Kleine und große Kirchen Kurioses Material Ikonographie August 2012

Die Dorfkirche von Osterwohle birgt eine einzigartige Ausstattung

Geniestreich aus Holz

Masken, Hopfenfrüchte und Pinienzapfen aus Holz wachsen plastisch aus der Decke heraus. Auf zierlichen, mit Knorpeln und Blattwerk berankten Bögen stehen Engel. Sie begleiten den Eintretenden ins Innere der kleinen Kirche von Osterwohle.

Verletzte Schönheit: Die außerordentliche Holzausstattung der Dorfkirche von Osterwohle ist zwar gut erhalten, aber Generationen von Holzwürmern haben deutliche Spuren hinterlassen. 
© R. Rossner
Verletzte Schönheit: Die außerordentliche Holzausstattung der Dorfkirche von Osterwohle ist zwar gut erhalten, aber Generationen von Holzwürmern haben deutliche Spuren hinterlassen.

Die überbordende, bis in die kleinste Ecke des Raumes reichende Fülle filigraner Schnitzereien zieht wohl jeden Besucher in den Bann. Es ist ein überwältigender Kunstschatz, der das Gotteshaus des heute zu Salzwedel gehörenden Dorfes im Nordosten der Altmark ziert. Mit jedem Blickwechsel entdeckt das Auge ein neues phantasievolles Motiv und möchte die vielen, mit präziser Detailfreude herausgearbeiteten Formen erfassen.


Das Kleinod entstand zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Es sei bemerkenswert, dass das aus dunklem Eichen- und hellem Lindenholz geschaffene Werk bis heute fast vollständig und in einem so guten Zustand erhalten geblieben ist, wie Dr. Bettina Seyderhelm, Fachreferentin für das Kunstgut der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland erklärt. "Für diese Phase ist eine solche Ausstattung selten in Deutschland." Die Künstler hätten vermutlich bewusst auf eine Farbfassung der Schnitzereien verzichtet, fährt die Kunsthistorikerin fort, zeige sich doch gerade darin die große Sorgfalt und handwerkliche Qualität, mit der sie bei ihrer Arbeit vorgegangen seien. Eine konkrete Künstlerpersönlichkeit lässt sich leider für die Holzobjekte nicht ausmachen. Sicher ist nur, dass in Osterwohle verschiedene Hände am Werk waren, was die ganz unterschiedlich ausgebildeten Figuren verraten. Woher ihre Schöpfer kamen und welche Vorlagen sie zu ihrem Geniestreich inspiriert haben, liegt noch im Dunklen.

Blick nach Osten auf den Lettner mit der Triumphkreuzgruppe und das Chorgestühl dahinter 
© R. Rossner
Blick nach Osten auf den Lettner mit der Triumphkreuzgruppe und das Chorgestühl dahinter

Osterwohle findet 1022 erstmals in einem Güterverzeichnis des Hildesheimer Klosters St. Michael Erwähnung. Etwa 200 Jahre später wird der schlichte Kirchenbau aus Feldsteinen errichtet. 1499 gelangt das Gut als Lehen in den Besitz der Weißen Linie des Geschlechts von der Schulenburg. Unter Oleke von Saldern, der Witwe des 1607 verstorbenen Albrechts IV. von der Schulenburg, erfolgt zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine tiefgreifende Umgestaltung des Gotteshauses. Oleke lässt im Westen einen Treppengiebel mit Wendelstein errichten, außerdem erhält das Gebäude einen Dachturm mit Haube und Laterne und schließlich seine opulente Innenausstattung. Wann diese genau entstand, ist heute nicht mehr bekannt. Einen Anhaltspunkt gibt die Kanzel, die als einziges Stück mit der Jahreszahl 1621 versehen ist. Oleke von Saldern starb ein Jahr danach.

Vermutlich tätigte die im Herrenhaus des Lehnguts lebende Adelige diese Stiftung zum Gedenken an ihren verstorbenen Mann. Was Oleke allerdings dazu bewegte, einen Auftrag dieser Größenordnung zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges zu erteilen, und warum sie das phantastische Schnitzwerk aus Holz anfertigen ließ, ist unklar. Ihre Idee zeugt von hoher Bildung, einzigartigem Kunstsinn und guten finanziellen Möglichkeiten. Auch ihr Gatte Albrecht IV., der das Hauptgebäude der Propstei in Salzwedel erbauen ließ und in Osterwohle eine Bibliothek einrichtete, gilt als gelehrter Freund der Literatur, der von seinem 14. Lebensjahr an durch den evangelischen Theologen Stephan Prätorius unterrichtet wurde.

Phantasiewesen schmücken die achteckige Taufe – auch die drei Greifenklauen sind hier zu sehen. 
© R. Rossner
Phantasiewesen schmücken die achteckige Taufe – auch die drei Greifenklauen sind hier zu sehen.

Äußerst dezent verteilen sich die Hinweise auf das Geschlecht von der Schulenburg im Kirchenraum. Statt großer Wappen erkennt man bei genauerem Hinsehen an vielen Stellen drei aneinanderhängende Raubvogelkrallen - ein Motiv aus dem Wappenschild der Dynastie. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sie sich mit dem Vater Albrechts IV., Christoph von der Schulenburg, der Reformation zugewandt. War dieser zunächst noch katholischer Bischof, später Dompropst von Ratzeburg, legte er dann diese Ämter nieder, um als erster evangelischer Propst im Kloster Diesdorf bei Salzwedel zu wirken.

In Osterwohle bestimmen die zwei protestantischen Sakramente Abendmahl und Taufe das Kircheninnere. Hebt man den baldachinartigen Deckel der Taufe im Westen an, so senkt sich der hoch oben über dem Altar im Osten angebrachte Taufengel herab. Denn durch ein ausgeklügeltes mechanisches System sind beide miteinander verbunden. Ungewöhnlich für eine protestantische Kirche ist die feingliedrige Chorschranke, die den Altarraum vom Kirchenschiff trennt. Sie besteht aus sich überkreuzenden und von Ranken umspielten Bögen, die auf Darstellungen der Tugenden ruhen. Zur Mitte hin staffeln sich die Arkaden übereinander und münden in eine Figurengruppe mit Christus am Kreuz, flankiert von Maria und Johannes, denen eine Ebene darunter und nach außen gerückt Petrus und Paulus zur Seite gestellt sind. Ihre schmalen, in die Länge gezogenen Körper sprechen wie die grotesken Masken und schneckenhausartigen Knorpel die Formensprache des Manierismus.

Die Familie von der Schulenburg saß, getrennt nach Männern und Frauen, auf der Empore über dem westlichen Eingangsportal. Beachtenswert sind die Bänke für die Kirchenbesucher zu ihren Füßen, die ein eindrucksvolles Bild von der hierarchisch aufgebauten ländlichen Gesellschaft dieser Zeit geben. Befinden sich die Plätze für Frauen und Kinder auf der Südseite in gleicher Höhe, saßen die Männer auf der Nordseite auf unterschiedlichen Ebenen: Auf der obersten Stufe nahmen die eigenständigen Ackermänner Platz, darunter die Einspänner, die zusätzliche Fronarbeit bei den von der Schulenburgs verrichten mussten, und ganz unten die ausschließlich im Dienste ihrer Herren stehenden Knechte.

Fröhlich beschwingt begrüßen Engelsstatuetten die Eintretenden. 
© R. Rossner
Fröhlich beschwingt begrüßen Engelsstatuetten die Eintretenden.

Es ist ein Glücksfall, dass sich die hölzerne Kostbarkeit bis in unsere Zeit erhalten hat. Doch sie bedarf der ständigen Pflege, damit sie auch die uns nachfolgenden Generationen erfreuen kann. Seit 1995 nimmt sich das Ehepaar Ulrike und Oskar Klinge des Kleinods an. Bei einer Rundreise durch die Altmark verliebten sich die beiden in die ungewöhnliche Dorfkirche und errichteten eine Treuhandstiftung in der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, die der zukünftigen Bewahrung des Gesamtkunstwerks gewidmet ist.

Zunächst waren zwischen 1999 und 2005 Arbeiten an der äußeren Hülle - dem Treppenturm, dem Glockenturm und der Dächer - notwendig, für die neben der Treuhand-Stiftung ebenfalls finanzielle Hilfe vom Dorfkirchenfonds unserer Stiftung, von der Stiftung KiBa, dem Bund und dem Land Sachsen-Anhalt kam.

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Die Kirchengemeinde freut sich, dass sie mit der Treuhand-Stiftung einen beständigen Partner hat, der sich dauerhaft um die Kostbarkeiten im Inneren des Gotteshauses kümmert. Denn nicht nur der Zahn der Zeit, sondern auch Generationen von Holzwürmern haben an ihnen genagt. In jüngster Vergangenheit konnten die Kanzel und die Kassettendecke restauriert werden, deren Stabilität durch angefressene Dübel- und Zapfenverbindungen gefährdet und deren Holzsubstanz durch eingedrungene Feuchtigkeit zusätzlich geschwächt waren. Unter den gleichen Problemen leiden auch die zierlichen Figuren und Ornamente der Chorschranke, der man sich als nächstes widmen will. Die Restaurierung der Empore soll anschließend erfolgen. Wenn Sie das Kapital der Stiftung durch eine Zustiftung aufstocken, wäre es möglich, mit den jährlichen Erträgen in Zukunft größere Schritte bei der Restaurierung zu gehen.

Julia Ricker

Besichtigungen der Dorfkirche von Osterwohle sind ausschließlich nach Absprache mit dem Pfarramt in Dähre, Tel. 039031/2 22, möglich.

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