Streiflichter Interieur Ausgabe Nummer Oktober Jahr 2022 Denkmale A-Z D

KulturSpur Folge 5

Im Bodensatz lesen

Wortwörtlich treten wir Geschichte mit den Füßen. Der Untergrund, auf dem wir gehen und leben, kann einiges offenbaren – wenn man genau hinschaut. Ein Blick auf und unter Hausböden.

Lesen Sie hier Folge 4 unserer Reihe "KulturSpur – Ein Fall für den Denkmalschutz" über Forensik in der Denkmalpflege.


Das Dielenhaus in der Fleischhauerstraße 79 in Lübeck ist ein Altstadthaus wie aus dem Bilderbuch. Außen Backsteinfassade und Stufengiebel, innen selten erhaltene Details wie die Seilwinde, mit der Ware aus der Diele ins obere Speichergeschoss gezogen werden konnte. Die Diele, die dem Haus seinen Namen gab, war der zentrale Ort jedes Geschäftshauses in der Hansestadt. Besonderes Flair erhält diese im Lübecker Haus durch ihren Boden. Er ist belegt mit sogenannten Gotlandplatten. Fast schon weich wirken die verlegten quadratischen Steine, so blank poliert sind ihre Oberflächen. Ihre Größe: von etwa 45 bis 68 Zentimeter im Quadrat. Ihre Farbe: grau-grünlich, manche schimmern rötlich. Anhaltspunkte, an denen der Fachmann einiges ablesen kann.

Charakterraum: Die Diele als Herzstück eines typisch Lübecker Hauses mit den hölzernen Kontorräumen und Gotlandplatten.
© Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz
Charakterraum: Die Diele als Herzstück eines typisch Lübecker Hauses mit den hölzernen Kontorräumen und Gotlandplatten.

Manfred Finke ist ein solcher Experte – seit Jahrzehnten eingearbeitet in die Geschichte der Stadt, verdient um die Rettung Dutzender Denkmale. Und eingefleischter Altstadtbewohner: „Ich wohne selbst auf solchen Platten. In Lübeck gibt es noch einige Häuser, in denen man sie findet.“ Er erzählt, dass ihre Größe Rückschlüsse auf ihr Alter ziehen lässt. „Die größeren wurden im 18. oder frühen 19. Jahrhundert produziert, in den beiden Jahrhunderten davor eher kleiner. Je größer, je jünger.“ An den Farben und Größen kann man erkennen, dass die Steine in dieser Diele – ganz modern – zweitgenutzt wurden: ein Puzzle aus Gotlandplatten unterschiedlicher Zeiten. Die rötlichen Platten stammen von der Insel Öland.


Polierte Geschichte


Wer auf einer Gotlandplatte steht, steht auf Geschichte. Die Anfänge des Handels mit Gestein aus Gotland gehen weiter zurück als die der Geschichte der Hanse – diesem Handels- und Städteverbund, zu dessen Hochzeit fast 300 Städte zusammengeschlossen waren, mit Lübeck als ihrer Königin. Die sogenannten Gotlandfahrer waren die ersten, die nach der Gründung Lübecks 1143 begannen, in die Ostsee auszuschwärmen. Sie taten sich zu einer Schwurgemeinschaft zusammen, schlossen ein Handelsabkommen mit den Gotländern und gründeten damit die „Ur-Hanse“. In Visby auf Gotland entwickelten sie eine Stadtgemeinschaft. Die Insel lag nicht nur im Schnittpunkt der Seehandelswege in der Ostsee, sie lieferte selbst ein begehrtes Handelsgut: Kalkstein. Bodenplatten aus diesem Gestein gehörten jahrhundertelang zu einem der nachgefragtesten Produkte. Die Herstellung war aufwendig: „Skur­vandringar“, Scheuerwanderungen, nan­­­nte man das Schleifen der Platten.

© Rainer W. Leonhardt
© Rainer W. Leonhardt
 

Arbeitsintensiv: Die Gotländer legten die grob behauenen Kalksteine in einen Kreis und polierten sie mit Hilfe von Ochsen oder Pferden mehrere Tage lang. Sand und Wasser verbesserten den Schmirgeleffekt.

Zugehauene Steine wurden auf dem Boden in Form eines Rings ausgelegt. Pferde oder Ochsen zogen dann in einer hölzernen Vorrichtung befestigte Mühlsteine über die Kalksteine. Es brauchte Tage, um die Steine zu polieren. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nutzte man den Wind als Antriebskraft, Dutzende solcher Windmühlen standen auf Gotland und auch auf Öland. Der Kalk wurde zur Zeit der Hanse im 14. und 15. Jahrhundert  in viele Orte mit geringem Steinvorkommen exportiert. Sein Verbreitungsgebiet zeigt recht genau das Handelsgebiet der Hanse an. Nicht gesichert ist die These, ursprünglich sei der Stein nur als Ballast für Handelsschiffe genutzt und erst durch die steigende Nachfrage als Baumaterial professionell gehandelt worden. Fakt ist aber, dass er eines der wenigen Güter der Hanse ist, das wegen seiner Unvergänglichkeit bis heute Zeugnis von Handelswegen und politischen Beziehungen früherer Zeiten ablegt.

Das Denkmal ist der Tatort – Bauforscher sind die Ermittler und Aufklärer.

Was ist ein Depotfund?
Dinge, die von ehemaligen Bewohnern in Gebäuden, zum Beispiel in Hohlräumen unter Dielen, hinterlegt wurden, zählt man zu den sogenannten Depotfunden. Sie bilden in der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit eine eigene, äußerst spannende Quellengattung. Mit ihnen lassen sich Baudaten sowie Informationen über Stand und Status der Erbauer und Bewohner erschließen. Im strengen Sinn werden nur absichtlich aufbewahrte Gegenstände unter dem Begriff Depotfund verstanden, hinzugezählt werden aber auch Verlustobjekte, Gegenstände, ­die zum Beispiel versehentlich durch Dielenritzen rutschten – meist Alltagsgegenstände. Zusätzlich unterscheidet man Versteckfunde und Verwahrfunde an Orten, an denen die Bewohner heimlich wertvolle Dinge gehortet hatten.

Depotfund: Teil eines Gebetsbuchs in der ehemaligen Synagoge in Niederzissen (Landkreis Ahrweiler)
© Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz
Depotfund: Teil eines Gebetsbuchs in der ehemaligen Synagoge in Niederzissen (Landkreis Ahrweiler)



Oft aber ging es schlicht um Wärmedämmung und Schallisolierung, mit Hilfe von Papier zum Beispiel. Oder es wurde einfach Müll entsorgt. So oder so: Depotfunde sind wie eine Zeitkapsel mit wichtigen Informationen über Haus und Bewohner.

 



Einzigartiges unter Dielen


In Lübeck liegt der Boden offen, aber die Geschichte dahinter muss gelesen werden. In Thangelstedt in Thüringen ist es umgekehrt. Viel wusste man schon über das örtliche Herrenhaus, als es Timo Mappes, Professor der Physikgeschichte, 2019 kaufte. Der Fußboden aber wollte erst entdeckt werden. Das barocke Gebäude mit seinen feinen Proportionen hat eine lange Geschichte, die bis zu den Ottonen reicht. Vor 1918 wurde es viele Jahrzehnte lang nur als Kornspeicher genutzt, bis Baron von Groß es kaufte und herrichtete. Ab 1945 konnte der Baron nur noch aus der Ferne versuchen zu retten, was zu retten war. Er sandte 1954 einen Brief an das DDR-Denkmalamt. „Sehr geehrte Herren“, schrieb er an die Bauabteilung in der Weimarer Stalinstraße, „in Thüringen einzigartige Estriche fand ich, als ich die damalige Ruine zum Wohnhaus ausbaute, etwas verletzt.“

Die Muster der Fußböden im Herrenhaus Thangelstedt: schön, vor allem aber auch aufschlussreich für die Baugeschichte.
© Guido Siebert, Deutsche Stiftung Denkmalschutz
Die Muster der Fußböden im Herrenhaus Thangelstedt: schön, vor allem aber auch aufschlussreich für die Baugeschichte.

Ganz offensichtlich schmerzte ihn die Gefährdung der außergewöhnlichen Tonziegel-Estrich-Böden, die er sorgfältig hatte ausbessern lassen. Familien waren hier nach 1945 einquartiert worden, „die ohne Teppich im Zimmer des Herrn von Thangel vier Betten stehen haben. Ich kann das nicht ändern.“ Die Weimarer Denkmalpfleger damals können auch nicht handeln. Jedoch Timo Mappes: 60 Jahre später erfährt er über die Denkmal­akte von dem Brief und macht sich auf die Suche. Unter schnöden Dielenbrettern vollkommen verborgen entdeckt er die beschriebenen Böden. Auf insgesamt 120 Quadratmetern, in mehreren Räumen des Hauses, sind nun nach sorgfältiger Arbeit dekorative Muster aus Tonziegelrauten freigelegt worden – zum zweiten Mal gerettet.


Der Boden von 1682 ist jedoch nicht nur besonders und schön, er gibt auch Hinweise. Der Grundriss, angefertigt nach der Wiederherstellung des Bodens, macht es deutlich: Quer durch das Muster verläuft in einem Raum eine Wand, sie muss nach Verlegung des Bodens eingebaut worden sein. Dendrochronologische Untersuchungen der Balken ergeben ein Alter von 1758 – das Jahr, in dem Kammerjunker Heinrich Friedrich von Thangel das Haus übernahm, die Gauben aufsetzte und auch das barocke Portal einfügen ließ. Das Thangelstedter Haus ist für Timo Mappes wie eine Reise. Es spielt mit Überraschungen, es legt Spuren aus.

Eine detektivische Spurensuche brachte ihn ans Licht: den ebenso seltenen wie schönen Tonziegel- Estrich-Boden.
© Guido Siebert, Deutsche Stiftung Denkmalschutz
Eine detektivische Spurensuche brachte ihn ans Licht: den ebenso seltenen wie schönen Tonziegel- Estrich-Boden.

In die Seele blicken


Bodenspuren, die sehr weit führen können: Gehen wir noch einmal zurück ins Lübecker Dielenhaus – wer dort dem Boden richtig nahekommt, der kann geradezu in die Seele der Erde schauen. Denn hier begegnet er Gestalten einer noch ganz anderen Werdungsgeschichte: Stromatoporen, kleine Nesseltiere, sind in den Steinplatten als Fossilien eingeschlossen. Sie lebten einst im subtropischen Meer und zeugen von der Zeit des Silurs, als Gotland ein Gebiet tropischer Korallenriffe in der Nähe des Äquators war – vor über 400 Millionen Jahren. 


Beatrice Härig


Lesen Sie hier unsere sechste und letzte Folge der Reihe KulturSpur über jahrhundertealte Spuren der verschiedenen Baumeister des Ulmer Münsters.

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