Städte und Ensembles Nach 1945 Februar 2017 S
Großformatige und mit wenigen Linien in den Putz gekratzte Bilder - die sogenannten Sgraffiti - waren in den Nachkriegsjahren besonders beliebt. Noch immer zieren sie unzählige Fassaden der 1950er- und 1960er-Jahre
Wer aufmerksam durch die Straßen geht, findet sie: großformatige, mit wenigen Linien an die Fassaden der Häuser gezauberte Bilder – mal lebhaft geschwungen, mal streng geometrisch, oft von kontrastierender Farbigkeit. Mit ihrer reliefartigen Struktur beleben sogenannte Sgraffiti die Oberflächen der Wände und verleihen ihnen Tiefe.
Die unbeschwerten Dekorationen erlebten in der Nachkriegsära ihre Blüte – an privaten wie an öffentlichen Gebäuden. Ausgeführt wurden sie in einer bis auf die Antike zurückgehenden Kratzputztechnik, die nördlich der Alpen schon einmal im 16. Jahrhundert, von Italien aus verbreitet, en vogue war. Sgraffiti entstehen, indem verschiedenfarbige Putzschichten auf einer Wandfläche übereinander aufgetragen werden. Mit speziellen Eisenwerkzeugen, Nägeln oder Schlingen kratzt man sie im noch feuchten Zustand in unterschiedlicher Tiefe wieder ab, sodass die jeweils darunter liegenden Farbebenen zum Vorschein kommen. Wie bei der Freskomalerei werden die Sgraffiti trotz ihrer einfachen Motive und der klaren Linien vorher genau entworfen, weil sie rasch in den noch feuchten Putz gearbeitet werden müssen. Diese Technik lässt sie wie fragile Zeichnungen wirken, macht sie aber gleichzeitig robust und extrem witterungsbeständig.
Leicht abstrahierend und an Linolschnitte erinnernd, zeigen die Darstellungen der 1950er- und 1960er-Jahre oft menschliche Gestalten, Pflanzen und Tiere. Die auf wenige Details reduzierten Bilder offenbaren eine idyllische Welt. Sie wird von Menschen belebt, die die schwierigen Jahre der jüngsten Vergangenheit ungebrochen überstanden haben. An die Wände komponiert, sind die Figuren im Schutz der Familie und im Einklang mit sich selbst und der Natur. Sie genießen, als Teil einer intakten Arbeitswelt, Freizeit und Sport.
Bis sie nach und nach von glänzenden Keramikmosaiken und Reliefs abgelöst wurden, waren die preisgünstigen Bilder in Sgraffito-Technik zu Beginn der 1950er-Jahre vor allem Kunst-am-Bau. Damals entstanden sie, einer entsprechenden Verordnung folgend, fast ausnahmslos an öffentlichen und staatlich geförderten Gebäuden – meist an den einheitlich entworfenen und in Massen errichteten genossenschaftlichen Siedlungsbauten. Neben Wohnhäusern zieren sie Kindergärten, Schulen, Theater, Kultur- und Krankenhäuser. Selbst an Fassaden der Kirchen fanden Putzbilder eine Heimat.
Die 1950 neu bekräftigte Kunst-am-Bau-Richtlinie geht bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurück. Die Sgraffiti waren in den Dreißigerjahren ein gerne verwendetes Ausdrucksmittel. Als politisch instrumentalisierte Bilder standen sie im Dienst der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Sicht des Menschen. Die Wanddekorationen hatten die Funktion, einzelne Architekturglieder zu betonen.
Nach 1945 markieren die Fassaden-Sgraffiti einen sichtbaren Bruch. Durch eine neue Leichtigkeit von Form und Inhalt zelebrieren sie – vor allem in der Bundesrepublik – die zurückgewonnene Freiheit. Sie haben sich von der Baustruktur gelöst und jede gliedernde Funktion aufgegeben. Sie heben nicht mehr bestimmte Architekturteile hervor, sondern schweben als scheinbar schwereloser Schmuck an den zu Bildträgern reduzierten Wandflächen. Auf den ersten Blick scheinen die unverbindlichen Darstellungen nicht mehr zu sein als rein ästhetische Applikationen. Eine Kunst, die weder weh tut, noch anecken möchte, angepasst an den Geschmack der breiten Masse. Genau dies ist kurz nach der Zeit des Nationalsozialismus die Absicht: In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren sollen die Sgraffiti, zumindest in der Bundesrepublik, den öffentlichen Raum frei von politischer Propaganda halten, während sie in der DDR, politisch motiviert, eine Hymne auf die Werktätigen anstimmen.
In beiden Teilen Deutschlands führen sie einen intakten Alltag und einen ungetrübten Aufbauwillen vor Augen und lassen die dargestellten Menschen lebensbejahend in die Zukunft schauen. Häufig erinnern die Sgraffiti an die im Krieg verlorengegangene historische Stadtsilhouette. Solche Andenken sind nicht nur Schmuck. In der Zeit des Wiederaufbaus boten sie Halt und Identität.
Insbesondere lokal ansässige Künstler, die auch Arbeiten für Interieurs wie Gemälde, Skulpturen und Grafiken schufen, verewigten sich mit Sgraffito-Bildern an den Häusern. Den oft gleichförmig aussehenden Wohnbauten verhalfen sie – genauso wie mit anderen Schöpfungen der Kunst-am-Bau – zu ein wenig Individualität.
Als vielleicht verkannte Zeugnisse einer wichtigen Episode unserer Kulturgeschichte verschwinden in jüngster Zeit die in den Putz gekratzten Bilder mehr und mehr von den Fassaden. Denn oft, wie die Häuser selbst, nicht unter Denkmalschutz stehend, werden sie mit der Architektur abgerissen oder unter dicken Wärmedämmungen versteckt. Nicht wenige unsensibel renovierte Gebäude aus der Nachkriegsära wurden ohne die lebensfrohen Figuren zu gesichtslosen Baukörpern. Daher regt sich Widerstand: Vielerorts haben Freunde der Kunst-am-Bau, Heimatpfleger, private Initiativen und Hausbewohner den Wert der Sgraffiti erkannt und wollen ihre liebgewonnenen Kunstwerke nicht so einfach aufgeben. Dank des Engagements konnte so manches Kratzbild vor dem Untergang gerettet und sogar restauriert werden. Wenn es auch nicht möglich war, alle an ihrem ursprünglichen Ort zu bewahren – in manchen Fällen wurden sie abgenommen und einzeln neu präsentiert – so hat man ihnen dennoch eine Zukunft gegeben. Ein zweites Anliegen der Sgraffiti-Liebhaber ist, andere Menschen für die Schönheit dieser Kunst zu begeistern. Sie spüren diese Werke auf, dokumentieren sie und machen sie, beispielsweise im Internet, bekannt.
Die Sgraffiti sind ein bescheidenes Kulturerbe. Doch gerade dadurch verkörpern sie ganz den Geist ihrer Entstehungszeit und haben viel über die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen zu erzählen.
Lassen Sie Ihren Blick über Fassaden gleiten, dann werden Sie sie entdecken! Denn unsere Dörfer und Städte bergen noch immer viele dieser unscheinbaren Schätze, die als Kunst-am-Bau draußen und sogar ganz umsonst bewundert werden können.
Julia Ricker
Initiativen für Sgraffiti
• Seit 2007 dokumentiert der Arbeitskreis Kunst im öffentlichen Raum in Fürth Werke aus der Nachkriegszeit und konnte in den letzten Jahren mehrere Arbeiten, unter ihnen Sgraffiti, vor der Zerstörung retten: www.fuerthwiki.de, Stichwort: Nachkriegskunst
• Der Kreisheimatpfleger des Landkreises Kronach Dr. Robert Wachter hat ein Pilotprojekt für die Erfassung der Kunst am Bau in seinem Landkreis gestartet. Auf seine Initiative hin wurden bereits Werke der Kunst-am-Bau bewahrt und restauriert. kronach@t-online.de
• Auf der Seite www.philipp-dott.de sind Arbeiten des Koblenzer Künstlers Philipp Dott zusammengestellt.
• Unter www.kunstlexikonsaar.de kann man unter dem Stichwort Öffentlicher Raum nach Sgraffiti im Saarland recherchieren.
• Die Seite www.artibeau.de zeigt Kunst am Bau im Raum Bochum, auch dort lässt sich nach Sgraffito recherchieren.
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
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Liebe Frau Ricker!
Ihr Beitrag zu den Sgraffiti als Kunst-am-Bau in den 50er- und 60er-Jahren hat mich sehr gefreut. Ich finde es dringend notwendig, diese Kunstrichtung, die in
den 50ern wiederbelebt wurde und die so typisch ist für diese Zeit ist, im
Gedächtnis der Älteren und in der Wahrnehmung der jüngeren Generationen
zu erhalten. Mein Vater, der Maler Hans Meinke, freischaffender
Künstler (07.12.1907-29.12.1988), hat hier im Rhein-Main-Gebiet in der fraglichen Zeit viele Wandbilder, insbesondere Sgraffiti an Privat- und Geschäftshäusern im
Auftrag großer Firmen, Banken und auch von Privatleuten geschaffen.
Leider sind durch Gebäudeabrisse oder Isolationsmaßnahmen viele dieser
Kunstwerke zerstört worden.
Mehr zum Werk von Hans Meinke finden Sie hier http://meinke-hans.de
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