Kurioses Ausgabe Nummer Dezember Jahr 2022 Denkmale A-Z V

Volksfeste: Der Markt für gute Laune

Die Fahrt ins Paradies

Das heutige Volksfest hat in Deutschland eine lange Tradition. Drehen Sie mit uns eine Runde auf dem historischen Rummel: Wie hat sich das Wesen der Kirmes seit dem Mittelalter entwickelt? Eine Kulturgeschichte des Vergnügens.

Kennen Sie einen Ort, an dem Sie ohne Führerschein in ein Auto steigen dürfen? Einen Ort, an dem Sie freihändig durch die Lüfte kreisen und die Beine baumeln lassen? Einen Ort, an dem Sie so schnell wie der Blitz auf Schienen durch Höhen und Tiefen rasen und sich auch noch überschlagen? Einen Ort, an dem Sie Sensationen erleben, die im Alltag keinen Platz haben? Einen Ort, an dem Sie Ihre ganzen Sorgen vergessen können? 


Magische Momente


All das kann das Volksfest bieten. Schon Goethes Faust pries die Freiheit im Getümmel: „Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet Groß und Klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Fast jeder, ob Groß oder Klein, ob jung oder alt, ob arm oder reich, hat eine romantische Erinnerung an ein Erlebnis auf dem Kirmesplatz: Sei es der erste Kuss im Musikexpress, die aufregendste Fahrt in der Geisterbahn, der coolste Auftritt am Autoscooter, der kräftigste Schlag auf den Lukas, der schönste Gewinn an der Schießbude oder der leckerste Biss in den klebrigen Liebesapfel.

Seit 1818 gibt es den Cannstatter Wasen in Stuttgart. Heute ist er, neben dem Oktoberfest, eines der größten Volksfeste der Welt.
© IMAGO / Arnulf Hettrich
Seit 1818 gibt es den Cannstatter Wasen in Stuttgart. Heute ist er, neben dem Oktoberfest, eines der größten Volksfeste der Welt.

Von Dom bis Kerbe


Bis heute kommen die Menschen in den verschiedenen Regionen Deutschlands jedes Jahr auf Kirmes, Kirchweih, Kerbe, Kerwe, Rummel, Wiesn, Wasen, Dom, Dult, Jahrmarkt, Stoppelmarkt oder Schützenfest zusammen. Es sind rund 9.750 große und kleine Volksfeste mit bis zu 190 Millionen Besuchern jährlich. Richtig populär sind dabei die Sausen wie das Münchener Oktoberfest, der Hamburger Dom, die Cranger Kirmes in Herne oder der Pützchens Markt in Bonn. Die Kunsthistorikerin und Schaustellerin Margit Ramus aus Köln, die über das Kulturgut Volksfest promovierte, erzählt: „Die großen Feste boomen, die kleinen leiden. Deswegen bleibt es wichtig, die Qualität, den Wert und die Brauchtümer der deutschen Volksfestkultur in den Gemeinden lebendig zu halten.“ In Deutschland gibt es eine jahrhundertealte Tradition. 


Das älteste deutsche Volksfest ist das Lullusfest im hessischen Bad Hersfeld. Seit dem Jahr 852 wird es zu Ehren des Gründers der Stadt, Erzbischof Lull, gefeiert. Mit einem Gottesdienst auf dem Autoscooter, anschließender Festrede in der Stiftsruine und einer Lasershow beginnt die Einstimmung auf die sogenannte Lolls. Immer um 12 Uhr an einem Montag im Oktober entzünden die Hersfelder das Lullusfeuer auf dem Marktplatz. Der Pützchens Markt in Bonn hat wiederum seinen Ursprung im Jahr 1367. Die Äbtissin Adelheid von Vilich suchte während einer Dürre nach Wasser. Das Wunder des Quellenfundes ließ viele Pilger folgen, die versorgt werden mussten. Mit findigen Wirts- und Kaufleuten entstand ein mittelalterlicher Markt, der als Handelsplatz und Jahrmarkt funktionierte.

1809 in Weimar: Schlange stehen für das Vergnügen. Russische Schaukeln sind die Vorgänger des Riesenrads.
© akg-images
1809 in Weimar: Schlange stehen für das Vergnügen. Russische Schaukeln sind die Vorgänger des Riesenrads.

Das fahrende Volk


Auch Zauberer und Wahrsager, Puppenspieler und Pantomimen, Bärenführer und Komödianten, Jongleure und Seiltänzer, Bänkelsänger und Moritatenmaler traf man oft auf den Jahrmärkten, Messen, Kirchweihen und Erntedankfesten – beliebt waren sie nicht unbedingt. Erst die Reichszunftsordnung 1731 hob die öffentliche Missachtung etwas auf. Dennoch werden die religiösen Bezüge von Volksfesten deutlich. 


Selbst der Name der Kirmes beziehungsweise Kirchmesse zeugt von den sakralen Ursprüngen. Die Gottesdienste endeten oft mit einer Prozession durch die Stadt, die sich in einer Feier um das Gotteshaus auflöste. So entwi­ckel­ten sich Kirchen- und Patronatsfeste zu einer willkommenen Unterbrechung im Alltag der Bevölkerung und beeinflussten auch die regionale Identität. Die Tradition der Festfolge mit Festzug bis hin zu Festanstich verband die Menschen. Denn auch Schützenfeste reihen sich als Genre des Volksfestes in die Idee des Stiftens regionaler Identität und des Zusammengehörigkeitsgefühls ein.

Der Jahrmarktplatz gilt als die Geburtsstätte des Kinos. Diese Filmvorführung fand um 1900 auf den Chesterfield Races in England statt.
© Heritage-Images / www.picturethepast.org.uk / C H Nadin /akg-images
Der Jahrmarktplatz gilt als die Geburtsstätte des Kinos. Diese Filmvorführung fand um 1900 auf den Chesterfield Races in England statt.

Reitender Adel


Der Weltreisende Peter Mundy zeichnete schon 1620 in seinen Tagebüchern Vorläufer von Schaukeln, Karussellen und Riesenrädern auf einem Festplatz im Osmanischen Reich auf. Dabei geht der Ursprung des Pferdekarussells bis ins Mittelalter zurück. Ritter setzten sich auf ein drehendes Gestell und fingen im Vorbeifahren Ringe mit der Lanze. Im 18. Jahrhundert waren es die Adeligen, die hoch zu Ross mit einer Abfolge von Übungen, genannt Caroussel, die Hofgesellschaft unterhielten. Aus den mittelalterlichen Ritterspielen und dem Ringstechen entstand das erste Karussell mit Holzpferden. Es folgten mechanische Drehvorrichtungen, die von Pferd oder Mensch angetrieben wurden. Gerade bei höfischen Festen in der Nähe von Schlössern oder an Aussichtspunkten wurden Karusselle platziert. 


Eine solche Attraktion steht in Hanau-Wilhelmsbad. „Es ist das älteste feststehende Karussell der Welt“, so Stefan Bahn, Vorsitzender des ortsansässigen För­der­vereins. Im Jahr 1779 ließ Erbprinz Wilhelm IX. von Hessen-Kassel im Kurpark das Fahr­ge­schäft des Ar­chitekten Franz Lud­wig von Cancrin errichten. „Die Pferde und Kutschen drehten sich wie von Geisterhand. Die unterirdische Technik ist einzigartig“, sagt Bahn weiter. Denn früher wurde die Holzkonstruktion, die wie ein liegendes 16-speichiges Rad aussieht, noch von Menschen angetrieben. Ab 1910 drehte sich das Karussell mit Motor. Der Karussellbauer Fritz Bothmann staffierte 1897 die Attraktion mit vier Wagen und 16 Pferden aus – zwei kamen von Friedrich Heyn, 14 von Carl Müller. Zunehmender Verschleiß, aber auch ein Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg, brachten das Karussell zum Stehen. Erst seit 2016 dreht sich das technische Denkmal wieder. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz unterstützte bei der Restaurierung des Holzsprengwerks und der Pferde.

Nervenkitzel trifft pure Freude in den 1950er Jahren. Die erste Geisterbahn in Deutschland präsentierte Carl Böhm 1931 auf dem Hamburger Dom; Vorläufer waren Grotten- und Tunnelbahnen.
© akg-images / Horst Maack
Nervenkitzel trifft pure Freude in den 1950er Jahren. Die erste Geisterbahn in Deutschland präsentierte Carl Böhm 1931 auf dem Hamburger Dom; Vorläufer waren Grotten- und Tunnelbahnen.

Größer, schneller, weiter


Mit dem Gesetz der Gewerbefreiheit von 1810, der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 und der zweiten industriellen Revolution stieg die Reisetätigkeit der Schausteller – gleichzeitig professionalisierte sich der Karussellbau. Glücklicherweise verschwanden menschenverachtende Zurschaustellungen, wie Carl Hagenbecks Völkerschau von 1874. Akrobatische und künstlerische Darbietungen wurden weniger. Kaum bekannt ist, dass viele Schausteller Kinos betrieben. In Hallenbauten mit prachtvollen Vorhangfassaden wurden Stummfilme vorgeführt – begleitet von Piano oder Orgel. Noch heute ist der typische Klang von Jahrmarktorgeln, die oft in den Karussells verbaut waren, ein Sinnbild für die Kirmes. Neben dem Kinematographen wurden technische Errungenschaften wie die Laterna magica oder der Phonograph präsentiert. 


Durch innovative Denk- und Bauweisen entstanden neue Perspektiven für raffiniertere und transportable Karusselle. Bekannte deutsche Karussellbauer waren Friedrich Heyn, Hugo Haase und Fritz Bothmann. Letzterer fertigte als Erster seriell Einzelelemente für Schaustellergeschäfte an und ermöglichte so den Export von Gotha in die ganze Welt. Zudem zeichnete sich seine Arbeit durch Formenvielfalt und Ingenieurskunst aus: vom Rundbau-Kettenkarussell über Hallenbau-Autoscooter bis hin zu Schmuckdachkanten inspiriert von der bildenden Kunst. Heyn gründete in Neustadt an der Orla eine Karussellfabrik. Ab 1870 wird er als erster Zulieferer von Karussellde­ko­rationen und Vermarkter geschnitzter Karussellpferde bekannt.

Das Karussell als historische Ansicht von 1932 aus der großen Postkartensammlung des Förderverein-Vorsitzenden für das Karussell im Staatspark Hanau-Wilhelmsbad e.V.
© Archiv Stefan Bahn
Das Karussell als historische Ansicht von 1932 aus der großen Postkartensammlung des Förderverein-Vorsitzenden für das Karussell im Staatspark Hanau-Wilhelmsbad e.V.
Seit 2016 dreht sich das Karussell in Hanau-Wilhelmsbad in großer Besatzung wieder. Die ursprüngliche Besatzung mit zwei Pferden und zwei Kutschen wurde 1871 zerstört.
© imago / Michael Schick
Seit 2016 dreht sich das Karussell in Hanau-Wilhelmsbad in großer Besatzung wieder. Die ursprüngliche Besatzung mit zwei Pferden und zwei Kutschen wurde 1871 zerstört.
 

Die gute Laune bleibt


Auch wenn die Branche in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes für Propaganda missbraucht wurde, „versuchten die Beteiligten an der Maxime festzuhalten, dass der Rummel kein Spielplatz der Politik wird“, so Kunsthistorikerin und Schaustellerin Ramus. „Die historische Idee des Volksfestes war und ist es, Kindern, Familien und Freunden fröhliche Stunden zu ermöglichen“, so Ramus weiter. Das weiß auch Toni Schleifer. Der Schausteller ist Schatzmeister der Historischen Gesellschaft Deutscher Schausteller. Diese setzt sich seit 2003 für den Erhalt und den Schutz historischer Fahrgeschäfte ein. „Auch wenn sich die Freizeitgestaltung wandelt, bleibt der Wunsch nach Vergnügen und Zerstreuung. Für kleines Geld können das Kirmes und Fahrgeschäfte noch immer leisten“, so Schleifer. Seine „Eva’s Fahrt ins Paradies“ (s. Kasten unten) zeigt das: „Fast alle meiner Gäste fangen bei der wilden Fahrt an zu lächeln.“ Vielleicht wird es mal wieder Zeit für einen Besuch auf der Kirmes? Gründe dafür gibt es in jedem Fall genug. 


Svenja Brüggemann

Vom Salzwasseranlasser


Der Antrieb der historischen Berg- und Talfahrt „Eva’s Fahrt ins Paradies“ ist eine wirkliche Rarität. Das Fahrgeschäft von 1939 läuft mit einem originalen Salzwasseranlasser. Der Eigentümer Toni Schleifer, Schausteller in vierter Generation, bringt die Technik mit einem Steuerrad im Häuschen in Bewegung. Der wirkliche Antrieb funktioniert aber über den Motor. Dabei werden über ein Rädchen und eine


 Gewindestange Elektroden in eine Salzlauge getaucht. „Umso tiefer sie im leitenden Wasser stehen, desto schneller geht die wilde Fahrt“, schmunzelt Schleifer. Durch die Technik ist eine stufenlose Regulierung der Geschwindigkeit möglich. Sie macht die Fahrt rasant, aber nicht ruckelig. Dass die Fahrt Freude bringt, sieht man den Mitfahrenden an. Seit dem Erwerb 2003 ist der Antrieb nun am letzten Tag der Oidn Wiesn 2022, dem historischen Oktoberfest, zum ersten Mal kaputt gegangen. 

Historischer Fahr- und Musikgenuss: Die freudige Fahrt wird mit Schallplatten- und Saxofonklang unterlegt.
© picture alliance / SZ Photo
Historischer Fahr- und Musikgenuss: Die freudige Fahrt wird mit Schallplatten- und Saxofonklang unterlegt.


Toni Schleifer möchte das historische Fahrgeschäft unbedingt wieder für den Einsatz bereit machen. Denn „Eva’s Fahrt ins Paradies“ ist etwas Besonderes: Mit vier Tälern und vier Hügeln ist die Bahn die größte und letzte ihrer Art in Deutschland. Auch wenn dem Schausteller und Liebhaber historischer Fahrgeschäfte noch die Plakette am Fahrgeschäft fehlt, wurde ihm der Denkmalschutz schon offiziell zugesichert.

 

 

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