Kurioses Ikonographie Dezember 2012

Gudows Dorfkirche bewahrt ein seltenes Kunstwerk

Die Madonna auf dem Mond

Mondsichelmadonnen sind ein eigner Bildtypus in der christlichen Ikonographie. In der Dorfkirche des schleswig-holsteinischen Ortes Gudow befindet sich eine Muttergottesfigur aus dem frühen 15. Jahrhundert, die auf einer besonders originellen Darstellung der Mondsichel steht.

Die Madonna in Gudow 
© ML Preiss
Die Madonna in Gudow

Der Vollmond sieht mit seinem runden Gesicht, der fleischigen Nase und den vollen Lippen wie ein gutmütiger Geselle aus. Den ernsthaften Blick seiner großen Augen lockern Stofffalten auf, die so geschickt auf ihn fallen, dass sie Haare und Ohren ersetzen. Sie gehören zum Gewand der Muttergottes, die auf dem Mond steht.

Zu finden ist die Madonna auf dem Vollmond in der Dorfkirche von Gudow in Schleswig-Holstein, nahe der Grenze zu Mecklenburg. Die aus Holz geschnitzte gotische Madonna ist in der mittelalterlichen Feldsteinkirche eines der schönsten und wertvollsten Kunstwerke. Mit einem der Zeit entrückten, zarten Lächeln blickt sie auf das nackte Christuskind in ihren Armen. Auch das Kind lächelt versonnen. Das langgewellte Haar der Maria wird von einem Schleier bedeckt, den eine schlichte Krone hält. Ihr faltenreiches Gewand ist vor dem Körper gerafft. Trotz des Vollmondes gehört die um 1430 in Lübeck geschaffene Statue zu den sogenannten Mondsichel-Madonnen. Ein Bildtypus, der auch als Strahlenkranz-Madonna bezeichnet wird und ab dem 12. Jahrhundert in der christlichen Kunst auftritt.

Das Motiv stammt aus der frühmittelalterlichen Buchkunst, und zwar von der Darstellung des "apokalyptischen Weibes" in der Offenbarung des Johannes. In Kapitel 12, Vers 1-18 berichtet der Apostel von einer Himmelserscheinung: Eine Frau, umkleidet von der Sonne, von zwölf Sternen und dem Mond zu ihren Füßen, bringt einen Sohn zur Welt.

Die „apokalyptische Maria“ aus dem Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, entstanden zwischen 1175 und 1185, eine Nachzeichnung des 1870 in Straßburg verbrannten Originals 
Die „apokalyptische Maria“
Die „apokalyptische Maria“ aus dem Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, entstanden zwischen 1175 und 1185, eine Nachzeichnung des 1870 in Straßburg verbrannten Originals

Während ein Drache die Mutter bedroht, wird das Kind von Engeln in den Himmel geführt. Der Frau wachsen Adlerflügel, durch die sie sich retten kann. Den Drachen hingegen, Inbegriff des Bösen, besiegt Erzengel Michael. Die apokalyptische Frau wird als eine himmlische Hoheitsgestalt gepriesen, auf die sich alles Licht konzentriert. Schon seit frühchristlicher Zeit betrachtet man sie als Sinnbild der Kirche.

Unter dem Einfluss der Marienforschung wird das "apokalyptische Weib" ab dem 12. Jahrhundert mit Maria identifiziert, so dass seine Darstellung in der Kunst madonnenhafte Züge annimmt. Eine der frühesten Bilder der sogenannten apokalyptischen Maria ist im Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg zu finden. Zwischen 1175 und 1185 gab die Äbtissin des Klosters Hohenburg auf dem Odilienberg in den Vogesen die erste von einer Frau verfasste und mit 300 Miniaturen verzierte Enzyklopädie heraus.

Diese Strahlenkranz­Madonna wurde um 1480 geschaffen und befindet sich in der spätromanischen Basilika St. Margareta in Düsseldorf-Gerresheim. 
© R. Rossner
Diese Strahlenkranz­Madonna wurde um 1480 geschaffen und befindet sich in der spätromanischen Basilika St. Margareta in Düsseldorf-Gerresheim.

Aus der Buchmalerei und über das Andachtsbild entwickelte sich der selbständige Typus der Mondsichelmadonna als plastische Figur. Die um 1370 entstandene "Hirschmadonna" - heute im Erfurter Angermuseum - gilt als die älteste Großplastik dieses Bildtyps. Im 14. Jahrhundert wurde der Mond, auf dem Maria steht, als Vollmond mit Gesicht dargestellt, erst ab dem 15. Jahrhundert bevorzugte man die Mondsichel.

Häufig gehörte zur Mondsichelmadonna ein Strahlenkranz. Auch die Madonna von Gudow war vermutlich einmal von einem Strahlenkranz umgeben. Es ist heute nicht mehr nachweisbar, ob sie als Hauptfigur eines Altares oder als einzelnes Bildwerk gedacht war.

Welche Bedeutung dem Mond bei diesen Darstellungen zukommt, ist nicht eindeutig auszumachen. Aber das Spektrum ist vielfältig. Sonne und Mond gehören zu den kosmischen Lichtquellen, die bereits in vorchristlicher Zeit göttlich verehrt wurden. Die Kirchenschriftsteller übernahmen sie in das christliche Lehrsystem und ordneten dabei die Sonne Christus und den Mond Ekklesia und Maria zu. Im Mittelalter verschoben sich die Bedeutungen: Sonne und Mond standen nun für Ekklesia und Synagoge, für Chris­ten- und Judentum. Die Forschung schließt nicht aus, dass der Mond die Synagoge verkörpern soll, über die sich Maria als Kirche, umgeben vom Glanz der wahren Sonne, sieghaft erhebt. In Form einer Sichel stellt der Mond anschaulich das Vergängliche, das sich ständig Verändernde dar, was man auch als Zeichen der Fruchtbarkeit deutete.

Der Altarschrein in der mecklenburgischen Dorfkirche Klein Helle. Die Muttergottes auf der Mondsichel wird von König David und Moses (oben l. u. r.), musizierenden Engeln und vermutlich dem Stifter des Altars (u. r.) begleitet. 
© R. Rossner
Der Altarschrein in der mecklenburgischen Dorfkirche Klein Helle. Die Muttergottes auf der Mondsichel wird von König David und Moses (oben l. u. r.), musizierenden Engeln und vermutlich dem Stifter des Altars (u. r.) begleitet.

Oftmals trägt die Mondsichel ein männliches Gesicht. Es steht vermutlich für die dämonische Natur, die der Aberglaube ihm, auf alte mystische Deutungen gestützt, zuschreibt. So wurde der Mond zum Gegenpol der vom strahlenden Licht umgebenen Jungfrau mit dem göttlichen Sohn. Eine Deutung, die ihn wieder mit dem Drachen, der das Kind des apokalyptischen Weibes verschlingen will, in Verbindung bringt.

Später kommt noch das Motiv der Schlange hinzu, die von Maria zertreten wird. All diese sich durchdringenden Vorstellungen gipfeln schließlich im 17./18. Jahrhundert in der Darstellung der Maria Immaculata: Maria als neue Eva steht triumphierend auf der von der Schlange - das Zeichen des Bösen, der Sünde und ­des Lasters - umwundenen Weltkugel, umstrahlt von der Sonne und mit dem Mond zu ihren Füßen.

Eine furiose Steigerung der ikonologischen Deutung, die der Meister der Madonna von Gudow sicher nicht ahnte, als er das stille Vollmondgesicht schnitzte.

Christiane Rossner

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1 Kommentare

Lesen Sie 1  Kommentar anderer Leser

  • Kommentar als unangemessen melden
    Petra schrieb am 28.09.2018 13:16 Uhr

    Danke für die guten, ausführlichen Erläuterungen, die ich gut für eine Kirchenführung brauchen kann!

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