Kurioses Oktober 2018 H

Die Heiligen Leiber aus Rom

In Juwelen gebettet

Über tausend Jahre alte Gebeine, üppig ausstaffiert – dem Kult um die Katakombenheiligen kann man in der Stiftsbasilika von Waldsassen nachspüren.

Die Augenhöhlen mit zarten Perlen umrandet, der Unterkiefer mit funkelnden Steinen besetzt, die Rippen mit goldener Borte umwunden, das hohle Haupt gebettet auf ein besticktes Samtkissen. Kunstvoll gefasste Skelette in gläsernen Schausärgen lassen heutige Betrachter schwanken zwischen Schaudern und Bewunderung. Heilige Leiber – Ganzkörperreliquien, die man zur Verehrung herausgeputzt in Altäre integrierte – waren im 17. und 18. Jahrhundert begehrte Exponate in vielen Kirchen Süddeutschlands. Vor allem im altbayerischen Raum sind diese bizarren Zeugnisse barocker Frömmigkeit und eines spezifischen Kultes aus Zeiten katholischer Neuorientierung noch zu bestaunen.


Nach der Reformation musste der Wert der Reliquien neu verhandelt werden. Mitte des 16. Jahrhunderts hatten die Kirchenoberen auf dem Konzil von Trient ihre Rechtmäßigkeit grundsätzlich bestätigt und festgelegt, dass „die heiligen Leiber der heiligen Märtyrer und anderer, die mit Christus leben“ von ihm zum ewigen Leben auferweckt werden und deshalb von den Gläubigen zu verehren sind. Was den Protestanten als pietätlose Zurschaustellung galt, war den Katholiken die Verheißung der himmlischen Herrlichkeit.

Aus Glas, Draht, Papier und Pappe schuf Frater Adalbert in Waldsassen strahlende Kunstwerke: Hier ruht der heilige Maximus auf dem Apostelaltar.
Waldsassen, Stiftsbasilika, Maximus © Philipp Schönborn, München
Aus Glas, Draht, Papier und Pappe schuf Frater Adalbert in Waldsassen strahlende Kunstwerke: Hier ruht der heilige Maximus auf dem Apostelaltar.

Mit der Gegenreformation – und einem Zufallsfund – wurde das Wetteifern um Reliquienschätze neu angekurbelt. Im Jahr 1578 brach an der Via Salaria vor den Toren Roms ein Weinberg ein und gab den Eingang in eine vergessene Katakombe frei. Die Wiederentdeckung der unterirdischen Grabkammern löste einen wahren Boom aus: Die dort gefundenen Skelette wurden pauschal zu frühchristlichen Märtyrern erklärt.

Zwar war beim Konzil festgeschrieben worden, dass alle Reliquien offiziell authentisiert werden müssten, doch nahmen es die päpstlichen Sekretäre bei der unübersichtlichen Menge von Gebeinen nicht so genau mit ihren Zertifikaten. Anonyme „Blutzeugen“ wurden kurzerhand auf erdachte Namen getauft und bald als Katakombenheilige hoch gehandelt.


Klöster und Stifte, vereinzelt auch Pfarreien in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz scheuten keine Kosten und Mühen, um in den Besitz der prestigeträchtigen Großreliquien zu gelangen. Gerade dort, wo Kirchen neu errichtet wurden, konnte man sich durch einen Heiligen Leib einen eigenen Patron sichern oder gar zu einem wichtigen Kult- und Wallfahrtsort aufsteigen. Schweizergardisten, Mönche und Pilger, aber auch spezialisierte Händler fungierten als Vermittler und Boten, um die heiligen Gebeine in einem „Kistlein“ oder gleich via Massenbestellung über die Alpen zu befördern.

Vitalianus und Gratianus flankieren das Tabernakel auf dem Marienaltar.
Waldsassen, Stiftsbasilika, Marienaltar © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Vitalianus und Gratianus flankieren das Tabernakel auf dem Marienaltar.

Doch mit dem Transport allein war es noch lange nicht getan. Von entscheidender Bedeutung war die würdige Fassung des Heiligen Leibs, die meist in Frauenklöstern vorgenommen wurde. Manche Konvente spezialisierten sich auf diese anspruchsvollen Arbeiten.


Die Gebeine wurden wieder zu einem Skelett zusammengefügt und „bekleidet“. Oft blieben der Schädel und Teile der Knochen sichtbar, manchmal wurde der Kopf aber auch mit Wachs oder Pappmaché nachmodelliert und mit Glasaugen versehen. Viele Gerippe wurden mit transparentem Stoff überzogen oder in ganze Körper aus Wachs oder Holz eingelegt.


Bei der Ausstattung kamen feinste Stickereien und filigrane Verzierungen aus Gold- und Silberdrähten zum Einsatz, in die künstliche Perlen, Metallplättchen und folierte Glassteine in unterschiedlichen Farben, manchmal sogar echte Edelsteine hineingewoben wurden. Teilweise waren auch Goldschmiede an der Fassung beteiligt.

Bei männlichen Heiligen war eine festliche Gewandung sehr beliebt, die an römische Feldherren erinnerte: Mit Brustpanzer, manchmal Schwert, Lorbeerkranz oder Palme als Siegeszeichen wurden diese Menschen, die angeblich für ihren Glauben gestorben waren, als Triumphatoren verherrlicht.

In Siegerpose mit Lorbeerzweig: Vitalianus auf dem Marienaltar
Waldsassen, Stiftsbasilika, Vitalianus © Philipp Schönborn, München
In Siegerpose mit Lorbeerzweig: Vitalianus auf dem Marienaltar

Mithilfe von Stützgerüsten musste eine passende Pose gefunden werden. Man drapierte die Leiber mal stehend, mal liegend oder halb aufgerichtet. Durch die ‚lebendige‘ Haltung sollte eben nicht der Tod, sondern die glorreiche Auferstehung der Märtyrer ins Bild gesetzt werden. Mit einfachen Mitteln, aber ungeheurer Kunstfertigkeit und enormem Zeitaufwand hergestellt, waren diese Klosterarbeiten selbst ein Akt frommer Demut und Andacht.


Als letzte Ruhestätte der Katakombenheiligen waren die Altäre ausersehen: Hier wurden sie den Gläubigen in gläsernen Schreinen präsentiert. Eine Schale oder ein Kelch mit getrocknetem Blut diente als Zeichen des erlittenen Martyriums. Manchmal vergingen Jahre bis zur endgültigen Aufstellung in der Kirche, die dann umso prunkvoller inszeniert wurde. Die feierliche Translation der bedeutenden Großreliquien beging man mit Böllerschüssen und Trompeten, mit Prozessionen und eigens erdachten Mysterienspielen.


Die Schreine waren mit hölzernen Verschlusstafeln versehen, da die Heiligen Leiber ursprünglich nur zu bestimmten Zeiten des Kirchenjahres gezeigt wurden. Auf den bemalten Platten der Alltagsansicht waren meist Szenen aus der Leidensgeschichte des Heiligen dargestellt oder auch das exakte Abbild des geschmückten Skelettes.

In den Michaelsaltar ist der Heilige Leib des Theodosius integriert.
Waldsassen, Stiftsbasilika, Michaelsaltar © Philipp Schönborn, München
In den Michaelsaltar ist der Heilige Leib des Theodosius integriert.

Wie diese besonderen Reliquien nicht nur in den Altar, sondern in das Gesamtkunstwerk des barocken Kirchenraums integriert wurden, lässt sich bis heute wunderbar im oberpfälzischen Waldsassen nachvollziehen. Die ehemalige Zisterzienserklosterkirche kann mit der imposantesten Sammlung Heiliger Leiber nördlich der Alpen aufwarten: Zehn Exemplare sind hier auf die Seitenaltäre verteilt.


Der erste vollständige Leib, der aus der Calixtus-Katakombe stammende Deodatus, kam durch Vermittlung eines Regensburger Domherren bereits 1688 nach Waldsassen. Er war für den Neubau der Klosterkirche bestimmt – deren Weihe erfolgte 1704. Erst viele Jahre später wurden die Gebeine des Deodatus durch die Gattin eines Amberger Beamten gegen ein Honorar gefasst und dann in den Bernhardsaltar eingefügt.


Zwischen 1734 und 1744 ließ Abt Eugen Schmid fünf weitere Märtyrer überführen. Seine Nachfolger komplettierten den Bestand bis ins Jahr 1765. Für die Einkleidung all dieser Leiber zeichnete ein äußerst talentierter Laienbruder verantwortlich: Adalbert Eder, ein gelernter Seiler, entwickelte einen eigenen Stil und wurde dafür hoch angesehen. Seine aus unzähligen Ornamenten kunstvoll zusammengesetzten Gebilde konnten es optisch mit höfischen Pretiosen aufnehmen.

Schaurig-lässig drapiert: der Katakombenheilige Theodosius
Waldsassen, Stiftsbasilika, Theodosius © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Schaurig-lässig drapiert: der Katakombenheilige Theodosius

Diesem bedeutenden Waldsassener Reliquienschatz trug man ab 1756 mit dem Heilige-Leiber-Fest Rechnung: Der Ordensgeneral der Zisterzienser hatte genehmigt, dass es fortan am ersten Sonntag im August gefeiert werden sollte. Zehn Jahre später erfolgte – nach dem Erwerb der letzten beiden Skelette – schließlich die den Kirchenraum bis heute bestimmende Präsentation der Heiligen Leiber in der Stiftskirche.


Zu jener Zeit ebbte die Welle der Translationen allerdings wieder ab. Zwar waren schon im Mittelalter ganze Skelette überführt worden, doch hatte die Verehrung der Heiligen Leiber im Barockzeitalter eine heute kaum mehr zu erahnende Blüte erlebt. Mit der Aufklärung geriet der Kult zunehmend in die Kritik, zumal die zweifelhafte Echtheit nun nicht mehr herunterzuspielen war. Die Säkularisierung zahlreicher Klöster tat ein Übriges. Die letzten Erhebungen erfolgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dann ging auch die katholische Kirche auf Distanz zu den nie ernsthaft katalogisierten Katakombenheiligen. Mancher verschwenderisch eingekleidete Leib fristete sein irdisches Dasein nun in einer dunklen Abstellkammer. 


Wo die vermeintlichen Blutzeugen erhalten blieben, schätzt man sie als sakrale Schmuckobjekte längst wieder wert. Unbestritten ist, dass sie authentische Zeugen barocker Frömmigkeit und Heilssehnsucht sind. Sogar aus dem kirchlichen Leben sind sie nicht ganz verschwunden: In Waldsassen und in Roggenburg etwa, wird immer noch das Heilige-Leiber-Fest gefeiert.       


Bettina Vaupel



Die Stiftsbasilika von Waldsassen dient seit 1803 als katholische Stadtpfarrkirche. 2017 wurde die mehrjährige Sanierung des Innenraums abgeschlossen. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat die Maßnahmen an dem bedeutenden Kirchenbau des Hochbarock großzügig unterstützt.



Öffnungszeiten

St. Johannes Evangelist, Basilikaplatz 6, 95652 Waldsassen, Tel. 09632 1387, geöffnet: 7–19, im Winter –18 Uhr (außer zu Gottesdiensten), Führungen: bis 31.10. Di 15, Fr 11.30 Uhr


www.pfarrei-waldsassen.de



Literatur

Stiftsbasilika Waldsassen. Raumgestaltung – Bewahrung – Instandsetzung.

Hrsg.: Kirchenstiftung Waldsassen.

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2017. ISBN 978-3-7917-2937-4, 188 S., 18 Euro 





 

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