Herrscher, Künstler, Architekten Streiflichter Handwerk Ausgabe Nummer Februar Jahr 2022 Denkmale A-Z A

Eine Kulturgeschichte der Architekturzeichnung

Bauen mit feiner Feder

Schnelle Skizzen, üppige Präsentationszeichnungen oder filigrane Details: Handgezeichnetes bannt Baukunst auf Papier. Die Architekturzeichnung ist meisterliches Handwerk, künstlerischer Ausdruck und historisches Zeugnis.

In Tusche getunkt, huscht die zarte Spitze über das Papier. Eins, zwei, drei, vier, fünf Striche gezogen mit schnellen Handbewegungen bis hin zu großzügigen Schwüngen. Auf dem Blatt entstehen Mauern, Wände, Tore, Fenster und Kuppeln. Schatten und Schraffur erzeugen Tiefe im flachen Grau. Aus der Fläche erhebt sich nach und nach die Idee eines Bauwerks: ob es der erste Entwurf für die barocke Dresdner Frauenkirche von George Bähr war oder die perspektivische Zeichnung des klassizistischen Wiesbadener Kurhauses von Friedrich von Thiersch.


Baumeister aller Architekturepochen nutzten die Handzeichnung, entwickelten Darstellungstechniken und perfektionierten Ausdrucksformen. Auch wenn heute hyperrealistische Computerdarstellungen oder virtuelle Spaziergänge durch den Bauentwurf ein gängiges Werkzeug der Architekturdarstellung und -vermittlung sind, fasziniert Handgezeichnetes weiter. Laut Klaus Jan Philipp, Professor für Architekturgeschichte, ist „die Architekturzeichnung so lebendig wie je zuvor“. Noch immer gleichbedeutend sind auch die grundlegenden Darstellungsmodi, um Architekturprojekte auszuführen: Grundriss, Ansicht und Schnitt helfen Architekten, Handwerkern, Denkmalpflegern und Bauherren Architektur zu verstehen, zu vermitteln, zu errichten oder wiederherzustellen.

1722 zeichnete George Bähr den ersten Entwurf der Dresdner Frauenkirche. Fertig gestellt wurde der Bau 1743.
© Bildarchiv Foto Marburg
1722 zeichnete George Bähr den ersten Entwurf der Dresdner Frauenkirche. Fertig gestellt wurde der Bau 1743.

Schematische Pläne


Das Zeichnen topografischer Situationen ist eine der ältesten kulturellen Fähigkeiten des Menschen. Schon die von 203 bis 211 nach Christus entstandene Forma Urbis Severiana ist ein lesbarer Marmorplan des spätantiken Roms. Als einzigartiges mittelalterliches Zeugnis aus dem frühen 9. Jahrhundert gilt der St. Galler Klosterplan. Er entstand aus fünf nach und nach angenähten Pergamentblättern. Als Urheber aufgeführt werden Reginbert, der Bibliothekar, sowie sein Schüler Walafrid Strabo, die den Plan bis 830 nach Christus auf der Klosterinsel Reichenau zeichneten. Benannt ist er nach dem Ort St. Gallen, für den er ursprünglich geschaffen wurde. Auf 112 mal 77,5 Zentimetern Fläche sind 52 Gebäude in ihrer Lage, Größe und Funktion erfasst, aber auch detaillierte Angaben zu Handwerksbetrieben und Gärten. Im Zentrum befindet sich die dreischiffige Kirche mit Kreuzgang und Klausur der Mönche. Die Zeichnung gibt Aufschluss über räumliche Organisation und Zusammenhänge des klösterlichen Lebens vor 1200 Jahren.


Mit Mitteln des 9. Jahrhunderts bauen heute Handwerker und Ehrenamtliche auf einer Mittelalterbaustelle ein Kloster auf Grundlage des historischen Plans. „Für unser Bauvorhaben müssen wir von den zweidimensionalen Darstellungen im St. Galler Klosterplan moderne Baupläne ableiten, die auch den Auflagen des  21. Jahrhunderts standhalten,“ sagt Dr. Hannes Napierala, Geschäftsführer vom „Campus Galli“ in Meßkirch. „Die moderne Umsetzung eines Gebäudes auf dem Klosterplan setzt eine detaillierte Recherche zu archäologischen Befunden, historischen Schrift- und Bildquellen, Ergebnissen der Bauforschung und lokalen Bautraditionen voraus.“ Im Rahmen des Jugendbauhütten-Projektes der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD) können junge Menschen auf Campus Galli ihren Teil zur Vollendung des karolingischen Komplexes beitragen. Auch wenn der mittelalterliche Plan nicht die konkrete Anleitung zum Bauen liefert, ist er ein weltweit einzigartiges Architekturdokument, das bis in die heutige Zeit wirkt.

Der St. Galler Klosterplan wird noch heute in der St. Galler Stiftsbibliothek aufbewahrt. Die Abbildung zeigt ein Faksimile.
© akg-images
Der St. Galler Klosterplan wird noch heute in der St. Galler Stiftsbibliothek aufbewahrt. Die Abbildung zeigt ein Faksimile.

Bauhütten und gotische Risse


Im Gegensatz zum St. Galler Klosterplan konzentrieren sich die Zeichnungen des reisenden Baumeisters Villard de Honnecourt aus der Picardie auf die Architektur. Die Skizzen, die er um 1230 in einem Buch festhielt, gehören zu den ältesten erhaltenden Bauzeichnungen der Gotik. Sein Bauhüttenbuch gilt als wichtige Quelle für den hochmittelalterlichen Baubetrieb und zeugt von den wissenschaftlichen Kenntnissen des gotischen Baumeisters. Trotz ihrer schematischen Anlage dokumentieren seine reinen Strichzeichnungen die Zustände der Bauten und zeigen teils neue Entwürfe. Sie beinhalten Grundrisse, Aufrisse, Schnitte und quasi-perspektivische Zeichnungen mehrerer französischer Kathedralen wie der Zisterzienserkirche Vaucelles oder der Kathedrale von Reims – und damit schon vieles, was eine klassische Architekturzeichnung in den folgenden Jahrhunderten auszeichnete.


Mit dem Bau großer Kirchen beginnt in der Gotik auch die Zeit der maßstabsgetreuen Werk- und Planrisse – teils ergänzt durch in Fußböden und Wände geritzte Ausführungszeichnungen im Maßstab 1:1. Die Planrisse geben die komplexen Architektursysteme auf teurem Pergament detailliert wieder. Es war üblich mit Zirkel, Lineal und Metallstift Blindrillen in die behandelte Tierhaut zu ziehen. War der Plan fertig durchkonstruiert, folgte die Tusche. Erst im Spätmittelalter zeichnete man auch auf Papier. Die Baumeister waren selbstbewusste Persönlichkeiten, die Planung und Logistik für riesige Bauwerke verantworteten und in den Bauhütten oft als Steinmetze zu Werkmeistern ausgebildet wurden. Die Pläne der gotischen Bauten wurden in den Bauhütten erstellt und aufbewahrt, da sie zu diesem Zeitpunkt noch reines Arbeits- und Lehrmaterial waren. Für die Weitergabe des technischen Architekturwissens war das ein großer Schritt. Nicht umsonst gelten die Bauhütten „seit dem Mittelalter als Innovationsbetriebe, deren Wissen und Fertigkeiten durch die hohe Mobilität der Bauleute im gesamten europäischen Raum Verbreitung fand“, schreibt die Deutsche UNESCO-Kommission, als die Bauhütten 2020 als weltweites immaterielles Kulturerbe ausgezeichnet wurden.


Die Vermittlung des expliziten und impliziten Wissens, zum Beispiel durch die Weitergabe der Fertigkeiten vom Meister zum Lehrling, hat sich über Jahrhunderte hinweg bewährt. Auch handgefertigte Architekturdokumente, ob Werkrisse oder historische Zeichnungen, liefern heute noch wichtige Informationen und helfen damalige Bauzustände zu dokumentieren. Die Kombination aus historischem Wissen und neuesten Technologien wie fotogrammetrischen Aufnahmen ermöglicht eine hochkomplexe, digitale Erfassung für den denkmalgerechten Erhalt von Sakralbauten, wie zum Beispiel dem Kölner Dom.

Viele Baumeister wirkten am aufregenden Planungsprozess des Petersdoms mit: So entwarf Michelangelo ab 1547 die Rippenkuppel.
© imago images / imagebroker
Viele Baumeister wirkten am aufregenden Planungsprozess des Petersdoms mit: So entwarf Michelangelo ab 1547 die Rippenkuppel.

Der Begriff der Architekturzeichnung


Bei chronologischer Betrachtung des Entwurfsprozesses stehen Studienblätter und Skizzen an erster Stelle. Sie zeigen die spontane Entwurfsidee. Reiseskizzen hingegen erfassen meist bereits Gebautes. Für konkrete Planungen dienen Bau- und Reinzeichnungen sowie amtliche Baupläne und Planungen zu technischen Einzelheiten. Das können Details von Möbeln und Türklinken sein ebenso wie Pläne zur Haustechnik, städtebauliche Gesamtplanungen oder Pflanzpläne von Gartenanlagen. Wettbewerbs- und Akademiezeichnungen dokumentieren das alles ausführlich. Letztere sind eine Sonderform der Wettbewerbszeichnung, die im Wettstreit der konkurrierenden Bauschulen im 18. und 19. Jahrhundert entstanden.


Den Abschluss bilden Präsentationszeichnungen. Sie kommunizieren Konzept und Idee im Detail. In ihrem künstlerischen Ausdruck vermögen sie teils an wirklichkeitsgetreue Architekturveduten heranzureichen, die ganze Stadtlandschaften abbilden. Bei Präsentationszeichnungen ist die Autorschaft nicht immer geklärt. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Architekten Zeichner bedienten, die ihre Architektur in Szene setzten. Beeindruckend in ihrer ungewöhnlichen Gestalt sind zudem autonome Architekturzeichnungen. Sie sind nicht gedacht als vorbereitende Arbeiten für ein Projekt, sondern als Architekturstatements zu verstehen. Beispiele sind Radierungen von Giovanni Battista Piranesi, Arbeiten von Franco Purini oder Serien von Daniel Libeskind. Auch die Zeugnisse nicht gebauter Architekturen, ob realer Entwurf oder pure Fantasie, erzählen Architekturgeschichte.


Von 2D zu 3D – von Theorie zu Praxis


Schon im Altertum vermittelte Vitruv in seinen „Zehn Büchern über Architektur“ mathematische und geometrische Kenntnisse. In der Renaissance setzten sich Architekten und Wissenschaftler weiter mit diesen Themen auseinander. Sie suchten neue Projektionsarten und Darstellungsformen, um sich visuell auszudrücken, technische und konstruktive Fragen zu ergründen oder auch architekturtheoretische Überlegungen einzubringen.

Überlappende Grundrisse und Innenraumperspektiven des Petersdoms. Donato Bramante zeichnete das Raster per Hand.
© bpk / Scala
Überlappende Grundrisse und Innenraumperspektiven des Petersdoms. Donato Bramante zeichnete das Raster per Hand.

Die Entwicklung der Zentralperspektive spielte für die Architekturdarstellung eine wichtige Rolle. Als Erfinder gilt der Italiener Filippo Brunelleschi mit den perspektivisch gemalten Tafeln der Piazza San Giovanni und der Piazza della Signoria in Florenz von 1410. Diese neue Möglichkeit das Sichtbare und Erdachte wirklichkeitsnah zu zeichnen, begleitet die Geschichte der Architekturzeichnung durch die Neuzeit. Dabei wurden die aufkommenden perspektivischen und malerischen Darstellungen von den Architekten sehr kritisch gesehen. Viele Baumeister empfanden die ursprünglichen Darstellungsverfahren als ausreichend. Leon Battista Alberti erkundete die Perspektive weiter und entwickelte das sogenannte Velo: ein mit Schnüren geteilter Rahmen, mit dem der Betrachter die Welt perspektiv abzeichnen konnte. Was Alberti durch Messen mithilfe seines Perspektiv-Instrumentes gelang, schaffte der Maler Piero della Francesca mittels reiner Konstruktion beim Erkunden der Frontalperspektive.


Künstler wie Raffael oder Michelangelo bewegten Wegweisendes bei der Kreation monumentaler Bauten, wie etwa des Petersdoms. Sie berechneten ohne statische Kalkulationsmethoden die Stabilität von Konstruktionen und nutzten die perspektivische Darstellungsform für beeindruckende Zeichnungen. Die großen Renaissance- und Barockarchitekten waren Generalisten. Die meisterlichen Künste der zahlreichen Baumeister des Petersdoms zeigen sich beispielsweise in den innovativen Zeichnungen von Donato Bramante. Er machte die innere und äußere Struktur des Bauwerkes in einer Zeichnung gleichzeitig sichtbar: Neben perspektivischen Raumstudien überlagern sich verschiedene Projekte zum Neubau des Doms. Dabei ist das Papier wie modernes Millimeterpapier mit einem handgezeichneten Raster überzogen, um die Proportionen und Größen zu kontrollieren. Nach der Grundsteinlegung 1506 mit Bramante veränderte sich das Bauwerk mit zahlreichen  Entwürfen und Überarbeitungen. 1667 wurde es mit den Umplanungen der Kolonnaden durch Gianlorenzo Bernini abgeschlossen.

Das Aquarell von Schinkel entstand 1838 als großer malerischer Entwurf für das Krim-Schloss Oriander mit einer Ansicht der Karyatidenvorhalle auf der Meerseite.
© Architekturmuseum der TU Berlin
Das Aquarell von Schinkel entstand 1838 als großer malerischer Entwurf für das Krim-Schloss Oriander mit einer Ansicht der Karyatidenvorhalle auf der Meerseite.

Schinkel und die Perspektive

Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) war ein großer Baumeister seiner Zeit. Das Stadtbild Berlins prägte er mit dem Schauspielhaus, der Friedrichswerderschen Kirche oder der schinkelschen Bauakademie. Noch heute wird Schinkel für sein architektonisches Wirken geschätzt und für seine zeichnerischen und malerischen Darstellungen bewundert. Bereits kurz nach seinem Tod wurde sein Nachlass musealisiert. Mittlerweile werden seine wunderschönen Architekturdarstellungen – großformatige Umrissstiche ebenso wie malerische Wettbewerbszeichnungen – in bedeutenden Architektursammlungen bewahrt.  Zu Beginn seiner Karriere eiferte er seinen Lehrmeistern wie David und Friedrich Gilly nach

Schinkel zeichnete die „Innenansicht des Treppenhauses“ vom Schloss in Köstritz mit der Feder um 1803. Umgesetzt wurde die Idee nicht.
© akg-images
Schinkel zeichnete die „Innenansicht des Treppenhauses“ vom Schloss in Köstritz mit der Feder um 1803. Umgesetzt wurde die Idee nicht.

   

Mit Kreide gezeichnet: Ein Portrait von Karl Friedrich Schinkel.
© Heritage Images / Fine Art Images / akg-images
Mit Kreide gezeichnet: Ein Portrait von Karl Friedrich Schinkel.

und hielt sich an Fluchten, Perspektiven und Symmetrien – und damit auch an mathematische und perspektivische Grundlagen. Die Entwicklungen, die die französischen und italienischen Architekten maßgeblich prägten, brachte Albrecht Dürer mit nach Deutschland. Er reiste 1505 durch Italien und schrieb das erste deutschsprachige Lehrbuch für technisches Zeichnen und Perspektive mit dem Titel „Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen unnd gantzen corporen“. Schinkel nutzte diese Grundlagen, kreierte aber im Laufe seiner Schaffenszeit auch detailreiche, atmosphärische und sehr lebendige Darstellungen, die weit über die reine technische Zeichnung hinausgingen.

 
Albrecht Dürers Holzschnitt „Der Zeichner der Laute“ von 1525 zeigt eine Studie zur Perspektive.
© akg-images
Albrecht Dürers Holzschnitt „Der Zeichner der Laute“ von 1525 zeigt eine Studie zur Perspektive.


Malerische Perspektive


Im 18. Jahrhundert entwickelte die Architekturzeichnung malerische Qualitäten. Allerdings schienen sich damit auch die geometrischen Zeichenkünste zu verflüchtigen. Um die Jahrhundertwende entstanden viele Akademien in Deutschland und Europa, die das exakte zeichnerische Studium mit Perspektive, Proportion und Symmetrie lehrten und auch eine strukturierte Lehre der Architektur gewährleisteten. Denn der wissenschaftliche Fortschritt und die zunehmende wirtschaftliche Komplexität verlangten nach Spezialisierung. Allmählich trennten sich die Wege des Architekten und des Ingenieurs. Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert etablierte sich die Baustatik als eigenständige Disziplin. Schon vorher setzten sich Spezialisten wie Galileo Galilei und Isaac Newton mit der Einwirkung von Kräften auf starre Körper auseinander. Besonders in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelte sich mit farbig aquarellierten Perspektiven eine neue Präsentation des Architekturentwurfes: Hin zur Poesie! Gerade Karl Friedrich Schinkel wollte mehr als funktionale Zeichnungen und erschuf lebendige und stimmungsvolle Architekturbilder.


Zur Vermittlung technischer und architektonischer Zusammenhänge wurden ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts axometrische Darstellungen genutzt. Sie machten es dem Betrachter möglich Grundriss, Schnitt sowie äußere und innere Planung auf einen Blick zu erfassen. „Damit findet der Aspekt des Virtuellen Eingang in die zweidimensionale Darstellung von Architektur“, erklärt der Architekturexperte Philipp. Wegbereitend dafür war im 19. Jahrhundert unter anderem der Architekturhistoriker Auguste Choisy. Mit seiner Darstellung beeinflusste er auch die moderne Architektur. Selbst in der Werklehre im Bauhaus vermittelte Walter Gropius die sinnlichen Möglichkeiten der Axometrie.

Eine perfekte Präsentationszeichnung: Friedrich von Thiersch schuf mit Bleistift, Feder und Aquarell einen perspektivischen Schnitt. Der Entwurf von 1902 zeigt das Wiesbadener Kurhaus.
© Architekturmuseum der TU München
Eine perfekte Präsentationszeichnung: Friedrich von Thiersch schuf mit Bleistift, Feder und Aquarell einen perspektivischen Schnitt. Der Entwurf von 1902 zeigt das Wiesbadener Kurhaus.

Zeichnungen der Moderne


Wie schon in der Renaissance schufen Architekten der Moderne Entwürfe, die Wege in die Zukunft wiesen oder unkonventionelle Lösungen für gesellschaftliche Probleme aufspürten. Über den Expressionismus bis hin zur Neuen Sachlichkeit entstanden revolutionäre Bauten und Konzepte – der Einsteinturm von Erich Mendelsohn in Potsdam, Le Corbusiers Idee zur idealen Stadt mit der „Ville Radeuse“ oder Mies van der Rohes kleeblattförmiges, gläsernes Hochhaus in der Berliner Friedrichstraße.


Die individuellen Köpfe mit großen Ideen nutzten teils ungewöhnliche Wege zum Ausdruck ihrer Kreativität. Erich Mendelsohn inspirierte beispielsweise das Hören von Musik zu „musikalischen“ Skizzen vom Kaufhaus Schocken in Stuttgart. Gleichwohl beschäftigte er sich vorher, ähnlich wie seine Vorbilder Henry van de Velde und Frank Lloyd Wright, auch mit (städte-)baulichen Begebenheiten. Seine Stärke war die Skizze, konstruktive Pläne ließ er zeichnen. In den 1950–60er-Jahren sind Konstruktionspläne bei Architekten gefragter. Ein Beispiel ist die Baugenehmigungszeichnung des Architekten Sep Ruf. Die kolorierte Pauszeichnung zeigt einen Gebäudeentwurf des heutigen Hauptsitzes der Deuten Stiftung Denkmalschutz Mitte der 1950er-Jahre. Auch wenn nicht alle Details umgesetzt wurden, lässt sich in der feingliedrigen Zeichnung die Ästhetik der Zeit ablesen.


In den folgenden Jahrzehnten machten der britische Architekt James Stirling mit farbigen abstrakten Zeichnungen oder der deutsche Architekturzeichner Helmut Jacoby mit hyperrealistischen Darstellungen von sich Reden. Namhafte Architekten wie Zaha Hadid oder Frank O. Gehry nutzen Ende des 20. Jahrhunderts die Einführung des Computers als Zeicheninstrument. Für ihre Entwürfe verwendeten sie unter anderem computergestützte Zeichnungen und Modelle. Heutzutage bewegen sich Planer und Bauherren mit Virtual- und Augmented-Reality bereits leichtfüßig in nicht gebauten Architekturen. Entwürfe können mit ein paar Mausklicks neu modelliert und Raumkonzepte schnell geändert werden. Dabei gilt jedoch bis heute: keine 3D-Darstellung ohne 2D-Zeichnungen. Letztere bleiben notwendiges Kommunikations- und Vermittlungsmedium für gebaute Architektur.

Mit Kohle zauberte Hans Poelzig den Entwurf zum Berliner Lichtspielhaus Babylon auf das Transparent.
© Architekturmuseum der TU Berlin
Mit Kohle zauberte Hans Poelzig den Entwurf zum Berliner Lichtspielhaus Babylon auf das Transparent.

Der klassische Dreiklang der Architekturzeichnung war über die Epochen hinweg mit seinen allgemein verständlichen Codes lesbar. Dafür gibt es bis heute keinen Ersatz: ob auf Papier oder in einer Virtual-Reality-Brille animiert. Schon der Kunsthistoriker Dagobert Frey betonte ihre doppelte Bedeutung zwischen funktionalem und künstlerischem Medium: „Einerseits ist sie ein rein konventionelles Mittel, eine Raumvorstellung eindeutig festzulegen und diese damit den ausführenden Handwerkern zu vermitteln {…}, andererseits ist sie über diese Konvention hinaus selbst künstlerisches Objekt,{…} in dem aber der künstlerische Gedanke zur unmittelbaren Formulierung und damit zu einer suggestiven Wirkung zu gelangen vermag.“ Auch wenn für Frey das in allen Dimensionen erfahrbare Bauwerk das Ziel der Zeichnung war, betont er den (Kunst-)wert der zeichnerischen Zeugnisse. Sie sind oft beides: Ausdruck künstlerischer Genialität und technisches Werkzeug für Planungsprozess und -abschluss.


Sammeln und Bewahren


Architekturzeichnungen wurden schon während der Renaissance gesammelt. In Deutschland lässt sich das Bewahren in Sammlungen und Archiven auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datieren. Die Wertschätzung der Architekturzeichnung als künstlerisches Medium spiegelt sich aber auch in der enormen Anzahl von Baukunstarchiven und Architekturmuseen. Seit 2011 widmet sich die „Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung“ in Berlin ausschließlich diesem Medium. „Hier gibt es nur Handgezeichnetes“, erzählt Eva-Maria Barkhofen stolz. Die öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für architekturbezogene Kunst und Archivobjekte ist im Kuratorium der Stiftung des Museums aktiv. Zudem leitete sie mehrere bekannte Architekturarchive. Als ehemalige Sprecherin der Föderation deutschsprachiger Architektursammlungen setzt sie sich für die Entwicklung einheitlicher Sammlungsmethoden und -kriterien für Architekturdokumente ein und kämpft für die Bestände deutscher Architektursammlungen, die sie als gefährdet sieht. Fast überall mangelt es am Budget für Restauratoren. Andrea Pataki-Hundt, Professorin in der Studienrichtung Restaurierung von Schriftgut, Grafik, Fotografie und Buchmalerei am Cologne Institute of Conservation Sciences, kennt diese Probleme, aber auch die Herausforderungen bei Restaurierungen. „Gerade die Lagerung und das Handling der großen Mengen sind aufwendig. Fast jede Zeichnung muss entrollt, plan gelegt und von Rissen befreit werden.“

Der Architekt Sep Ruf fertigte die Baugenehmigungszeichnung des jetzigen Bonner Stiftungssitzes im Maßstab 1:100 an.
© Archiv / DSD
Der Architekt Sep Ruf fertigte die Baugenehmigungszeichnung des jetzigen Bonner Stiftungssitzes im Maßstab 1:100 an.

Das Bewahren historischer Architektursammlungen ist ein anspruchsvoller und wichtiger Part für unser kulturelles, gebautes Erbe. Auch die DSD setzt sich für den Erhalt bedeutender Zeichnungen ein – beispielsweise für die Rettung der Sammlungsobjekte im Berliner Domarchiv, die unter Schimmel, Rissen und Knicken litten. Die Treuhandstiftung „Plansammlung Potsdam“ unter dem Dach der DSD hat sich zum Ziel gesetzt den Erhalt von mehr als 30.000 Plänen der Sammlung zu fördern. Die Zeichnungen geben wissenschaftliche Auskunft über die Entwicklungs- und Baugeschichte der Stadt Potsdam.


Skizzen, Entwürfe und Präsentationszeichnungen dokumentieren Bauzustände, bezeugen technische und bauliche Entwicklungen der Epochen, dienen dem Wiederaufbau ruinöser Bauwerke und helfen bei der Rekonstruktion nicht mehr vorhandener Bauten. Gerade im Denkmalschutz und mit den künftigen, herausfordernden Aufgaben der Architekten werden die Zeichnungen bedeutsam bleiben. Die faszinierende, virtuose Handzeichnung steht den technisch perfekten Darstellungen in nichts nach. Wenn Eva-Maria Barkhofen die ungläubigen Blicke von Studierenden bei Führungen durch die Architektursammlungen sieht, entgegnet sie den jungen Besuchern: „Schaut durch die Lupe, das sind tatsächlich Federstriche!“


Svenja Brüggemann

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