Streiflichter Design Ausgabe Nummer August Jahr 2021 Denkmale A-Z V

Schein und Sein – Folge 4

Das virtuelle Denkmal

Wir erleben einen Digitalisierungsschub in allen Bereichen – auch in der Denkmalpflege. Der Tag des offenen Denkmals® 2020 hat gezeigt, wie virtuelle Hilfsmittel eingesetzt werden können.

Lesen Sie Teil 3 unserer Reihe "Schein und Sein" hier.


Die Schockstarre war nur kurz, dann stand es fest: Als sich im Frühjahr letzten Jahres abzeichnete, dass wegen der Corona-Pandemie unmöglich ein regulärer Tag des offenen Denkmals durchgeführt werden könnte, wurde aus der Not eine Tugend gemacht: Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (DSD) lud zur Denkmalbesichtigung in digitaler Form ein. Sie ermöglichte Denkmalbesitzern und -engagierten, den Zutritt über den digitalen Weg anzubieten. In kostenlosen Online-Seminaren vermittelte sie Grundlagen für das Anfertigen von Videos und Podcasts und präsentierte selbst Filme über zahlreiche ihrer geförderten Denkmale. Live-Führungen wurden am Tag des offenen Denkmals übertragen, in Chats korrespondierte man miteinander. Es hat sich gelohnt: Die Veranstaltung, deren Elixier eigentlich das Nahekommen, das Anfassen, das Erleben mit allen Sinnen ist, konnte bestmöglich aufgefangen werden. Über eine Million Mal wurde das Angebot über die DSD-Internetseite im September 2020 angeklickt. 

Kaiserpfalz Ingelheim: Das Heidesheimer Tor wurde mit Hilfe der DSD 2000–2001 freigelegt. Rechts sehen wir ein frühes Beispiel von virtueller Annäherung aus dem Jahr 2009: das Tor zu Salierzeiten.
© picture alliance / DUMONT Bildarchiv; Stadt Ingelheim / Rekonstruktion Holger Grewe / Umsetzung Archimedix GmbH
Kaiserpfalz Ingelheim: Das Heidesheimer Tor wurde mit Hilfe der DSD 2000–2001 freigelegt. Rechts sehen wir ein frühes Beispiel von virtueller Annäherung aus dem Jahr 2009: das Tor zu Salierzeiten.

Blick in die Vergangenheit


Die Corona-Zeit hat einen Digitalisierungsschub in allen Bereichen hervorgebracht. Doch bereits vor der Pandemie war die Technik im Umgang mit dem Historischen oft hilfreich: Um Geschichte anschaulich zu machen, nimmt man seit Jahren vor allem im Bereich der Archäologie High-Tech zu Hilfe. Wo häufig nur Fragmente, Umrisse oder Einzelstücke überliefert sind, kann man in digitalen Welten Zusammenhänge sichtbar machen. Selbst Unterirdisches kommt auf diese Weise ans Tageslicht – oder besser: auf den Bildschirm. Vorreiter waren hier die Forscher der Kaiserpfalz in Ingelheim. Karl der Große hatte die prachtvolle Pfalz um 800 nach römischen Vorbild errichten lassen. Schon 2002 fing man an, die Zeit des frühen Mittelalters aufgrund von Grabungen, die die DSD von 1995 an förderte, fotorealistisch nachzubilden. Ramona Kaiser (37) von der Forschungsstelle Kaiserpfalz Ingelheim, zuständig für die Präsentation der historisch so bedeutsamen Stätte: „Wichtig ist uns, dass im Denkmal selbst nichts verändert wird. Der virtuelle Blick in die Vergangenheit ermöglicht eine substanzerhaltende Rekonstruktion. Dabei legen wir Wert darauf, Hypothetisches ganz klar zu benennen.“

Landesdenkmalämter und Museen arbeiten immer häufiger mit Mediengestaltern zusammen. Dabei nutzt man für die virtuellen Rekonstruktionen auch das Wissen der erfahrenen Weltenbauer der Videospiele, Meister der Augmented Reality. Dr. Susanne Jülich, stellvertretende Leiterin des LWL Museums für Archäologie in Herne, sagt etwas provokativ: „Forscher schreiben dazu ganze Bücher, wir bauen holografische Vitrinen.“ Die Hologramme in der Dauerausstellung präsentieren Objekte als 3D-Animationen in Aktion. All ihre Entstehungsschritte sind deutlich erkennbar. Bei einem Besuch des Museums erscheinen mitten im Raum plötzlich Menschen aus der Vergangenheit.

Zeitgemäße Vergangenheit im Archäologiemuseum Herne: Eine virtuelle Figur wird lebendig.
© PUPPETEERS GmbH
Zeitgemäße Vergangenheit im Archäologiemuseum Herne: Eine virtuelle Figur wird lebendig.

Eine App macht es möglich. Jülich: „Die Besucher wollen wissen: Wie sahen die Menschen damals aus? Und: Was sehen Archäologen, wenn sie die Spuren der Vergangenheit lesen? Fragen, die wir über digitale Anwendungen beantworten wollen.“ Ein aktuelles Projekt des Museums erarbeitet gerade, wie mittels interaktiver digitaler Medien archäologische Arbeitsweisen und Kompetenzen vermittelt werden können. Neben Experten aus der Digitalbranche bringen sich auch die zukünftigen Nutzer selbst ein, vor allem die sogenannten „Digital Natives“.


Die digitale Präsentation von geschichtlichen Themen und von Denkmalen nimmt immer mehr an Fahrt auf, auch außerhalb von Museen. „Guten Tag, ich bin das Alte Gericht Fürstenberg“, erzählt uns ein freundliches Barockgebäude. „Erbaut wurde ich 1736. Aber meine Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, fängt noch viel früher an.“ Das „sprechende Denkmal“, das per QR-Code seine Vita nahebringt, ist ein Projekt, das 2020 von WestLotto zusammen mit der DSD in Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen wurde. Die unterhaltsam erzählte Geschichte der Denkmale und ihrer Bewohner kann jederzeit abgerufen werden. Dieses Wissen schafft und steigert die Wertschätzung der Bauten und das Verständnis für ihren Erhalt.


In immer mehr Städten ermöglichen Apps, durch das Smartphone in die Vergangenheit zu schauen. Fotos aus verschiedenen Zeiten lassen sich übereinander schieben. Städte experimentieren zu eigenen Verwaltungs- und Entwicklungszwecken mit virtuellen 3D-Modellen. Sie können damit zum Beispiel Verschattungsberechnungen durchführen oder im Vorfeld prüfen, welche Wirkungen Bauprojekte auf denkmalgeschützte Einzelbauten, Straßenzüge und Plätze haben würden. Die Idee ist, dass die Daten für alle Bürger abrufbar sein sollen: mit dem Smartphone oder einer speziellen Brille, die die Informationen einblendet.

Die Nürnberger Lorenzkirche: Unmengen von Daten werden in einen zukunftsführenden Kontext gebracht.
© Bauforschung / Baugeschichte / Otto-Friedrich-Universität
Die Nürnberger Lorenzkirche: Unmengen von Daten werden in einen zukunftsführenden Kontext gebracht.

Digitale Denkmalpflege


Die Digitalisierung ist im Bereich der Denkmalpflege angekommen und mit ihr hält auch der unendliche, vernetzte Austausch von Daten und Informationen Einzug. Chance und Herausforderung zugleich, ermöglicht er eine bessere dokumentarische Erfassung der Denkmale. In der praktischen Denkmalpflege findet digitale Technik zur Erstellung von Aufmaßen per Laserscanning und für Monitorings immer häufiger Verwendung. Wie nutzbringend im Notfall eine digitale Datenerfassung sein kann, hat sich nach dem Brand von Notre-Dame in Paris gezeigt: Der Kunsthistoriker Professor Stephan Albrecht von der Universität Bamberg konnte den Fachleuten vor Ort unermesslich wichtige Scan-Daten der Kathedrale zur Verfügung stellen – wir berichteten. Sein Bamberger Kollege, Bauforscher Dr. Tobias Arera-Rütenik, führt zusammen mit Informatikern der Universität Passau am Beispiel der Nürnberger Lorenzkirche seit 2018 Forschungen im Bereich der digitalen Erfassung komplexer Baudenkmale durch. Ergebnis des Projekts: ein Monumentalbau-Management-System. Der 45-jährige Forschungsleiter: „Uns geht es dabei nicht nur um eine digitale Visualisierung des Bauwerks, sondern um die vielfältigen Informationen, die das Bauwerk jenseits der Koordinaten der einzelnen Scan-Punkte liefert. Wir ordnen die Daten einander zu, befüllen sie inhaltlich und können verschiedene historische Zustände ablesen. Auch Bauteile, die es heute nicht mehr gibt, tragen Informationen.“

Ebenso wichtig ist Arera-Rütenik und dem Forscherteam, alle am „System gotische Großkirche“ Beteiligten aus allen Jahrhunderten und zudem alle Archivalien, die es zum Bauwerk gibt, zusammenzuführen und verfügbar zu machen: „Eine präzise Verschlagwortung der Daten ermöglicht ihre fächerübergreifende Nutzung. Gebraucht werden können sie dann von allen, vom Architekten bis zum Tourismusmanager, und zwar weltweit. Wir bewegen uns dafür im ‚Semantic Web‘, der nächsten Stufe des Internets. Das Digitale kann als gemeinsame Sprache dienen, ohne die eigene aufzugeben.“  Die DSD engagiert sich in der Lorenzkirche seit 2005 bei der Restaurierung der kostbaren Fenster.  Die Informationen zu diesen Arbeiten, die sich insbesondere mit den Umwelteinflüssen auf das Glas beschäftigen, können ebenso in das digitale System einfließen.

Haus Schulenburg in Gera: Obwohl im Privatbesitz, ist es in Form eines Museums der Öffentlichkeit zugänglich. Seit Neuestem auch virtuell. Gebäude und Inventar wurden digital erfasst.
© rooom AG / FSU Jena / ThULB Jena
Haus Schulenburg in Gera: Obwohl im Privatbesitz, ist es in Form eines Museums der Öffentlichkeit zugänglich. Seit Neuestem auch virtuell. Gebäude und Inventar wurden digital erfasst.

Vom weltweiten Netz zum einzelnen Artefakt: Restauratoren müssen sich mit den neuen digitalen Möglichkeiten auseinandersetzen, um einen verantwortungsvollen Umgang für die Erhaltung, die Restaurierung und die Vermittlung des historischen Fragments zu finden. Die neuen Möglichkeiten werfen Fragen auf: Nach der digitalen Rekonstruktion von zerstörten oder beschädigten Denkmalen wird aktuell die Verwendung von durch 3D-Druckern erzeugten Teilstücken zur Wiederherstellung diskutiert. Viele Fragen stellen sich zu diesem Thema, das wir in der nächsten Folge unserer Serie über Schein und Sein in der Denkmalpflege beleuchten wollen.


Das Denkmal – ein „realer Touchscreen“

Offen für neue Technologien ist auch Dr. Volker Kielstein. Er ist aktiver Denkmalpfleger – und das seit 1996, als der Arzt Haus Schulenburg in Gera erwarb. Zunächst als Teil seiner Tagesklinik gedacht, wurde die von Henry van de Velde errichtete Jugendstilvilla bald selbst zu einer Art Patient. Sorgsam heilte Kielstein das Haus, stellte den Ursprungszustand wieder her und öffnete es für Besichtigungen. Das letzte, coronabedingt besucherlose Jahr nutzte er, um auf Anraten der Thüringer Staatskanzlei gemeinsam mit der Universitäts- und Landesbibliothek Jena die wertvollen Bestände, das Mobiliar und van de Veldes Buchentwürfe digital zu erfassen. Dabei wurde auch ein virtueller 3D-Auftritt kreiert. Die Digitalisierung vernetzt das Gebäude noch besser in die weltweite van de Velde-Forschung und macht es überall auf der Welt für jeden sichtbar. Bald soll mit Hilfe von Drohnenaufnahmen zusätzlich ein 3D-Modell erstellt werden. „Mit diesen Daten kann sich bald jeder theoretisch das Haus Schulenburg nachdrucken“, erzählt Dr. Kielstein. Doch unverzichtbar, stellt der 79-Jährige fest, bleibe ihm der wirkliche Kontakt des Baukunstwerks mit den Besuchern: „Dafür ist es doch da.“

Haus Schulenburg in Gera ist 1915 von Henry van de Velde entworfen worden. Die Restaurierung wurde von der DSD gefördert.
Gera, Haus Schulenburg © imago / imagebroker
Haus Schulenburg in Gera ist 1915 von Henry van de Velde entworfen worden. Die Restaurierung wurde von der DSD gefördert.

Auf diesen Kontakt freut er sich auch wieder am diesjährigen Tag des offenen Denkmals. Denn 2021 ruft die DSD wieder ausdrücklich zur Öffnung der Denkmale auf - natürlich nur soweit es die Pandemie-Entwicklung zulässt. Gleichzeitig soll aber auf Auftritte im Internet nicht verzichtet werden. So mischen sich am 12. September analoge und digitale Formate. Der „hybride“ Tag des offenen Denkmals 2021 wird zeigen, wie man in Zukunft das real Existierende mit dem Virtuellem bereichern kann. Einig ist man sich aber: Das echte Bauwerk ist nicht ersetzbar und muss mit allen Sinnen erlebbar sein – das ist der Erfolgsgrundpfeiler des Tags des offenen Denkmals und überhaupt Sinn der Denkmalpflege selbst.


Beatrice Härig



Der Tag des offnenen Denkmals® 2021


Entdecken Sie Haus Schulenburg in einem virtuellen Rundgang!


Das LWL-Museum für Archäologie in Herne wartet mit spannenden digitalen Angeboten auf!



Lesen Sie Teil 5 unserer Reihe "Schein und Sein" hier.

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