Technische Denkmale 1800 Technik Verkehr Juni 2015 E
Sie waren Stars ihrer Zeit. Die französischen Ingenieure, die den legendären Canal du Midi in Südfrankreich gebaut hatten, waren ihren Kollegen in Europa weit voraus, insbesondere bei technischen Wasserbauten. Unter persönlicher Beteiligung von Napoleon sollten sie dessen Machtanspruch auch im Norden des Kaiserreiches mit einem ähnlich kühnen, wenn auch deutlich kleineren Bauwerk festigen.
Bonaparte beauftragte 1804 seinen Chefingenieur Aimable Hageau mit dem Projekt "Grand Canal du Nord". Dieser sollte den Rhein mit dem seinerzeit nördlichsten Seehafen unter französischer Herrschaft in Antwerpen verbinden, um die niederländischen Zölle zu umgehen. Der Kanalverlauf orientierte sich an einer möglichst geringen Anlage von Wasserbauten, an einer ausreichenden Einspeisung von Wasser und an der günstigsten Verteidigungslinie in Richtung Osten. 1806/07 fiel die Entscheidung für die Strecke von Grimlinghausen am Rhein über Neuss bis an die Maas und an die Schelde. 1808 begannen die Bauarbeiten.
Mit zwei Schleusen vom Rhein bei Grimlinghausen wurde der Wasserstand im Kanal angehoben und ab Louisenburg (Gemeinde Straelen, Kreis Kleve) mit sieben Schleusen in Richtung Maastal wieder abgesenkt. Die Obererft und die Niers sollten den Kanal mit Wasser speisen. So entstand an der Kreuzung der Wasserstraße mit der Obererft ein vorher in Deutschland noch unbekanntes technisches Bauwerk, das "Epanchoir". Das französische Verb "s'épancher", wird mit "aus etwas herauslaufen" übersetzt und hat den lateinischen Ursprung "expandere", sich ausbreiten. Die Stadt Neuss nennt es "Entlastungsbauwerk". Hier, am Zulauf der Obererft, wurde es für die Regulierung des Wasserstands im Nordkanal errichtet. Damit sollte sowohl dessen zuverlässige Schiffbarkeit als auch die Wasserversorgung der großen Mühlen am Stadtrand gewährleistet werden. Kein Epanchoir gleicht dem anderen. Das Neusser Exemplar besteht aus zwei festen Überlaufwehren sowie zwei beweglichen Schütztafeln, die an Zahngestängen befestigt sind. Sie können mit Hilfe von Kurbeln gehoben und gesenkt werden und damit den Wasserstand beeinflussen.
Seine Funktion hat das Epanchoir jedoch nie wie ursprünglich geplant ausüben können. Der Bau des Grand Canal du Nord wurde schon Anfang 1811 wieder eingestellt, obwohl 30 der geplanten 160 Kilometer insgesamt weitgehend fertig waren. Denn der Hauptgrund für das Bauprojekt war weggefallen, als Holland am 9. Juli 1810 in das französische Kaiserreich eingegliedert wurde. Zunächst wurde der Kanal noch wenige Jahre als Wasserstraße genutzt, bevor er im Laufe der Jahre teilweise zugeschüttet und auch überbaut wurde. Der Nordkanal ist den Neussern heute vor allem als Bestandteil ihrer Grünanlagen ein Begriff. Die Obererft fließt durch das Epanchoir, ohne dass die Gewässer miteinander verbunden sind. Weil der Fluss unter der angrenzenden Nordkanalallee durch Rohre geleitet wird, ist das Bauwerk nur als eine Art "Staubecken" vor den Schütztafeln erkennbar, das zur Zeit durch Bauarbeiten erweitert wird. Der Nordkanal wird durch Düker geleitet, in denen er die Obererft unterquert.
2009 erinnerte man sich in Neuss anlässlich des Jubiläums zur Einweihung des Epanchoirs vor 200 Jahren an seine Bedeutung. Trotz der Tatsache, dass es teilweise überbaut wurde, sind nicht nur die Anlage, sondern auch Teile der abgeschrägten und abgerundeten Böschungskegel heute noch erhalten. Durch den Abriss eines unmittelbar angrenzenden Gebäudes der Sankt Augustinus Kliniken auf der ehemaligen Nordkanal-Trasse und den Einsatz des Ortskuratorium Neuss der Deutschen Stiftung Denkmalschutz zusammen mit der "Vereinigung der Heimatfreunde Neuss" wurde die Rekonstruktion des Was-serkreuzungsbauwerks in seiner historischen Breite von 22 mal 45 Metern möglich.
Mit Hilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und weiterer Förderer wird das größte technische Bodendenkmal am Niederrhein wieder freigelegt und instand gesetzt. Zur Information der Besucher ist ein Anlaufpunkt geplant. Eine Bereicherung nicht nur für die Neusser, die eine spannende Erweiterung ihres Stadtparks erhalten, sondern auch und ins-besondere für die Geschichte der Ingenieurbaukunst.
Stefanie Kellner
Fördermaßnahme: Gesamtinstandsetzung
Fördermittel: Deutsche Stiftung Denkmalschutz dank der Lotterie GlücksSpirale, NRW-Stiftung
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Auch nördlich der Krickenbecker Seen bieten sich Einblicke in die Arbeiten am Nordkanal. Speziell die Schleuse Louisenburg ist hervorragend erhalten und gut erläutert - immer einen Ausflug wert. Danke für den Artikel zu Neuss!
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