das Treten des Orgelbalgs sowie viele weitere Hilfsarbeiten. Für die Erledigung seiner zahlreichen Aufgaben hatte der Türmermeister neben seiner Familie auch noch Gesellen und Lehrlinge, mit denen er sich den wenigen Wohnraum im Turm teilte.
Moderne Türmer
Unter Fachleuten ist es umstritten, ob Türmer als städtische
oder kirchliche Bedienstete im Mittelalter eigene Zünfte besaßen. Heute steht
Johannes Thier als Zunftmeister den Europäischen Nachtwächtern und Türmern vor.
„Wir listen 20 Türmerorte“, erklärt Thier, „davon sind 15 in Deutschland.“ Nur
einige wenige dieser Türmer wohnen auch an ihren Arbeitsstätten, und in ganz
Deutschland kennt Thier nur noch eine einzige Türmerfamilie. Der ehemalige
Bankkaufmann, der selbst als Nachtwächter und Touristenführer im
niedersächsischen Bad Bentheim arbeitet, erklärt, dass moderne Türmer im
Gegensatz zu Nachtwächtern kein besonderes „Dienstkleid tragen“ müssen.
Die zünftigen Türmer im schwäbischen Nördlingen tragen Tracht vor allem zu Fototerminen. Sie lassen ihr „So G’sell so“ auch in Räuberzivil vom Daniel, dem Turm der Sankt-Georgskirche, ertönen. Mit dem Ruf wurde früher das Schließen der Stadttore verkündet und kontrolliert, ob die Torwächter, die Niedertürmer, auf ihrem Posten waren. Thier betont, dass „Türmer aber nur der sein kann, der seine Tätigkeit auf einem Turm ausübt“ und regelmäßig von dort Signale oder Choräle bläst.
Der Aspekt des Musikalischen ist tief verankert in der Türmerei. In manchen Städten wurden im Mittelalter fahrende Spielleute als Türmer angeworben. Das Musizieren war dabei auch eine Gelegenheit, sich ein Zubrot zu verdienen. So entwickelte sich der Türmer zum Stadtpfeifer und Stadtmusikanten. Heute blasen auf dem Hamburger Michel noch regelmäßig zwei Türmer Choräle.
Zwei der bekanntesten musikalischen Nachkommen von Türmern finden sich aber in der Oberpfalz. Dort auf dem Blasturm in Schwandorf wurde 1812 der Komponist der Bayernhymne geboren, Max Kunz. Einige Kilometer weiter südlich in Parkstein lebte die Großmutter von Richard Strauß als Tochter und Schwester eines Türmers. Musikalisch stark ist auch die Türmerin in Münster, Martje Thalmann, die seit 2014 halbstündlich zwischen 21 Uhr und Mitternacht vom Turm der Sankt-Lamberti-Kirche tutet. Wie sein Vorbild, das Freiburger Münster, wird auch dieser 90 Meter hohe neugotische Turm von der DSD gefördert.
Durch verbesserte Feueralarmsysteme, Straßenbeleuchtung,
vermehrte Steinbauweise und die Einführung von Berufsfeuerwehren wurden die
Türmer nach und nach eingespart. In Bayreuth bekam der Türmer noch 1885 das
erste Telefon der Stadt, das Feuer-Telephon zur Brandwache, doch sollte auch
Johann Münchs Stelle bald wegfallen. Er durfte nach seiner Pensionierung noch
auf dem Turm bleiben, starb dort jedoch schon zwei Jahre später. Eine Gravur am
Südturm erinnert heute an ihn, den letzten Türmer von Bayreuth.
Stephan Kroener
Der Türmereid in Bayreuth von 1671 war eigentlich eindeutig: „Ihr sollt keine Tauben und anderes Vieh, welches Unsauberkeit verursacht und auf den Kirchturm nicht gehört, halten.“ Münch hielt einen ganzen Zoo: Außer Tauben eine fast zahme Turmkrähe, mehrere Hasen, einen Hund, einen Papagei, Schildkröten und einen Affen namens Jenny.
In Nördlingen lebt Katze Wendelstein relativ bescheiden. Den Namen erhielt der Turmtiger nach der früheren Bezeichnung des Daniel, dem Turm der Sankt-Georgskirche. Seit 2009 ist sie zur Taubenabwehr angestellt und bekommt ein städtisches Gehalt für Futter und Tierarztbesuche. Für Kinder ist sie die Attraktion auf dem Turm. Für die zwei hauptberuflichen Türmer ist sie eine angenehme Begleiterin.
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Evangelische Pfarrhäuser sind nicht nur die vier Wände protestantischer Pastorenfamilien, sondern hatten im Laufe der Geschichte eine wichtige und wechselnde kulturhistorische Bedeutung.
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