Denkmalarten Wohnhäuser und Siedlungen Öffentliche Bauten Stile und Epochen Nach 1945 Ausgabe Nummer Dezember Jahr 2019
1959 wurde in Berlin ein Bauprojekt mit pädagogischem Auftrag eingeweiht: Die US-Amerikaner schenkten der Stadt einen Campus mit Studentenwohnungen. Pflichtfächer: Freiheit und Demokratie.
Wer hätte gedacht, dass Rauputz der 1960er-Jahre solche Emotionen auslösen kann? Andreas Barz, Vorsitzender der Genossenschaft Studentendorf Schlachtensee, steht vor einer anthrazitfarbenen Außenwand. Sie gehört zu Haus 18 des Studentendorfs. Der Putz bedeutet ihm mehr als nur ordinärer Wandschutz. Glasteilchen lassen ihn funkeln, für Barz ein Symbol: „Er beschützt etwas Edles, nämlich die jungen Menschen. Er leuchtet in die Gesellschaft hinein. Diese Häuser sind so wichtig für die Demokratiegeschichte!“
Ein paar Meter weiter, in Haus 10 des Studentendorfs Schlachtensee im Bezirk Zehlendorf: Grüppchen junger Menschen sitzen verstreut im Raum. Aus dem Stimmengewirr lösen sich einzelne Sprachen. Es sind viele verschiedene Sprachen. „Das Studentendorf war ein Experiment, um im Nachkriegsdeutschland neue Wohnräume mit einer demokratischen Gemeinschaftskultur zu schaffen. Internationalität stand schon immer ganz oben im Programm.“
Andreas Barz läuft durch das Foyer, hier melden sich zu Semesterbeginn gerade die neuen Studierenden an, um ihre „Buden“ zu beziehen. Barz ist so etwas wie Kopf und Herz des Studentendorfs, auch wenn er betont, dass solch ein Projekt nur in Gemeinschaftsarbeit gelingt: Mit gelassener Ausstrahlung und doch von einer organisierenden Unruhe gepackt hat er zugleich das Wohl der Studenten, die Bilanz der Finanzen und den Zustand der Gebäude im Blick. In die Gebäude ist er regelrecht verliebt. Die Architektur packt ihn, den bekennenden Fan der Nachkriegsmoderne.
Er kann sich für die Wandfarben der Wohnhäuser begeistern, für die elegante Balkonlösung von Haus 10, den archaischen Kellenwurfputz im Treppenhaus von H 12/13, und sich im Vorbeigehen um die Stauden sorgen, die die Garten-AG nach dem ursprünglichen Entwurf von Hermann Mattern im letzten Jahr gepflanzt hat. Immer wieder gibt er den orientierungslosen Neustudenten Auskunft: Über 900 junge Menschen werden auch dieses Semester im „Dorf“ leben, sie stammen aus fast 100 Nationen. Kaum zu glauben, dass die Anlage mehrmals kurz vor dem Abriss stand, bis sich 2003 die Genossenschaft zur Rettung des Studentendorfs gründete.
Das Studentendorf ist ein lebendiger Ort. Trotz etwas abseitiger Lage vom Stadtzentrum im Berliner Südwesten ist es beliebt bei den Studierenden. Es ist bis auf den letzten Platz belegt und erfüllt damit bis heute seinen Gründungszweck. Als im Oktober 1957 Bürgermeister Willy Brandt und Eleanor Dulles den Grundstein legten, hatten sie genau dieses Leben vor Augen.
Dulles, US-Botschafterin in Deutschland und Schwester des amerikanischen Außenministers, hatte der amerikanischen Regierung fast zehn Millionen D-Mark abringen können. Im ärmlichen Nachkriegsberlin nicht weit von der Freien Universität – ebenfalls ein Geschenk Amerikas – sollte ein Ort geschaffen werden, an dem ausgewählte Studierende zu Botschaftern der westlichen Demokratie reifen konnten. Etwa zehn von der US-amerikanischen Henry-Ford-Foundation entlohnte Tutoren kümmerten sich in den Studentenwohnhäusern darum, dass sich kein falscher Geist in die „reeducation“ einnisten konnte.
Sie sorgten auch dafür, dass Frauen und Männer strikt getrennt wohnten. Mit der Bürgermeisterei, mit Dorfrat, Ausschüssen und Arbeitskreisen sollte eine kleine Bundesrepublik nachgebildet werden. Die prozentuale Aufteilung der Bewohner in West- und Ostdeutsche – bis zum Bau der Mauer 1961 gab es an der FU auch Studierende aus der DDR – und Ausländern war vorgegeben.
Die legendäre „Schlüsseltauschparty“ machte 1970 mit der Geschlechtertrennung Schluss. Schon Jahre zuvor war die strenge Erziehung zur demokratischen Elite enttäuscht aufgegeben worden. In Zeiten der studentischen Freiheitsliebe und der allgemeinen studentischen Politisierung konnte die patriarchale Überwachung nicht mehr akzeptiert werden. Das Dorf gehörte jetzt dem Studentenwerk und damit dem Senat Berlin.
Es folgten Jahre der Vernachlässigung und des wachsenden Leerstands. Die Anlage wurde in den späten 1970er-Jahren um vier mehrgeschossige WG-Häuser erweitert mit Wohngemeinschaften, wie sie im Studentenmilieu Westberlins und der übrigen Bundesrepublik Hochkonjunktur hatten. Sie entsprachen mehr dem studentischen Selbstverständnis.
Die Architekten der ersten Erbauungsphasen bis 1964 waren hier nicht mehr involviert: Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch, alle frühere Mitarbeiter von Hans Scharoun, hatten 1957 das Studentendorf nach den städtebaulichen Idealen ihrer Zeit als offene durchgrünte Stadtlandschaft mit insgesamt 24 Gebäuden konzipiert.
Das Zentrum bildet die leicht abgesenkte Agora, um die sich die Gemeinschaftshäuser wie Rathaus, Bibliothek, der Laden und ein Veranstaltungshaus gruppieren. Sie ragen in ihrer architektonischen Form heraus. Die verputzten Wohngebäude folgen hingegen einem gemeinsamen Schema, sind aber dennoch individuell ausgeführt.
Zwei- oder dreigeschossig, zum Teil als Doppelhaus mit dezent farblich gestaltetem Innenhof zusammengefasst, zeigen sie sich alle luftig und offen. Flach geneigte Dächer und horizontale Fensterbänder bilden eine formale Klammer. Die gestaffelten Reihen der Wohneinheiten finden sich in der Kubatur der Häuser wieder. Die Gebäude sind auf dem gut fünf Hektar großen Areal großzügig, sinnbildlich freiheitlich, verteilt.
Barz: „Es ist eine demokratische Architektur im eigentlichen Sinn: Es gibt keine vertikalen Fensterachsen in den Fassaden. Das unterstreicht die Individualität der Menschen und der Nationalitäten. Es spiegelt sich auch in den Einrichtungen wider. Die Möbel stehen in jedem Zimmer anders, und auch die Farben unterscheiden sich in jeder Bude.“ Ausgerichtet sind die Wohngebäude auf die Räume des sozialen Austauschs und demokratischen Miteinanders: Küchen und Treppenhäuser sind großzügig, die einzelnen Zimmer dagegen recht eng bemessen.
Was so ambitioniert begann, entwickelte sich zu einem Trauerspiel. Baulich vernachlässigt, finanziell schlecht ausgestattet, architektonisch nicht geliebt: Das Schicksal der Anlage lag lange Zeit im Ungewissen. Obwohl 1991 unter Denkmalschutz gestellt, wurde im Jahr 2000 vom Berliner Senat der Abriss des Studentendorfs überlegt. Investoren hatten ein Auge auf die äußerst attraktive Lage im Villenviertel von Schlachtensee geworfen.
Alles andere als attraktiv war der Zustand der maroden Gebäude, die von Rost und Nässe durchzogen waren. Erst massive Gegenwehr bewahrte sie vor dem endgültigen Niedergang. Studenten zogen vor das Brandenburger Tor, um die Verwahrlosung des Studentendorfs durch die Stadt Berlin anzuprangern. „Mit ihrem Protest“, kommentiert Barz, „haben die Studenten genau das gemacht, was sie die Amerikaner gelehrt haben.“
Das Ergebnis ist 2003 die Gründung der Genossenschaft, die mit geradezu wahnwitzigem Mut die zehn Millionen Euro Kaufpreis übernimmt und die zudem vor einer noch vielfach teureren Instandsetzung des heruntergekommenen Ensembles steht. Die Genossen – ehemalige Bewohner, Architekten, Denkmalschützer und Stadtplaner – entwickeln findige Finanzierungskonzepte und setzen sich durchaus aus verschiedenen Gründen für den Campus ein: um einen historisch wichtigen Ort zu erhalten, um wieder studentischen Wohnraum zu schaffen oder um architektonische Qualität zu bewahren.
Denn obwohl die Gebäude hinter zuwuchernden Bäumen und unter unpassenden Farbanstrichen fast unkenntlich geworden sind, beginnt man die Baukunst zu entdecken, die in dem Ensemble steckt. Die Wertschätzung findet ihren Ausdruck schließlich darin, dass das Studentendorf 2006 vom Bund als „National wertvolles Kulturdenkmal“ gefördert wird.
In diesem Jahr beginnt auch die aufwendige Restaurierung: Zu Zeiten, in denen Betonsanierungen noch nicht erprobt sind, experimentiert man mit sorgfältig besetzten Expertengruppen. Eine Dämmung der zugigen, einschalig errichteten Wohngebäude ist unumgänglich – Herausforderungen, die an einem Denkmal mit zum Teil unkonventionellen Methoden gemeistert werden müssen, denn keinesfalls dürfen die klaren Proportionen verfälscht werden.
Die originalgetreue Wiederherstellung der Rauputzfassaden mit ihren farbigen Oberflächen hat oberste Priorität und die isolierenden neuen Fensterprofile sollen die Architektursprache nicht verändern. Zu den restauratorischen Herausforderungen kommt erschwerend hinzu, dass im laufenden Betrieb saniert werden muss. Behutsam werden die Wohnstandards heutigen Zeiten angepasst, ohne die Authentizität des Denkmals anzugreifen. Die Mieten müssen auch nach der Sanierung moderat bleiben.
Gebäude um Gebäude wird mit Geduld und Verlässlichkeit saniert. Seit 2007 fördert die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, auch mit Hilfe der großzügigen Unterstützung der Beck’schen Stiftung. Die Bilanz kann sich sehen lassen. Ein Großteil ist geschafft, die Restaurierung von fünf der zweigeschossigen Wohnhäuser steht noch an. Das nächste große Ziel: Das Gemeinschaftshaus soll nach seiner Instandsetzung als „Zentrum der Demokratie“ wiederbelebt werden.
Die „kleine Philharmonie“ nennt Barz das Gebäude mit seiner gefalteten Silhouette, das seine Verwandtschaft mit dem Scharoun’schen Bauwerk am Berliner Kulturforum nicht verbergen möchte, und freut sich darauf, wenn in das Gebäude, in dem der Club A18 viele Studentengeschichten schrieb, kulturelles Leben einziehen kann. Ideen dafür sind reichlich vorhanden, mit Experimenten kennt man sich aus.
Zunächst aber wird gefeiert: Vor sechzig Jahren, nach Abschluss der ersten Bauphase im Dezember 1959, zogen die ersten Studierenden in ihre Buden und schrieben damit – wohl eher unbewusst – ein Stück Zeitgeschichte.
Beatrice Härig
Lesen Sie hier ein Interview
mit dem Vorstand der Beck’schen Stiftung Dr. Clemens Beck.
Studentendorf Schlachtensee, Wasgenstraße 75, 14129 Berlin
Fördermaßnahmen:
Die DSD förderte und fördert mit großer Unterstützung der Beck’schen Stiftung in den Jahren 2007–08, 2011–14, 2016–17 und 2019 an insgesamt zehn Gebäuden des Studentendorfs sowohl Innen- wie auch Außenrestaurierungen.
Am 10. Dezember begeht das Studentendorf seinen 60. Geburtstag. Ab 18 Uhr wird auf dem Dorfplatz gefeiert, Gäste sind willkommen. Im Haus 10 gibt es eine Ausstellung zur Geschichte des Studentendorfes.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
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Ich habe den Link soeben zu einem alten Kommilitonen aus Sri Lanka gesandt. Dieser wohnte während seines Geologiestudiums in den 70ern für lange Zeit im Studentendorf und wird sich sicherlich über den Artikel freuen. Seit mehreren Dezennien lebt und arbeitet er nun bereits down under in Perth.
Auf diesen Kommentar antwortenEin wirklich schöner Ort. Architektonisch und vom Konzept her sehr ansprechend. So lässt es sich gemeinschaftlich leben und miteinander studieren - vorausgesetzt Interesse, Offenheit und Sprachbegabung
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