Dezember 2013

Alarmstufe Rot für den Greifswalder Dom

Keine Zeit für Romantik!

Das Schiff und den Turm des Greifswalder Doms durchziehen tiefe Risse. Die Standfestigkeit dieses Wahrzeichens der Ostseestadt muss dringend gesichert werden.

Wer sorgt sich schon um die Großen dieser Welt? Um die, die ihr Gesicht wahren und bei Gegenwind nicht gleich einknicken, sondern sich solange aufrecht halten, wie es irgend geht? Erst einmal niemand. Dieses Schicksal ereilt gleichermaßen Menschen wie die monumentalen Kirchen im Land. Der Dom in Greifswald beispielsweise offenbart seine Schwachstellen nicht jedem. Die kräftig rote Backsteinfassade - ohne einen Hauch von Blässe - täuscht über seinen Zustand hinweg. Als eines der imposantesten Bauwerke der norddeutschen Backsteingotik muss er um das Mitgefühl anderer kämpfen. Er braucht Fürsprecher, Engagierte, die an seiner Stelle Alarm schlagen. Mit seinem hundert Meter hohen Turm dominiert er die Stadt trotz des faulenden Dachgebälks und klaftertiefer Risse. Seine Würde hat er nicht verloren. Er schöpft sie aus der Tradition und einer Geschichte, in der es mit ihm auf und ab ging: Er ist der Mittelpunkt vieler Gemälde des romantischen Malers Caspar David Friedrich, der in Greifswald geboren und im Dom getauft wurde.

Der barocke Turm des Doms dominiert die Silhouette von Greifswald. Er ist knapp 100 Meter hoch. 
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Der barocke Turm des Doms dominiert die Silhouette von Greifswald. Er ist knapp 100 Meter hoch.

Die Bürger der Stadt errichteten ihn zwischen 1275 und 1410 und widmeten ihn dem Heiligen Nikolaus, Schutzpatron der Seefahrer und Kaufleute. 1456 gründete man hier die Greifswalder Universität und erhob die einfache Pfarrkirche zur Kollegiats- und Stiftskirche. Noch heute finden darin Immatrikulationsfeiern und akademische Ehrungen statt. Als der Bischof von Stettin 1945 nach Greifswald zog, um von dort die Landeskirche in Vorpommern zu leiten, wurde die Kirche zum Dom.

1515 und erneut 1650 stürzte der 120 Meter hohe schlanke gotische Turmhelm nach schweren Stürmen ein. Dabei wurden die Nikolaikirche und die Häuser in der Nähe stark beschädigt. Als die Architekten den Turm um 1650 wiederaufbauten, orientierten sie sich an der Stralsunder Marienkirche und den niederländischen barocken Türmen: Die waren weitaus stabiler, da sie aus Kuppeln und Laternen bestehen. Die barocke Spitze trotzte allen Winden und behauptet sich bis heute in unveränderter Form.

Im Inneren ziehen sich Risse durch die Kirche 
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Im Inneren ziehen sich Risse durch die Kirche

Daher sei immer noch vielen Menschen nicht klar, "wie krank der Dom ist, wie gefährlich ihm die Risse in der Ost- und Westseite des Gemäuers werden könnten oder der Schwamm in den Dachbalken", alarmierte der langjährige Dompastor Matthias Gürtler Anfang dieses Jahres die Öffentlichkeit. Er verwies auf die Ergebnisse neuer Gutachten, nach denen die Lage bedrohlich ist. Mehrere Ankerköpfe im Mittelschiff sind nicht mehr intakt, eiserne Beschläge zum Teil gerissen. Wenn nur einer der Zuganker versagt, sind keine äußeren Strebebögen vorhanden, die den Schub aus den Gewölben auffangen und einen Einsturz verhindern könnten. Manche Risse in den Obergadenwänden gehen fast über die gesamte Raumhöhe, und in den Gewölbekappen des Chors ziehen sie sich bis zum Triumphbogen. Obwohl sie vermörtelt wurden, sind die Spalten weiter aufgegangen. Die Bewegung im Mauerwerk ist entgegen aller Hoffnungen nicht abge-klungen. Darüber hinaus existieren meterlange vertikale Risse durch den Turm. Reparaturen am Dach verhinderten das Schlimmste, aber der Hausschwamm und die Kernfäule konnten bisher nicht vollständig behoben
werden.

Dabei schienen die konstruktiven Mängel weitgehend beseitigt. Drei Bauabschnitte hatte man 2011 abgeschlossen. Nun sieht alles ganz anders aus. Die Arbeiten der Restauratoren im Inneren wurden unterbrochen und zurückgestellt, denn sollte nicht bald etwas geschehen, müssten Teilbereiche des Doms "vermutlich gesperrt werden, um Besucher vor herunterfallenden Steinen zu schützen", warnt Gürtler. An der Fassade sind - mit dem Fernglas - desolate Gesimse zu erkennen. Dass sich auch hier der Schwamm breitmacht, sieht man hingegen mit bloßem Auge. Fenster sind undicht, Mauerwerksanker korrodieren, die Fassade verwandelt sich in eine moosgrüne Landschaft.

Pastor Matthias Gürtler (l.) und Dombaukoordinator Stefan Scholz weisen auf den mit Nass- und Kernfäule befallenen Dachstuhl hin. 
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Pastor Matthias Gürtler (l.) und Dombaukoordinator Stefan Scholz weisen auf den mit Nass- und Kernfäule befallenen Dachstuhl hin.

Inzwischen hat der Kirchenkreis eine Stelle für einen Dombaukoordinator eingerichtet. Beim Bauingenieur Stefan Scholz laufen nun alle Fäden des Sanierungsprojekts zusammen. Bisher mussten Pastor Gürtler und der Kirchengemeinderat die Bauplanung selbst voranbringen und Fördermittel beantragen. Sie hatten es bis zum dritten Bauabschnitt geschafft. Die Kosten der für 2013 bis 2016 vorgesehenen Arbeiten belaufen sich insgesamt auf rund fünf Millionen Euro. Geldgeber, darunter die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, haben Zusagen über 3,5 Millionen Euro gemacht. Es wird also eng - trotz der vielen Spenden. Dennoch ist der Glaube von Pastor Gürtler, die Kirche retten zu können, unerschütterlich. Stefan Scholz bemüht sich zusammen mit der Gemeinde und dem Förderverein Dom St. Nikolai zu Greifswald e. V. darum, das fehlende Geld aufzutreiben. Greifswalder Unternehmen und Privatpersonen möchte Scholz finanziell ins Boot holen. Symbolisch werden die 262 Stufen, die den Turm hochführen, zum Verkauf feilgeboten, für 500 Euro das Stück. Die Spendenaktionen sind auf mehrere Jahre angelegt, und Hilfe wird unmittelbar benötigt. Die Gemeinde tut, was sie kann, sie veranstaltet Benefizkonzerte, und auch die Kinder und Jugendlichen packen mit an.

Deutlich zu erkennen sind die Schäden an der Seitentür 
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Deutlich zu erkennen sind die Schäden an der Seitentür

Damit die Kirche und ihre 21 Kapellen, die wertvollen Bilder und Wandgemälde, Epitaphien und Sarkophage instand gehalten werden können, führen Kinder Besucher durch den Dom: Es sind rund 30 Schülerinnen und Schüler, die das Gotteshaus Erwachsenen und anderen Kindern näherbringen. Ihre Dienste sind begehrt. Im Sommer besuchen täglich etwa 500 Menschen den Dom. Dennoch machen diese Einkünfte - auch wenn ihr ideeller Wert unschätzbar ist, weil die Kinder manchem Kirchenfernen die Herzen öffnen - leider nur einen Tropfen auf dem heißen Stein aus. Es müssen alle Kräfte für den Dom mobilisiert werden. Bitte helfen auch Sie!

Es geht um ein Denkmal von nationaler Bedeutung, das viele Gesichter hat: Außen wuchtig, überrascht der Dom im Inneren mit kühler Schlichtheit. Von mittelalterlichem Mystizismus findet sich keine Spur. Der Raum überliefert die romantische Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, die eng verbunden ist mit dem berühmtesten Sohn der Stadt, mit Caspar David Friedrich. Sein Bruder, der Kunsttischler Christian Friedrich zeichnete als der Partner des Architekten Gottlieb Giese für die Holzarbeiten verantwortlich. Nachdem napoleonische Truppen die Kirche 1813-15 als Pferdestall und Magazin genutzt und entweiht hatten, musste St. Nikolai mühsam wieder-hergestellt werden. Dies geschah mit Blick auf den gerade vollendeten Kölner Dom, der als Nationaldenkmal galt. So vermischten sich in Greifswald wie in Köln Politik und Kunst. Das Ergebnis in Vorpommern war ein Kirchenraum, der das Mittelalter klassizistisch-romantisch umdeutete, so wie Gieses Lehrer, Karl-Friedrich Schinkel, es schätzte: Die Romantik nahm die Gotik zum Symbol für eine Blütezeit schöpferischer Volkskraft und Religiosität. Die neugotischen Räume wirken heller, freundlicher und gegenwartsbezogener. Christian Friedrich schnitzte unter anderem die Altarbrüstung, gestaltete die Kanzel, die Taufe, den Orgelprospekt, das Gestühl und die Türen, durchdrungen von den romantischen Ideen seines malenden Bruders. All dies ist glücklicherweise erhalten.

Ehe die Not des Doms so unerwartet akut zutage trat, hatten sich Restauratoren bereits mit dem spannenden Kircheninneren beschäftigt. An ihm lassen sich viele weitere Geschichten ablesen, die mit Kunst und Politik zu tun haben. Seit Ende der 1970er-Jahre, als sich das Klima zwischen evangelischer Kirche und den DDR-Machthabern verbesserte, war eine Sanierung begonnen worden, die erstaunlicherweise ein Hamburger Architekt, Friedhelm Grundmann, realisierte. Material und Baumaschinen kamen zum Teil aus dem Westen. Weil immer weniger Menschen die Gottesdienste besuchten, stellte er im Zentrum des Mittelschiffs einen zweiten Altar auf, um den er das Gestühl von Christian Friedrich neu gruppierte. Unter dem Orgelprospekt installierte er - hauptsächlich für die jedes Jahr im Dom stattfindende Bach-Woche - ein mächtiges hölzernes Musikpodium. Am 11. Juni 1989 war Erich Honecker bei einem Festakt anwesend, als der nach Meinung der Kritiker nun verweltlichte Dom wieder eingeweiht wurde. Es war einer der ganz seltenen Kirchgänge des Staatsratsvorsitzenden, und das kurz vor seinem Sturz.

Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Moosbewachsen sind Teile der Turms am Greifswalder Doms.
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
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Obwohl der vertikale Riss – hier im Dachstuhl sichtbar – „versorgt“ und vermörtelt wurde, reißt er weiter auf.
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
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Der Zuganker ist nicht mehr fest mit der Kirchenschiffwand verbunden.
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
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Die Zuganker sollen die Schubkräfte im Kirchenschiff auffangen, denn es gibt keine Strebebögen am Äußeren des Doms.
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
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Eine Kapelle nach der Freilegung und dem Entfernen der romantischen Umgestaltung des Innenraums
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
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Deutlich treten Schäden an den Innenwänden des Doms zutage.
Greifswald, Dom © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
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Blickt man am imposanten Turm des Greifswalder Doms hoch, sind die Schäden im Sonnenlicht zunächst nicht zu sehen.
 
 
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Moosbewachsen sind Teile der Turms am Greifswalder Doms.
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Obwohl der vertikale Riss – hier im Dachstuhl sichtbar – „versorgt“ und vermörtelt wurde, reißt er weiter auf.
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Der Zuganker ist nicht mehr fest mit der Kirchenschiffwand verbunden.
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Die Zuganker sollen die Schubkräfte im Kirchenschiff auffangen, denn es gibt keine Strebebögen am Äußeren des Doms.
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Eine Kapelle nach der Freilegung und dem Entfernen der romantischen Umgestaltung des Innenraums
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Deutlich treten Schäden an den Innenwänden des Doms zutage.
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Blickt man am imposanten Turm des Greifswalder Doms hoch, sind die Schäden im Sonnenlicht zunächst nicht zu sehen.
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Die Denkmalpfleger setzen sich zum Ziel, wertvolle Elemente aller Epochen im Dom zu bewahren, mittlerweile eine übliche Vorgehensweise. Dabei ist es umso wichtiger, die Kirche zunächst in ihren Grundfesten zu sichern, das heißt, die Zuganker zu reparieren und die raumtiefen Risse zu unterfüttern. Das Augenmerk beim Greifswalder Dom lag häufig auf dem Symbolwert des Raums, der mal romantisch und mal profan verändert wurde. Nun zeigt sich, wie gefährlich es ist, wenn Deutungen wichtiger werden als der Kern und das Fundament der Kirche. Noch ist Zeit zur Umkehr!

Christiane Schillig

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