Landschaften, Parks und Friedhöfe Kurioses Juni 2015 G
Sprechende Steine, so nennt man auf Amrum die alten Grabplatten auf dem Friedhof von St. Clemens in Nebel. In der Tat erzählen die Inschriften aus dem Leben der Seefahrer aus den letzten Jahrhunderten, darunter manch abenteuerliche Geschichte. Nach Jahren der Verwahrlosung sind sie gerettet und werden sorgfältig gepflegt.
"Mein Leser", so hebt der Text an, "hier ruhet der seel Schiffer Oluf Jensen aus Süddorf, welcher Ao. 1672 den 8. Sept: gebohren ist." Worauf Schiffer Jensen selbst das Wort ergreift und in poetischen Reimen erzählt:
"Mein Leben war ein Wechsel von Freud und Hertzeleid.
Mein Glücke blühte schon in meiner Jugendzeit.
Drauf hemte eine trübe Wolcke des Glückes heitern Schein.
Der Himmel lies mich eine Weile betrübt und traurich sein.
Die Hoffnung ward mir zwar beraubt und gleichwohl hoft ich doch und dachte bey mir selbst: Getrost Gott lebet noch.
O ja: Er lebte noch und lies mich das erfahren
warum ich ihn gebehten in gantzer 12 Jahren.
Gepriesen sei sein Name."
Ein Gedicht, kunstvoll für die Ewigkeit in Stein geschlagen, für ein Leben, das zwar ergeben in die Hände Gottes gelegt, aber dennoch für alle Zeiten den Lebenden präsentiert wurde. Es steht geschrieben auf einem Grabstein auf Amrum, inmitten von über 160 weiteren Grabsteinen: mehr als 160 vergangene Lebensläufe, Schicksale, Familiengeschichten.
Die nordfriesische Insel Amrum gehörte bis 1864 unmittelbar zum Königreich Dänemark. Eine Insel, auf der es im 18. Jahrhundert ganze drei Dörfer mit knapp 150 Häusern gab, bewohnt von 600 Menschen. Über die Hälfte der Männer fuhr zur See. Sie brachen am Petritag im Februar auf und kamen Mitte September zurück - wenn sie denn zurückkamen. Viele Amrumer waren als Commandeure bei den Grönlandfahrten zum Walfang Anfang des 18. Jahrhunderts dabei. Dann wurden Handelsfahrten lukrativer: Bis nach Westindien und Guinea segelten die Schiffe, meist von Hamburg, Holland oder Norwegen aus.
Da liegt Amrum also am Rande der Zivilisation - noch heute braucht die Fähre gute zwei Stunden vom Festland bis zur Insel -, und war vor 300 Jahren trotzdem mitten in der Weltgeschichte.
1724 sticht der 15-jährige Harck Olufs auf der "Hoffnung" in Nantes in See. Er ist, wie es üblich ist, schon seit drei Jahren Schiffsjunge. Es soll die Rückreise nach Hamburg werden. Mit ihm sind zwei Cousins an Bord, das Schiff selbst gehört zur Hälfte seinem Vater Oluf Jen-sen. Für die Familie steht fest, dass Harck wie auch seine Vettern später Kapitän werden würde. Das Schicksal hatte jedoch anderes mit ihm vor:
Auf der Höhe der Scilly-Inseln vor England wird die "Hoffnung" von algerischen Piraten überfallen, geentert und nach Algier verschleppt. Harck wird auf dem Sklavenmarkt verkauft. Sein Vater versucht, ihn freizukaufen - durchaus gängige Praxis in jenen Seefahrertagen. Obwohl er wohlhabender Reeder ist, muss er mühsam das Geld zusammenbringen. Welche Verzweiflung, als sich herausstellt, dass es beim Freikauf eine Namensverwechslung gegeben hat und ein falscher Harck in Bremen aus dem Schiff steigt. Fast 12 Jahre verbringt Harck Olufs im damals osmanischen Nordafrika und macht in den Diensten des Beys von Constantine Karriere bis zum Oberbefehlshaber der Kavallerie. Er hilft der algerischen Armee bei der Eroberung von Tunis und wird zum Dank endlich freigelassen.
Mit 27 Jahren kehrt er nach Amrum zurück. Schnell heiratet er in der Kirche von Nebel die eigentlich schon anderweitig verlobte Antje Lorenzen und macht dabei seine Konvertierung zum Islam rückgängig. Seine "Avanturen" schreibt er nieder, selbst der dänische König lauscht seiner aufregenden Geschichte.
Sein Vetter Hark Nickelsen wird ebenfalls versklavt. Sein Grabstein ist auf Vorder- und Rückseite dicht beschrieben und erzählt:
"Er ward gebohren d. 12 Oct. 1706 zu eben der Zeit wie sein Vater auf dem Meer
verunglückte. Im 12ten Jahr seines Alters fing er an sein Brodt bey der Schiffahrt zu suchen. Ao. 1724 erlitte er die Wiederwärtigkeit, von den türckischen Seeräubern gefangen und an den Bay von Algier verkauft zu werden, welche er 3 Jahr dienete nach welcher Zeit er ihm aus Güte seine Freiheit durch die Purtogiesen erkauffen liess, suchte nachgehends in Holland und Copenhagen sein Glück am letzten Ort gelang es ihm, als Capitain ein Schiff auf Westindien und der Kuste von Guinea zu führen. (…)
Gott segnete seinen Beruf so erwünscht, daß er in seinen besten Alter schon hin-
länglichen Vorraht vor die Zukunft hatte, welche er in einer vergnügte Ehe, mit
einem christlichen und stillen Wandel, sich mit den seinigen zu Nutze machte, bis
Ao. 1770 24. May er mit seinen Vätern, in einem Alter von 63 Jahre, 7 Monath und 12 Tage entschlumerte."
Es folgt ein Gedicht in gebotener Demut zu Ehren Gottes - und ein gutes Stück auch zu Ehren seiner selbst. Was er verschweigt: Die "Wiederwärtigkeit" der Sklaverei hatte ihn selbst zum mit Abstand reichsten Mann von Amrum gemacht. Er betrieb nach seiner Rückkehr im Auftrag einer dänischen Kompanie den äußerst lukrativen Handel mit dem An- und Verkauf von Afrikanern. Es war die Zeit des perfiden Handelsdreiecks zwischen der afrikanischen Westküste, zu der man mit Billigschnaps und Waffen segelte, mit Hunderten Sklaven an Bord in die Karibik aufbrach und von dort mit Zuckerrohr nach Europa zurückkehrte.
Verheiratet war er mit Cousine Marret, einer Halbschwester seines Schicksalsgenossen und Vetters Harck Olufs: Familienbande auf Amrum anno 1770, überliefert auf dem Friedhof von St. Clemens in Nebel.
Nicht zuletzt waren solch aufwendige Grabsteine also auch ein Ausdruck wirtschaftlichen Erfolgs. Ganz abgesehen von dem Steinrohling an sich - meist Wesersandstein aus Obernkirchen -, der in Grabsteinform auf die Insel gebracht und dort von heimischen Steinmetzen behauen wurde, kostete ein gravierter Buchstabe drei Mark Kurant. Ein einfacher Mann kam etwa auf 10 Mark im Jahr, ein Kapitän konnte es auf 900 Mark Kurant während einer Schifffahrtssaison bringen.
Ein Grabstein bedeutete aber auch Erfolg in dem Sinne, dass man es überhaupt wieder zurück in die Heimat geschafft hat. Kapitäne strebten eine Erdbestattung an.
Ein kleines Gemälde im Chor der alten Kirche zeigt, wie der Friedhof von St. Clemens mit seinen vielen begrabenen Geschichten Mitte des 19. Jahrhunderts aussah: Regionaltypisch gruppierten sich die Grabsteine auf einer Wiese unsortiert um das Gotteshaus herum. Die Preußen übernahmen die Insel 1867 nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 und räumten nicht nur verwaltungstechnisch auf: Ein Leuchtturm sollte Sicherheit für die Schifffahrt brin-gen, und der Friedhof erhielt ein ordentliches Wegesystem. Die alten Seefahrer-Steine wurden weggeräumt. An die Friedhofsmauer gelehnt, waren sie in ungünstiger Neigung der salzigen Witterung ausgesetzt. Algen und Flechten machten manche im Laufe der Jahrzehnte fast unleserlich. Schon 1928 mahnte ein Heimatforscher in seinem Buch über Amrum: "Es muss was passieren."
Das war auch die Erkenntnis der Projektgruppe, die sich 2009 zur Rettung der "sprechenden Steine" zusammentat. Von der Kirchengemeinde beauftragt und in enger
Zusammenarbeit mit der Inselverwaltung kümmerten sich Christa und Michael Langenhan, Frank Hansen und Kurt Tönissen mit großartigem Engagement um die dringend notwendige Restaurierung und Neuaufstellung der 169 Grabsteine und -platten.
Die historischen Grabsteine und -stelen von Amrum sind mit ihren in Stein gemeißelten Weisheiten, Gedichten, zum Teil ganzen Lebensläufen etwas Besonderes und in dieser Häufung einzigartig. Wunderschön sind die Darstellungen von Segelschiffen in den Giebelfeldern. Unschätzbar ist ihr Wert als historische Quelle. Ein gesondert ausgewiesener und gestalteter Teil des Friedhofs beendet seit 2013 die unhaltbaren Zustände früherer Jahre, als Besucher auf der Suche nach den erzählenden Steinen auf frischen Grabstellen herumliefen. Die Grabsteine wurden, soweit möglich, thematisch geordnet und nach dem Plan eines Landschaftsarchitekten aufgestellt. Dass die abenteuererprobte Familie von Harck Olufs einen Sonderplatz erhielt, war selbstverständlich. Es gibt noch einiges zu erforschen auf diesem Hafen der Ewigkeit. Zurzeit widmet sich die rührige Projektgruppe der Aufarbeitung weiterer Friedhofs-Biografien. Manch abenteuerliches Schicksal verbirgt sich nämlich hinter durchaus bescheidenen Worten und würde ohne Hintergrundwissen verloren gehen. Schlicht liest sich diese Grabinschrift: "Georg Hinrich Simons und Wehn Simons. Er hat 30 Jahre als Captain gefahren, 26 Jahre im Ruhestande und 54 ¼ Jahre glücklich mit seiner Frau gelebt."
Dahinter steckt: Mit der Brigg "Frau Magaretha" verunglückte Georg Hinrich Simons im April 1821 an der Ostküste Grönlands im Eis. In zwei Schaluppen ruderte er mit der gesamten Mannschaft zirka 500 Kilometer von Grönland an die Nordküste Islands. Von dort gelangten sie zu Pferd nach Reykjavik und erreichten am 21. Juni 1821 per Schiff endlich wieder die Westküste Schleswigs. Georg Hinrichs gibt uns nur Folgendes mit auf den Weg: "An diesem stillen Grabe, an diesem Leichenstein, da lehne dich am Stabe, da sinkst auch du hinein! Da ruht das Herz ein wenig, doch kurzen Schlummer nur; es blüht einst auf und ewig lebt es auf Gottes Flur."
Tröstende Worte. Die Grabsteine von Amrum sind zumindest der irdischen Ewigkeit ein gutes Stück näher gekommen.
Beatrice Härig
Fast 17 Millionen Dollar. Das ist auch für das Auktionshaus Christie's keine alltägliche Summe. Bei 16,8 Millionen Dollar ist im Mai bei einer Auktion in New York für Nachkriegs- und zeitgenössische Kunst der Zuschlag erfolgt, und zwar für - und das ist ebenso ungewöhnlich - ein Bauwerk. Nicht einmal ein besonders großes.
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
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Interessant, dass Grabsteine früher ausdruck des wirtschaftlichen Erfolgs waren. Ich denke ich werde den Grabstein, den ich in der Zukunft verwenden werde auch aufwendig gestalten. Zum Bespiel war ich immer ein Fan vom Grabsteine gravieren lassen.
Auf diesen Kommentar antwortenDie Gestaltung von Grabsteinen hat sich in der Essenz nur wenig gewandelt. Wie Sie bereits sagen, sind die historischen Grabsteine in Amrum auch von Bildern und von Weisheiten in Form von Gedichten oder Zitaten geprägt. Ich denke, dass dies heute eventuell minimalistischer gehalten wird.
Auf diesen Kommentar antwortenErstaunlich, wie viele Geschichten solche Grabsteine erzählen. Ich finde es interessant, dass sie sogar ein Ausdruck wirtschaftlichen Erfolgs darstellen! Sehr interessant, ich finde es immer faszinierend solche Beiträge zu lesen. Danke!
Auf diesen Kommentar antwortenWow, die Geschichte, dass Harcks Vater statt seines Sohnes die falsche Person zurückkauft, ist so traurig. Der Grund für den Besuch dieser Website ist jedoch, dass die Grabmäle so unglaublich sind. Ich hoffe, dass meine Kinder bei meiner Beerdigung ein ähnlich schönes Grabstein gravieren lassen werden.
Auf diesen Kommentar antwortenIch finde es total schön, etwas privates auf dem Grabmal preis zu geben. Für mich wünsche ich mir einen Grabstein aus robustem Granit. Ich habe auf meinem Lieblingsfriedhof in Hamburg auch schon einen Platz reservieren lassen. Ich formuliere gerade den Text, den ich mir wünsche. Meine Kinder sollen keine Arbeit haben damit.
Auf diesen Kommentar antwortenDas Thema Grabsteinen interessiert mich schon seit Längerem. Ich bin immer auf der Suche nach neuen und interessanten Artikeln und Blogs zu diesem Thema. Es ist super, dass ich diesen Blog gefunden habe. Hier findet man echt viele hilfreiche Informationen.
Auf diesen Kommentar antwortenDanke für diesen tollen Beitrag über die Grabsteine auf dem Friedhof von St. Clemens. Ich stimme zu, dass solche alten Gesteine wahre Monumente sind und sehr geschichtsträchtig. Gern würde ich die Grabsteine selbst mal ansehen und hoffe, dass ich das im Laufe dieses Jahres realisieren kann.
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