Menschen für Denkmale Dezember 2011

Eine Familie saniert ein Haus mit Geschichte

Wohnen im Kaiserturm

Es waren berufliche Gründe, die den aus Sachsen stammenden Nautiker Oliver Ernst und Manja Landschreiber, die Brandenburger Diplomingenieurin für Garten- und Landschaftsbau, nach Schleswig-Holstein verschlugen. Als sie schließlich in Lübeck ihren gemeinsamen Wohnsitz planten, waren sie sich in einer grundlegenden Frage schnell einig. Beide bevorzugen den Charme alter Gebäude, in denen schon unzählige Generationen ihre Spuren hinterlassen haben. Ein Haus mit Geschichte, möglichst in der Lübecker Altstadt, die seit 1987 als gesamtes Ensemble zum UNESCO-Welterbe gehört, sollte ihr neues Domizil werden.

Von der Rückseite ist der halbrunde, eingerüstete Kaiserturm (links) der Familie Ernst-Landschreiber gut zu erkennen.  
Lübeck, Kaiserturm © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Von der Rückseite ist der halbrunde, eingerüstete Kaiserturm (links) der Familie Ernst-Landschreiber gut zu erkennen.

Eine Zeitungsannonce machte das junge Paar auf eine Immobilie in der Kaiserstraße aufmerksam. Unmittelbar vor die Stadtmauer gesetzt, liegt sie in direkter Nähe des Burgtors im Nordosten der Altstadt, wo noch ein geschlossenes Stück der historischen Stadtbefestigung erhalten ist. Manja Landschreiber und Oliver Ernst verliebten sich sofort in das um 1800 gebaute, dreigeschossige Altstadthaus, das wegen eines Wasserschadens komplett entkernt war. Was unter denkmalpflegerischen Aspekten bedauerlich ist, bot den neuen Besitzern individuelle, auch kindgerechte Gestaltungsmöglichkeiten. "Dadurch hatten wir gewissermaßen die Vorzüge eines Neubaus mitten in der Stadt mit anteilig alten Bereichen der Stadtmauer", schildern sie die Ausgangssituation.

Neben dem Eingang liegt morsches Holz aus dem Dachstuhl.  
Lübeck, Kaiserturm © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Neben dem Eingang liegt morsches Holz aus dem Dachstuhl.

2005 begann das Paar mit der Sanierung, die es in zwei Jahren weitgehend in Eigenregie bewältigte. "Obwohl das Haus entkernt war, haben wir mehrere Monate lang an jedem Wochenende Mauerspecht gespielt und noch dreißig Tonnen Schutt herausgeholt", erinnert sich Manja Landschreiber. Dann aber gerieten die Arbeiten ins Stocken, denn ein Raum im Erdgeschoss war stark durchfeuchtet. Die Ursache hierfür lag im benachbarten Gebäude, in dessen Dach ein etwa 1,5 Quadratmeter großes Loch klaffte. Dass es sich dabei um den Kaiserturm handelt, ein bedeutendes Zeugnis der frühen Stadtbauphase Lübecks, verrät die straßenseitige Ansicht nicht unmittelbar. Erst auf der Rückseite offenbart sich der massive Halbschalenturm, der 1180 als Teil der Stadtmauer errichtet wurde. Ursprünglich zu Verteidigungszwecken entstanden, hat er im Laufe seiner langen Geschichte viele Veränderungen erlebt. Im 15. Jahrhundert wurde er wehrtechnisch erweitert, die stadtseitige Außenmauer erhielt immer wieder neue Durchbrüche, und im 19. Jahrhundert wurden schließlich seine ehemals höheren Außenmauern bis auf den heutigen Bestand abgebrochen. Nun erlaubte ein dreigeschossiger Aufbau mit Raumunterteilung eine Wohnnutzung. Um den Wohnraum noch zu vergrößern, setzte man vor den Turm ein kleines Gebäude, das heute die Hausnummer 5 trägt. Ihm wurden die oberen Geschosse zugeordnet, die über den dazugehörigen schmalen Eingang zu erreichen sind. Das Erdgeschoss des Turms wurde mit dem benachbarten Wohnhaus Kaiserstraße 3 verbunden, das heute im Besitz des jungen Paares ist. Diese ungewöhnliche Aufteilung entspricht dem sogenannten Stockwerksrecht, nach dem in der Hansestadt recht häufig verfahren wurde.

Das Mittelgeschoss im Halbrund des Kaiserturms  
Lübeck, Kaiserturm © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Das Mittelgeschoss im Halbrund des Kaiserturms

Doch zurück in die Gegenwart. Um weiteren Schaden von ihrem bereits renovierten Haus in der Kaiserstraße 3 abzuwenden, setzten sich Oliver Ernst und Manja Landschreiber mit der Besitzerin des Kaiserturms in Verbindung, ohne sich jedoch einigen zu können, wie er saniert werden sollte. So entschloss sich das junge Paar - zum damaligen Zeitpunkt eher gezwungenermaßen -, den seit Jahrzehnten unbewohnten Turm trotz seines desolaten Zustands zu kaufen. Im Herbst 2006 war es so weit, und die neuen Besitzer leiteten sofort eine notdürftige Instandsetzung des Daches ein, die den weiteren Verfall aufhalten sollte. In enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege erarbeiteten sie ab 2008 ein Sanierungskonzept. Einerseits musste es denkmalpflegerischen Gesichtspunkten Rechnung tragen, andererseits den dunklen Turm mit seinen teilweise sehr niedrigen Decken auch als Wohnraum nutzbar machen. "Was dann auf uns zukam, hat uns förmlich überrannt", erzählen die beiden Mittdreißiger, die inzwischen Eltern eines vierjährigen Sohnes und einer wenige Monate alten Tochter sind. "Wir haben die Größenordnung der Sanierung und die Ausmaße des Denkmalschutzes unterschätzt." Nicht nur der Zahn der Zeit hat stark an dem seit 1978 leerstehenden Gebäude genagt. Besonders das defekte Dach verursachte enorme Schäden: Das Mauerwerk ist feucht, der Putz platzt ab, Balken sind morsch und Fugen ausgewaschen.

Doch die eingehende bauhistorische Erfassung des Halbschalenturms förderte Überraschendes zutage. So belegen dendrochronologische Untersuchungen, dass ein Balken im Dachstuhl aus dem Jahr 1420 stammt, als ein erster großer Umbau stattfand. Einige Ziegel wiederum lassen sich auf das Jahr 1180 datieren, auf die Zeit des Stadtgründers Heinrich des Löwen, in der die Wehranlage gebaut wurde. "Wenn man weiß, wie alt hier alles ist, bekommt man schon gewisse Ehrfurcht." Manja Landschreiber, die mit ihrer kleinen Tochter derzeit viel zu Hause ist, bemerkt bei den Bauarbeitern eine ähnliche Reaktion. "Sie gehen doch etwas anders damit um und sind sehr vorsichtig, um alles zu erhalten." Zu den Raritäten, die im Kaiserturm schlummerten, gehört auch die elektrische Anlage. Sie wurde gleich nach der Elektrifizierung eingebaut und zählt zu den ältesten der Hansestadt.

Im Dachstuhl verbinden sich altes und neues Holz. Pressspanplatten schützen derzeit das Holz der alten Galerie.  
Lübeck, Kaiserturm © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Im Dachstuhl verbinden sich altes und neues Holz. Pressspanplatten schützen derzeit das Holz der alten Galerie.

Doch die Sanierung des geschichtsträchtigen Turms ist äußerst kostenintensiv. "Ohne Zuschüsse wäre das nicht möglich", so die Bauherren, die von der Possehl-Stiftung, der Städtebauförderung und dem Sparkassenfonds Schleswig-Holstein unterstützt werden. Auch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz engagiert sich bei der Förderung des wegen seiner geschichtlichen und städtebaulichen Bedeutung einzigartigen Projekts mit 25.000 Euro.

Im Januar dieses Jahres wurde der Bauantrag genehmigt, und inzwischen ist die Sanierung des Dachstuhls nahezu abgeschlossen. Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher Sorgfalt die Zimmerleute so viele alte Dachsparren wie möglich erhalten oder, wo nötig, mit neuem Holz ergänzt oder mit T-Eisen ertüchtigt haben. Auch die ersten Rohbauarbeiten haben begonnen. Im Flur liegen ausgelagerte Dielen. Bretter versperren den Zugang zu einem Raum mit instabiler Decke, und die Treppen sowie eine historische Galerie sind durch Platten vor Beschädigungen geschützt. "Jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, kann ich Forschritte auf der Baustelle erkennen", freut sich Oliver Ernst.

Im Laufe der langen Planungsphase haben seine Lebensgefährtin und er gemeinsam mit einem Architekturbüro für die Nutzung des alten Gebäudes einige praktikable, ansprechende und denkmalverträgliche Lösungen gefunden. Um den Kaiserturm mit seinen mehr als einen Meter dicken Mauern einigermaßen kostengünstig und schonend zu beheizen, wird auf dem Grundstück wahrscheinlich eine Geothermie-Anlage gebaut, die eine Wandflächenheizung speisen soll. Das feuchte Mauerwerk soll dank dieser behutsamen und großflächigen Heizmethode langsam wieder trocknen.

Die vierköpfige Familie bewohnt ihr bereits saniertes Altstadthaus. Das rot markierte Gebäude auf dem Stadtplan zeigt den benachbarten Kaiserturm.  
Lübeck, Kaiserturm © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Die vierköpfige Familie bewohnt ihr bereits saniertes Altstadthaus. Das rot markierte Gebäude auf dem Stadtplan zeigt den benachbarten Kaiserturm.

Ein anderes Problem ist der geringe Lichteinfall, den zwei Lichtschächte nur mildern können. Deshalb plant die Familie, als Wohnbereich vor allem den benachbarten Altbau zu nutzen. Im Turm werden neben einem Schlafzimmer und einem Bad, die wenig natürliches Licht brauchen, vor allem Haushaltsräume oder ein Gästezimmer Platz finden. Damit sich die Häuser als Einheit nutzen lassen, sollen sie verbunden werden. Weil dafür lediglich zwei bereits bestehende, im 19. Jahrhundert zugemauerte Durchbrüche wieder geöffnet werden müssen, waren die Denkmalpfleger einverstanden.

Seit einiger Zeit bewohnen Manja Landschreiber und Oliver Ernst mit ihren Kindern ein Lübecker Altstadthaus.  
Lübeck, Kaiserturm © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Seit einiger Zeit bewohnen Manja Landschreiber und Oliver Ernst mit ihren Kindern ein Lübecker Altstadthaus.

Sie gaben auch grünes Licht für eine Dachterrasse, die ein großer Wunsch der vierköpfigen Familie ist. Das kleine Freiluftrefugium lässt sich auf jener Dachseite, die ein Anbau aus dem 19. Jahrhundert ist und schon einmal saniert wurde, realisieren - solange von außen kein Geländer sichtbar ist, das die Altstadtansicht beeinträchtigen würde.

Dass seine Familie in einem ganz besonderen Haus wohnt, ist auch dem vierjährigen Franz bewusst, der uns durch das Haus begleitet. Offensichtlich hat er schon etwas über dessen Geschichte gelernt. Zünftig als Feuerwehrmann gekleidet, deutet er auf eine noch erkennbare Maueröffnung und erzählt, dass dort früher ein Tor war. Was sich in den beiden Häusern im Laufe der Jahrhunderte zugetragen haben mag, beschäftigt seinen Vater. Bis heute lassen sich einige Lauf- und Wehrgänge erahnen, und man vermutet, dass aus dem Turm Kanonen abgefeuert wurden und die Durchbrüche als Belüftung dienten, um den Pulverdampf abziehen zu lassen. Er stellt sich auch vor, wie die Menschen später in der erhalten gebliebenen Galerie gelebt haben, deren einzige natürliche Lichtquelle ehemalige Schießscharten waren.

Es gibt genug Stoff, der die Fantasie beflügelt. "Wenn man abends in Ruhe im Wohnzimmer sitzt und Tee trinkt, kann man seine Gedanken schweifen lassen. Alte Gemäuer strahlen eine gewisse Ruhe aus, was ich sehr gemütlich finde. Dann denke ich gerne darüber nach, was in den Jahrhunderten passiert ist, wie viele Leute hier waren und welche Schicksale mit ihnen verbunden sind. Und das alles finde ich sehr spannend."

Friedegard Hürter

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