Denkmale in Gefahr Dezember 2017
Das kleine Backsteingebäude befindet sich in einem beklagenswerten Zustand.
Die kleine Stadt Pasewalk im Nordosten Deutschlands ist eine vom Schicksal gezeichnete Stadt. Mehrfach wurde der im 12. Jahrhundert gegründete Ort, eingebettet in die idyllische Hügellandschaft Vorpommerns, im Laufe seiner Geschichte dem Erdboden nahezu gleichgemacht. Nur ein paar Gebäude haben Stadtbrände, Verwüstungen und Kriegszerstörungen überstanden. Das einzige profane Bauzeugnis aus dem Mittelalter ist heute – neben Teilen der Stadtmauer – das Elendenhaus.
Es zählt zu den wenigen versprengten Baudenkmalen, die wie Inseln im Meer der nüchternen Nachkriegsarchitektur liegen und der Geschichte des Ortes ein Gesicht geben. Hervor sticht dabei die imposante Marienkirche. Ihr knapp 80 Meter hoher Turm dominiert die Stadtsilhouette bis heute. Anhand dieser mächtigen gotischen Backsteinkirche erahnt man, welche Rolle der Ort im Mittelalter gespielt hat: Einst war Pasewalk eine wohlhabende Hansestadt. Getreidehandel hatte sie reich gemacht. Doch der Dreißigjährige Krieg zerstörte die mittelalterliche Ackerbürgerstadt, der Zweite Weltkrieg die wiederaufgebaute barocke Altstadt mit ihren zahllosen Fachwerkhäusern.
Umso mehr legen die Pasewalker Wert auf die historischen Gebäude, die
ihnen geblieben sind. Das gibt Hoffnung auch für das Elendenhaus. Das kleine
Backsteingebäude, das sich an die südliche Mauer des großen Kirchhofs von St.
Marien schmiegt, befindet sich – nomen est omen – in einem sehr beklagenswerten
Zustand. Der schlechte Baugrund auf dem ehemaligen Friedhof und ein
mangelhaftes Fundament haben über die Zeit fingerdicke Risse verursacht. Um zu
verhindern, dass sich das Mauerwerk weiter spaltet, wurde in der Vergangenheit
eine Stahlverankerung eingebaut, die mittlerweile stark korrodiert ist. Nicht
nur Rost und Risse können der Standsicherheit des mittelalterlichen Denkmals
gefährlich werden, sondern auch die Feuchte, die durch die vielen defekten
Fugen und Ziegel dringt. Trotzdem gab nicht das besorgniserregende Schadensbild
dem mittelalterlichen Haus in der Kirchhofstraße seinen Namen. Er rührt
vielmehr aus seiner Nutzungsgeschichte.
Vermutlich hat die an die Marienkirche angegliederte Pasewalker Elendenbruderschaft das Gebäude um 1400 errichtet, um obdachlosen Fremden, die im mittelalterlichen Sprachgebrauch als Elende bezeichnet wurden, Unterkunft zu bieten. Die Elendsbrüder kümmerten sich um deren leibliches Wohl, widmeten sich der Krankenpflege, sorgten im Todesfall auch für ein christliches Begräbnis. Verarmte und Kranke wurden damals meist von ihren Familien aufgefangen. In der Fremde war das nicht möglich. Die Elendengilden und -bruderschaften errichteten vielerorts Gebäude für die Armen- und Krankenpflege. Allein in den märkischen Städten des Mittelalters sind über 60 Elendenhäuser nachweisbar, etwa in Prenzlau, Treuenbrietzen oder in Jüterbog. Erhalten hat sich nur dieses eine in Pasewalk, was es zu einem Denkmal von überregionaler Bedeutung macht.
Nach Auflösung der Bruderschaften in der Reformation ging das Haus in den Besitz von St. Marien über und diente bis 1563 als Spital. Danach wurde es bis ins 20. Jahrhundert als Wohnung für Kirchenbedienstete und im Anschluss als Gemeindesekretariat und Büro des Kantors genutzt. Nun steht es leer. Die bedrohliche Lage des alten Hauses zwang die Pfarrsekretärin Birgit Rakow und den Kirchenmusiker Julius Mauersberger in diesem September zum Auszug. Birgit Rakow, die gute Seele der Gemeinde, hatte dort knapp 20 Jahre ihren Arbeitsplatz. Auch wenn es an allen Ecken und Enden ungemütlich zog und die Wände feucht waren, schätzt sie das alte Gebäude immer noch sehr und hofft, dort so schnell wie möglich wieder einziehen zu können.
So klein das Elendenhaus ist, so groß sind die Rätsel, die es aufgibt.
Wie etwa hängt die profane Nutzung mit der Fassadengestaltung zusammen, die
recht ungewöhnlich ist? Auf jeder Gebäudeseite sieht die Fassade anders aus.
Zahlreiche Nischen und Blenden mit unterschiedlichen Bogenformen, Breiten,
Tiefen und Höhen gliedern den Wandaufbau, ohne eine Ordnung erkennen zu lassen.
Auch nimmt das Äußere des Elendenhauses nicht Bezug auf die Stockwerkeinteilung
im Inneren. Die mit einem bauhistorischen Gutachten beauftragten
Wissenschaftler André Lutze und Dirk Brandt erforschen, woran sich die
Elendenbruderschaft damals orientierte.
Die zweizonige, reiche Fassadengliederung wie auch die Ost-West-Ausrichtung verweisen auf einen Sakralbau. Denkbar wäre, so vermuten die Bauhistoriker, eine Kombination verschiedener Nutzungen: Bei dem erhaltenen Backsteinbau mag es sich ursprünglich um die Kapelle der Elendenbruderschaft gehandelt haben, der sich unmittelbar westlich ein hölzernes Gebäude als „Armenbude“ anschloss. Denn die zweigeschossige Unterteilung im Inneren stammt erst aus dem 18. Jahrhundert – im Ursprungsbau hat es vielleicht keine gegeben, sondern nur einen einzigen hohen Raum. Außerdem verfügt die Westwand über Maueranschlüsse, die auf eine geplante Verlängerung des Gebäudes hindeuten. Die Kombination aus profanem Herbergs- bzw. Krankensaal und Sakralraum ist durch die großen mittelalterlichen Hospitäler bekannt, wie etwa die in Lübeck oder Stralsund.
Auch wenn Birgit Rakow und Julius Mauersberger nur ungerne das Elendenhaus verlassen hatten, so begrüßen sie die Chance, dass mehr über dieses interessante Bauwerk in Erfahrung gebracht werden kann. Noch weiß keiner, was sich unter dem Innenputz und im zugeschütteten Keller verbirgt oder welche der Nischen einst Öffnungen waren. Neben der weiteren Erforschung benötigt das Denkmal aber vor allem eines: eine umfassende Sanierung. Für eine dauerhafte Sicherung ist das Fundament zu unterfangen, und an allen Gebäudeseiten müssen neue Zuganker eingebracht werden. Die großen Risse sollen verpresst, die Fugen ausgebessert und die defekten Ziegel ergänzt werden.
Noch kann mit den Arbeiten nicht begonnen werden. Dazu fehlen der evangelischen Kirchengemeinde in Pasewalk die erforderlichen Mittel. Denn neben dem Elendenhaus hat sie mit der großen mittelalterlichen Marienkirche ein weiteres wertvolles Bauwerk zu betreuen, für das sie in den letzten Jahren viel Geld und Mühe aufgebracht hat. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (DSD) half ihr dabei und fördert aktuell die Sanierung der Südfassade. Dennoch macht der 1.500 Mitglieder zählenden Kirchengemeinde die Doppelbelastung arg zu schaffen. Sie ist dankbar für jede Unterstützung.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern und der Pommersche Evangelische Kirchenkreis haben ihr erfreulicherweise für 2018 eine Förderung in Aussicht gestellt. Trotzdem klafft noch eine große finanzielle Lücke.Daher entschloss sich die Stiftung, für dieses kleine, aber besondere Denkmal in Not verstärkt um Unterstützung zu bitten: Es geht hier um die Erhaltung eines Bauwerks der norddeutschen Backsteingotik, das nicht nur für Pasewalk, sondern auch für die Architektur- und Sozialgeschichte von wesentlicher Bedeutung ist. Es ist zu hoffen, dass nun die Monate gezählt sein werden, bis mit der Sanierung begonnen werden kann und neue spannende Erkenntnisse über das Elendenhaus in Pasewalk ans Tageslicht kommen.
Amelie Seck
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