Ikonographie Oktober 2016 M

1.700 Jahre Martin von Tours

Markenzeichen: Mitgefühl

Vor 1.700 Jahren wurde Martin von Tours geboren. Obwohl jährlich gefeiert, wissen viele nicht von der wandelnden Bedeutung des Heiligen im Laufe der Geschichte.

Es ist ein Heiligenfest, das alle Sinne berührt: Über Wochen werden Laternen gebastelt, Lieder geübt und Weckmänner gebacken. Am Martinsabend folgen singende Kinder mit bunten Lampions dem Heiligen auf seinem Pferd, wenn er im Schauspiel seinen Mantel mit einem Bettler teilt.


Anlässlich seines 1.700 Geburtstages widmet sich Monumente Martin von Tours und zeigt Martinsbilder aus Förderprojekten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. An der Schwelle von der Spätantike zum Mittelalter verkörperte Martin einen völlig neuen Heiligentypus. Seine Popularität lebt seither fort – nicht nur in den stimmungsvollen Traditionen und Bräuchen rund um das Heiligenfest. Auch seine Botschaft hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Der heilige Martin teilt seinen Mantel mit dem Bettler. Diese Szene ist nicht nur zum Markenzeichen des Heiligen, sondern auch zum Inbegriff der Nächstenliebe geworden. In St. Martin in Brunau bei Salzwedel hat sich eine besonders anrührende Darstellung aus dem 16. Jahrhundert erhalten. Das hölzerne Kunstwerk brachte dem mittelalterlichen Betrachter das richtige Almosengeben nahe.
Brunau, St. Martin © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Der heilige Martin teilt seinen Mantel mit dem Bettler. Diese Szene ist nicht nur zum Markenzeichen des Heiligen, sondern auch zum Inbegriff der Nächstenliebe geworden. In St. Martin in Brunau bei Salzwedel hat sich eine besonders anrührende Darstellung aus dem 16. Jahrhundert erhalten. Das hölzerne Kunstwerk brachte dem mittelalterlichen Betrachter das richtige Almosengeben nahe.

Demütiger Asket

Als Sohn eines römischen Offiziers wurde Martin vermutlich im Jahr 316 in Pannonien, im heutigen Ungarn, geboren. Mit 15 Jahren trat er in Pavia, wo der Vater als Militärtribun wirkte, in die römische Armee ein – so sah es das Gesetz für Offizierssöhne vor. Martin, dessen Name sich vom Kriegsgott Mars ableitet, war ein Elitesoldat. Er diente zunächst unter Konstantin II., später unter Julian in der kaiserlichen Leibgarde. Schon als Kind dem Christentum zugewandt, ließ er sich vermutlich mit 18 Jahren, während er in Amiens stationiert war, taufen.


Diese wichtigen Lebensstationen überliefert Sulpicius Severus (um 364–420/25) in seiner Vita sancti Martini, die nicht wie üblich nach dem Tod, sondern noch zu Lebzeiten des Protagonisten entstanden ist. Dort ist auch von dem wichtigen Wendepunkt zu lesen, als Martin seinen Militärdienst beendete. In der Legende weigerte sich der Soldat vor dem Kaiser, an einer Schlacht bei Worms teilzunehmen, weil er sein Leben fortan Christus widmen wollte. Die Forschung geht von einem wesentlich unspektakuläreren Verlauf aus und nimmt an, dass Martin zu diesem Zeitpunkt seinen vorgeschriebenen 25-jährigen Militärdienst beendete. Danach zog er sich in eine Einsiedelei zurück, um asketisch zu leben. Schon kurze Zeit später folgten ihm Schüler. Sie verbreiteten seinen Ruf als heiliger Mann, sodass Martin im Jahr 372 auf Wunsch der Bürger von Tours zum Bischof der Stadt erhoben wurde. Selbst im geistlichen Amt lebte er in dem von ihm gegründeten Kloster Marmoutier weiter enthaltsam. Er und die Mönche sahen sich in der Nachfolge Christi, gaben ihren Besitz auf und widmeten ihr Dasein dem Gebet. Martin gestaltete das religiöse Leben in Gallien aktiv mit, mischte sich in kirchenpolitische Fragen ein und gründete weitere Klöster und Pfarreien.

Weitgehend original erhalten, widmet sich im südlichen Chorumgang des Doms von Halberstadt ein ganzes Fenster aus der Zeit nach 1400 der Martinslegende.
Halberstadt, Dom © CVMA Deutschland Potsdam/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Renate Roloff
Weitgehend original erhalten, widmet sich im südlichen Chorumgang des Doms von Halberstadt ein ganzes Fenster aus der Zeit nach 1400 der Martinslegende.

Sulpicius’ Vita sancti Martini ist keine Biographie im modernen Sinn. Neben historischen Fakten übermittelt sie viele legendenhafte Ereignisse und leitet damit den Beginn einer typisch christlichen Literaturgattung ein: der Hagiographie. Sulpicius’ Werk, er verfasste auch Briefe und Dialoge über das Leben des Heiligen, verbreitete die Martinsgeschichte nachhaltig. In den folgenden Jahrhunderten blieb es Grundlage der Martinserzählung, die nur noch geringfügig erweitert wurde. 


In einem ausgefeilten, klassischen Stil zeichnet der Autor, aus verschiedenen Quellen schöpfend, das Bild eines perfekten Heiligen. Anspielungen auf Suetons Kaiserviten lässt er genauso einfließen wie Anklänge an Propheten und Apostel sowie an Wundergeschichten des Neuen Testaments, zum Beispiel Krankenheilungen und Totenerweckungen. In einem genialen Kunstgriff kombinierte Sulpicius diese Bezüge mit einer Neuerung: dem Modell der Askese. Die asketische Lebensführung war als Ideal des Mönchtums bereits in der byzantinischen Vita des heiligen Antonius überliefert. Sie vermittelt die Idee, dass ein demütiges Leben einen alternativen Weg zur Heiligkeit – jenseits des Martyriums – eröffnet. Martin vermochte es jedoch, Antonius zu übertreffen, denn für einen Bischof war diese Lebensweise neu, ja geradezu unerhört. Entsprechend beschwerten sich andere Bischöfe anlässlich der Erhebung in sein Amt: Martinus sei „eine verächtliche Persönlichkeit“. Ein Mann mit „so unansehnlichem Äußeren, mit so armseligen Kleidern und ungepflegtem Haar“ verdiene die bischöfliche Würde nicht. Die Gunst der Bevölkerung hatte Martin aber genau deshalb auf seiner Seite. Denn seinen aristokratischen Amtskollegen war er – so legt es Sulpicius nahe – moralisch überlegen. In einer Phase, in der das Christentum zur Staatsreligion und zur Massenbewegung wurde, passten sich die Bischöfe den Strukturen des römischen Imperiums an, während Martin und seine Anhänger schon damals die alten Ideen bewahren und zur Urkirche zurück wollten.

Das im Kloster Fulda geschaffene Sakramentar ist eines der wichtigsten Werke ottonischer Buchmalerei. Fol. 113r. zeigt rechts den träumenden Martin. In seiner Vision erkennt der Heilige, dass er sein Mantelstück in Wahrheit nicht einem Bettler, sondern Christus gegeben hatte.
Sakramentar aus Fulda © Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, 2 Cod. Ms. theol. 231 Cim., fol. 113r.
Das im Kloster Fulda geschaffene Sakramentar ist eines der wichtigsten Werke ottonischer Buchmalerei. Fol. 113r. zeigt rechts den träumenden Martin. In seiner Vision erkennt der Heilige, dass er sein Mantelstück in Wahrheit nicht einem Bettler, sondern Christus gegeben hatte.

Mit seiner äußeren Erscheinung steht Martin in der Welt der Heiligen allerdings ziemlich alleine da. Denn normalerweise versäumt es keine Heiligenvita, die Schönheit ihrer Hauptperson hervorzuheben. Unser Bild von dem Heiligen spricht eine andere Sprache als die Sulpicius-Legende. Im Mittelalter entstanden und seitdem nicht verändert, ist es zu Martins Markenzeichen geworden. Es fasst auf einen Blick zusammen, für was der Heilige steht.

Barmherziger Ritter

Dargestellt ist der Moment, in dem Martin als Soldat an einem kalten Winterabend vor der Stadt Amiens seinen Mantel teilt. Der junge, edel gewandete Ritter schenkt die Hälfte seines Umhangs einem halbnackten Bettler zu seinen Füßen. Die Szene lebt vom Kontrast zwischen dem schönen Martin und dem Bettler in Lumpen. Sie gilt als Inbegriff der Barmherzigkeit. Ab dem 12. Jahrhundert verbreitet, hat sie allerdings mit dem Heiligen, den Sulpicius entwarf, wenig zu tun. 


Die älteste erhaltene Darstellung in einem im 10. Jahrhundert geschaffenen Sakramentar aus Fulda entspricht noch der Intention des spätantiken Autors. Den heutigen Betrachter mag es befremden, dass Martin ohne Pferd dem Bettler von Angesicht zu Angesicht entgegentritt. Außerdem besitzt die Szene ungewohnte Details. Sie orientieren sich an Sulpicius, bei dem Christus in Martins Traum erscheint: Christus trägt das Gewandstück, das Martin zuvor dem Bettler geschenkt hatte. Ein Schlüsselerlebnis für Martin, der erkannte, dass er im Bettler Christus begegnet war und dass er auf die Gnade Gottes hoffen konnte, weil er Mitgefühl gezeigt hatte. Für ihn Grund genug, sich taufen zu lassen.

An den Mittelschiffpfeilern der Liebfrauenkirche in Oberwesel befinden sich Heiligenbilder aus dem 16. Jahrhundert, die von Stadtansichten hinterfangen sind. Die Darstellung des heiligen Martin verlegt die Szene der Mantelteilung vor die heute noch erhaltene Stadtmauer Oberwesels. Zu sehen ist auch die Martinskirche, deren mächtiger Turm einst zur Stadt¬befestigung gehörte. Stadtmauer und Martinskirche sind Förderprojekte der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.
Oberwesel, Liebfrauenkirche © ML Preiss, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
An den Mittelschiffpfeilern der Liebfrauenkirche in Oberwesel befinden sich Heiligenbilder aus dem 16. Jahrhundert, die von Stadtansichten hinterfangen sind. Die Darstellung des heiligen Martin verlegt die Szene der Mantelteilung vor die heute noch erhaltene Stadtmauer Oberwesels. Zu sehen ist auch die Martinskirche, deren mächtiger Turm einst zur Stadt¬befestigung gehörte. Stadtmauer und Martinskirche sind Förderprojekte der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.

Während Martin in den Bildern der nachfolgenden Jahrhunderte immer mehr erhöht wird, verliert der Bettler seine Würde. In zerrissenen Kleidern ist er oft maßstäblich kleiner als Martin, körperlich versehrt und hat manchmal sogar groteske Gesichtszüge. Dass sich die Szene der Mantelteilung und insbesondere die Figur des Bettlers im Laufe der Zeit – zumindest nördlich der Alpen – so stark wandelte, ist in der mittelalterlichen Gesellschaft begründet. Bis zum 12. Jahrhundert waren die Armen und Bedürftigen ein wichtiger Teil der Gemeinschaft. Wer reich war, konnte Almosen geben und sich dadurch erhoffen, dass seine Sünden erlassen werden. Ein „Geschäft“ auf Augenhöhe. Im Laufe des 14. Jahrhunderts veränderte sich die Einstellung zur Armut. Das Spätmittelalter fürchtete den „starken Bettler“, der in Wahrheit nicht gebrechlich war und Almosen nur aus Faulheit erbat. Nördlich Italiens wurde es zur ikonographischen Routine, den Bettler mit deformierter Gestalt auf hölzernen Krücken darzustellen. Der körperlich beeinträchtigte, schwache und auf dem Boden kriechende Mensch wurde zum Symbol des wahrhaft Bedürftigen. Dem heiligen Martin kam in dieser Konstellation die Rolle zu, als Musterbeispiel für die Nächstenliebe das richtige Almosengeben zu veranschaulichen.


Dass sich der Martinskult in dieser Zeit im gesamten europäischen Raum immer größerer Beliebtheit erfreuen würde, war nach seinem Tod im Jahr 397 nicht abzusehen. Außerhalb von Tours bestattet, beschränkte sich die Verehrung zunächst nur auf die umliegende Region. Sein Amtsnachfolger ließ, obwohl er zu Lebzeiten zu Martins Kritikern gehörte, über seinem Grab eine Kapelle errichten. Im 5. Jahrhundert kam die Verehrung in Gang, als der 11. November – Martins Begräbnistag – in den Festkalender des Bistums aufgenommen und eine neue, Martin geweihte Basilika mit angeschlossener Abtei gebaut wurde. Den Zeichen und Wundern, die sich an Martins Reliquiengrab ereignet haben sollen und die seine Wirksamkeit als Schutzpatron nach dem Tod weiterhin sichtbar machten, widmet Gregor von Tours (538–94), ein weiterer Amtsnachfolger, ganze vier Bücher. Es war aber nicht nur die Stadt Tours, die den Heiligen für sich beanspruchte. Auch das fränkische Königtum wurde auf ihn aufmerksam.

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Schlachtenhelfer

Dem merowingischen König Chlodwig (466–511) kam Martin als Schutzpatron und direkter Verbindungsmann zum Himmel gerade recht. Als erster seiner Dynastie, der zum Christentum übergetreten war, musste Chlodwig seine sagenumwobene Abstammung von heidnischen Göttern aufgeben. Die wertvolle Mantelreliquie, in deren Besitz die Merowinger waren, begleitete als Teil des Schatzes und Rechtssymbol den König von nun an auf den Reisen durch sein Herrschaftsgebiet. Vor allem aber waren der Heilige selbst und die von ihm ausgehende Kraft in dem Gewandstück gegenwärtig.


Als die Dynastie der Karolinger die Merowinger ablöste, übernahm sie den Martinskult, um trotz des Machtwechsels Kontinuität zu demonstrieren. Sie brachten den merowingischen Königsschatz mitsamt der Mantelreliquie – die sogenannte cappa – in ihren Besitz. Das kostbare Heiltum blieb selbstverständlich nicht unbewacht. Ein eigens dazu abgestellter Geistlicher begleitete die Mantelreliquie im Tross des von Pfalz zu Pfalz ziehenden Hofstaats. Des Lesens und Schreibens mächtig, übernahm er neben der Seelsorge auch Verwaltungsaufgaben und stellte Urkunden aus. Abgeleitet von der cappa war er der cappellanus. Die Reliquie gab dann der Gemeinschaft der Geistlichen am Hof den Namen Hofkapelle und entsprechend war der Ort, an dem sie verwahrt wurde, die Kapelle.

Im Martinsmünster in Fischbachau würdigen die Malereien des Mittelschiffs den heiligen Martin. 1737/38 von dem Ingolstädter Melchior Puchner geschaffen, sparen sie die Mantelteilung aus. Beim Bild der Krankenheilung zeigt sich, dass Martin nicht nur barmherzig war, sondern – wie Christus – auch Wunder bewirkte.
Fischbachau, Martinsmünster © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Im Martinsmünster in Fischbachau würdigen die Malereien des Mittelschiffs den heiligen Martin. 1737/38 von dem Ingolstädter Melchior Puchner geschaffen, sparen sie die Mantelteilung aus. Beim Bild der Krankenheilung zeigt sich, dass Martin nicht nur barmherzig war, sondern – wie Christus – auch Wunder bewirkte.

Die Frankenkönige zogen sogar mit der cappa des heiligen Martin in die Schlacht, auf dass ihre Feldzüge siegreich endeten. Als Patron sollte er das Heil des Reiches und das Wohl der Dynastie garantieren. Vor dem Kampf rief das Heer den Heiligen im Gebet auf und führte sein Bild auf Bannern mit ins Feld. Dass Martin selbst Soldat war, spielte wohl eine untergeordnete Rolle. Wichtig waren vielmehr die Wirksamkeit seiner Reliquien und sein damit verbundenes Prestige als Schutzheiliger. Daher hefteten sich nicht nur königliche Soldaten, sondern auch Fürsten, Klöster und die Stadt Tours sein Bild in Kriegszeiten auf ihre Fahnen und hofften auf seine Unterstützung.


Mit den Ottonen, die im Heiligen Römischen Reich den Karolingern als Herrscherdynastie folgten, wechselte auch der Schutzpatron. Mauritius wurde zum Reichsheiligen und mit ihm die Heilige Lanze Unterpfand des Sieges, während Martin in Frankreich dem heiligen Dionysius Platz machte. Trotzdem blieb Martin in den folgenden Jahrhunderten ein beliebter Heiliger. Man erinnerte sich nun auch wieder an seinen, von Sulpicius beschworenen Pazifismus. Das Martinsgrab in Tours überstand die Zeiten dagegen nicht ohne Schaden. Während der Hugenottenkriege im 16. Jahrhundert wurde die alte Basilika Saint Martin beinahe vollständig zerstört und geplündert – die Ruine verfiel nach der Französischen Revolution. Als 1860 die Reste des Martinsgrabes wieder zum Vorschein kamen, entschloss man sich zum Bau einer neuen, 1925 geweihten Kirche, die nur noch wenige Körperreliquien des Heiligen birgt. Sein Mantel scheint indes in den Untiefen der Geschichte versunken zu sein.

Wie eine Skulptur aus Stein wirkt der energiegeladene heilige Martin am Hochaltar des Klosters Weltenburg. Egid Quirin Asam hat die Figur mit ihrem bewegten Gewand, unter dem die Gans als Attribut herausflattert, in den 1720er-Jahren geschaffen. Der Künstler fertigte dazu ein Stützgerüst aus Eisen und Stroh an, auf das er die Figur aus Stuckmörtel modellierte.
Kloster Weltenburg, Gerald Richter
Wie eine Skulptur aus Stein wirkt der energiegeladene heilige Martin am Hochaltar des Klosters Weltenburg. Egid Quirin Asam hat die Figur mit ihrem bewegten Gewand, unter dem die Gans als Attribut herausflattert, in den 1720er-Jahren geschaffen. Der Künstler fertigte dazu ein Stützgerüst aus Eisen und Stroh an, auf das er die Figur aus Stuckmörtel modellierte.

Laternenzug und Martinsgans

Hat die Perspektive auf den heiligen Martin im Laufe der Zeit mehrfach gewechselt, steht heute wieder der in der Mantelteilung versinnbildlichte Kern seiner Botschaft im Vordergrund. Beim Martinsfest wird sie von vielfältigen Bräuchen begleitet, die bis in das frühe Mittelalter zurückreichen.


Der Martinstag war seit dem 6. Jahrhundert Auftakt zu einer vierzigtägigen, vorweihnachtlichen Fas¬tenzeit und damit eine Zäsur im Arbeitsjahr der Bauern. Die Ernte war eingebracht, das Gesinde entlohnt. Feld und Hof waren winterfest gemacht. Den närrischen Tagen vor Ostern entsprechend bot die Adventsfastnacht am 11. November die letzte Gelegenheit, nach Herzenslust zu feiern. Der erste Wein des Jahres wurde genossen, was Martin in der volksnahen Dichtung den Ruf als Patron der Trinker einbrachte. Gerne reichte man Gänse zum Festschmaus, weshalb später die Gänselegende entstand. Danach verriet das schnatternde Federvieh den bescheidenen Martin, als er sich in einem Stall versteckte, um nicht zum Bischof von Tours ernannt zu werden.


Die Vorläufer der Laternenumzüge waren ursprünglich laute und ausgelassene Heischegänge. Jugendliche zogen mit Fackeln von Haus zu Haus und erbaten Speisen, Alkohol und Holz. Als Dank gaben sie Lieder zum Besten und entzündeten Martinsfeuer. Die leuchtenden Spektakel sind für die Region um Aachen, Köln und Bonn schon für das 15. Jahrhundert bezeugt.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts sind die Martinsfeuer an der Ahr ein liebgewordenes Brauchtum. Wenn in den Weinbergen Fackelschaubilder und große Feuer abgebrannt werden, kommen Besucher von nah und fern.
Ahrtal Tourismus Bad Neuenahr-Ahrweiler e. V. www.ahrtal.de
Seit Ende des 19. Jahrhunderts sind die Martinsfeuer an der Ahr ein liebgewordenes Brauchtum. Wenn in den Weinbergen Fackelschaubilder und große Feuer abgebrannt werden, kommen Besucher von nah und fern.

Ab dem 19. Jahrhundert ging es dann geordneter und disziplinierter zu. Geschlossene Laternen kamen auf, um die Feuerbräuche zu kontrollieren. Zunächst fertigte man sie aus Kürbissen und Rüben, später waren es chinesische Lampions. Vom städtischen Bürgertum initiiert, etablierten sich die Laternenumzüge für Kinder, wie wir sie heute kennen. Die Kleinen sangen, von Blaskapellen begleitet, die alten Heischelieder und neue Martinslieder – das bekannteste von ihnen ist wohl „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind“. Seit der Jahrhundertwende nahm Martin im Spiel selbst zunächst als Bischof, dann als Soldat an den Umzügen teil.


Lange Zeit galten die Feuerbräuche als Relikte germanischer Riten. Das trifft jedoch nicht zu. Die neueste Forschung zeigt, dass die Martinsverehrung von jeher durch Licht begleitet wurde. Bereits Gregor von Tours weiß zu berichten, dass Hilfesuchende am Grab des Heiligen mitunter drohten: „Wenn Du nicht tust, um was wir dich bitten, so werden wir dir keine Lichter mehr anzünden.“ Außerdem waren Lichtfeiern und Lichterprozessionen, wie man sie beispielsweise aus der Osternacht kennt, ein fester Bestandteil der Liturgie. Das Umhertragen von Laternen und Feuer steht vermutlich mit zwei Schriftlesungen aus der Bibel (Luk. 12, 35–40 und Luk. 11, 33–36) in Zusammenhang. Sie stellten, wie auch die Predigten zum Heiligenfest, das Thema Licht über Jahrhunderte hinweg ins Zentrum des Martinstages. Der liturgische Bezug auf das Licht hat sich nach und nach verflüchtigt, wurde aber im volkstümlichen Brauchtum weitergeführt.

Eine Szene des Martinsfensters in Halberstadt zeigt die Traumvision des Heiligen.
CVMA Deutschland Potsdam/Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Renate Roloff
Eine Szene des Martinsfensters in Halberstadt zeigt die Traumvision des Heiligen.

Ähnliches kann für den Weckmann oder Stutenkerl gelten. Ursprünglich war das süße Backwerk ein Brot, das beispielsweise an Kranke verteilt wurde, wenn sie nicht an der Eucharistiefeier teilnehmen konnten. Allmählich in Form gebracht, stellte das Gebäck bis zum 17. Jahrhundert einen Bischof dar, der einen Stab aus Ton trägt. Verspeist wurde es am Martins- und am Nikolaustag. Die Insignie wurde dann, um 180 Grad gedreht, durch eine Tonpfeife ersetzt, während inzwischen rote Lollis die Weckmänner in den Auslagen zieren und man nur mit viel Fantasie in der Süßigkeit den Bischofsstab wiedererkennen kann.


Als markanteste Stelle der Martinsgeschichte blieb die Mantelteilung in der Kunst über die Epochen hinweg bestimmend und wurde zum Erkennungszeichen des Heiligen. Spielte sie im Heiligenkult früher eine eher untergeordnete Rolle, bildet die Szene heute das Zentrum des Festes: Jedes Kind lernt von Martin, was Teilen und Nächstenliebe bedeuten. Er doziert seine Botschaft aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Denn schon im Traum erkannte Martin, dass schenken glücklich machen kann.


Julia Ricker

Martinsbilder in Förderprojekten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz

die Restaurierung


St. Martin, Dorfstraße, 39624 Brunau, Besichtigung auf Anfrage bei Annette Roth, Tel. 039030 2574, roth-brunau@t-online.de und Ingrid Tiedge, Tel. 039030 2288.


Liebfrauenkirche, Liebfrauenstraße 1, 55430 Oberwesel, Öffnungszeiten: ab Montag nach Palmsonntag Mo–So 10–12 und 14–17 Uhr, Winterzeit:
Mo–So 14–16 Uhr, Tel. 06744 94077.
 

Dom, Domplatz 16 a, 38820 Halberstadt, Öffnungszeiten Dom und Domschatz: Mai–Okt. Di–Sa 10–17.30, So und Feiertage 11–17.30 Uhr, Führungen Di–Fr 11.30, Sa, So und Feiertage 11.30 und 14.30 Uhr, Nov.–Apr. Di–Sa 10–16, So und Feiertage 11–16 Uhr, Führungen Sa, So und Feiertage 11.30 und 14.30 Uhr, Tel. 03941 24237, www.die-domschaetze.de.


Kloster Weltenburg, Asamstraße 32, 93309 Kelheim, Öffnungszeiten tägl. Sommer 7–20, Winter 7–18.30 Uhr, Kirchenführungen und Besucherzentrum Tel. 09441 6757500, www.kloster-weltenburg.de.


St. Martin, Kirchplatz 10, 83730 Fischbachau, Öffnungszeiten tägl. 8–17 Uhr, Führungen auf Anfrage, Tel. 08028 90670. 


Michaeliskirche, Michaelisstraße 11, 99084 Erfurt, Kirche und Kirchhof Mo–Sa 11–16 Uhr geöffnet, www.stadtmission-erfurt.de.


Martinsfeuer in 53474 Ahrweiler am 12.11. ab 17.30 Uhr und in 53507 Dernau am 5.11. ab 18 Uhr mit geöffneten Winzerhöfen, Fackelwanderungen und Martinsumzug, www.ahrtal.de, www.rotweinwanderweg.de/feste/sanct-martin-2016
Das Martinus-Weinfest in 67487 Sankt Martin beendet die Weinfestsaison an der südlichen Weinstraße 4.–6.11. und 11./12.11.2016, mit Martini-Markt, Martinsprozession, Laternenumzug und Martinsspiel, Tel. 06323 8031950,
www.sankt-martin.de/home/martinus-weinfest/


In Mainz, Regensburg und Trier werden auf Anfrage Führungen auf den Spuren des heiligen Martin angeboten: DOMPLATZ 5, Domplatz 5, 93047 Regensburg, domfuehrungen@bistum-regensburg.de (Kinder- und Jugendführungen)
Gästeführerverband Mainz e. V., Tel. 0176 30483695, kontakt@mainz-stadtfuehrungen.de, www.mainz-stadtfuehrungen.de
Hans-Georg Reuter (max. 20 Pers.) über die Dom-Information, Liebfrauenstraße 12, 54290 Trier, Tel. 0651 979029-2,www.trierer-dom.de

Literatur


Martin von Tours – Krieger – Bischof – Heiliger. Kolloquium zum 50. Geburtstag von Prof. Dr. theol. Joachim Conrad. 12. November 2011, Universitätsverlag des Saarlandes, Saar-brücken 2011. Im Internet als pdf abrufbar.

Thomas Mertz: Martin von Tours begegnen (Zeugen des
Glaubens). Paulinus Verlag, Trier 2014.


Martinuswege

Der Europarat widmete dem heiligen Martin 2005 einen Kulturweg, der von seiner Geburtsstadt Szombathely bis zu seiner Grabeskirche in Tours führt. In Deutschland kann man auf der Mittelroute nicht nur Martinskirchen, Stationen des Brauchtums und Wallfahrtsorte besichtigen, sondern auch Natur, Kunst und Kultur genießen. www.martinuswege.eu

 

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