Kurioses Jugendstil / Art Déco Ikonographie Dezember 2011 N
Es fällt schwer, sich heute die großbürgerliche Ruhe in Plagwitz vorzustellen, die 1905 hier geherrscht haben muss. Die Karl-Heine-Straße ist wie die Erich-Zeigner-Allee eine sehr breite und laute Straße in Leipzig. Der Rechtsanwalt Karl Heine (1819-88) hatte 1854 begonnen, systematisch Land in Plagwitz aufzukaufen.
Industrie sollte sich ansiedeln, weshalb unter Heines Regie auch neue Verkehrswege, darunter ein erstes Teilstück des Elster-Saale-Kanals, angelegt wurden. Schon 1872 schloss man Plagwitz an das Leipziger Straßenbahnnetz an. Wer vor den Toren der Stadt, aber dennoch gut angebunden leben wollte, hatte die Möglichkeit, auf riesigen Grundstücken zu bauen. Diese verkaufte Heine schnell, und sein Geschäft florierte wie erhofft.
Spaziert man heute durch das Viertel, fällt auf, dass die Buntgarnwerke und die Kragen- und Manschetten-Firma Mey & Edlich in der Nähe des Kanals vorbildlich restauriert sind, manche Villen aber schon bessere Zeiten erlebt haben. Am Haus Karl-Heine-Straße 24 b gehen die meisten vorüber, ohne den Schritt zu verlangsamen. Das aus einem wuchtigen Sockelgeschoss herauswachsende Wohnhaus scheint auf den ersten Blick - der zudem nicht ungehindert durch die wuchernden Büsche und Bäume dringen kann - eine ganz normale "Jugendstilvilla" zu sein. So dachte im Jahre 2008 zunächst auch der neue Miteigentümer, die Klinge Otto Planung GmbH, und wollte umgehend mit der dringend nötigen Sanierung beginnen. Weil ihnen auf den zweiten Blick aber immer mehr Motive aus Nietzsches Geisteswelt entgegensprangen, stoppten der Architekt Matthias Otto und der mit ihm befreundete Steinmetz und Bildhauer Dirk Brüggemann ihr Vorhaben. Sie riefen ein Forschungsprojekt ins Leben, um herauszufinden, was es mit dieser Villa und ihrem ungewöhnlichen Bildprogramm - darunter zwölf geschnitzte Balkenkopfporträts von Friedrich Nietzsche, Richard Wagner und deren Umkreis - auf sich hat.
Matthias Otto und Dirk Brüggemann recherchierten, dass eine Witwe namens Marie Julie Hillig den Neubau 1903 in Auftrag gegeben hatte. Sie entstammte der reichen Leipziger Kaufmannsfamilie Schomburgk und erbte von ihren Eltern das parkartig gestaltete Grundstück, auf dem einst ein Gewächshaus, eine Kegelbahn und ein Pferdestall mit Remise standen. Als Architekt verpflichtete Marie Hillig einen lokalen Baumeister, das noch recht unbeschriebene Blatt Theodor Paul Klotzsch. Ihr Sohn, Dr. Curt Hillig, unterzeichnete mit ihr gemeinsam den Bauantrag. Von Marie Hillig über ihn lassen sich die Fäden bis hin zu der Person spannen, um die es bei dem Bauschmuck geht: zu Friedrich Nietzsche und seinem Werk "Also sprach Zarathustra".
Auch wenn seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts Nietzsches Gedanken vom Übermenschen, von der "Umwertung aller Werte" und "der Wiederkehr des ewig Gleichen" in der Luft lagen und durch Intellektuelle gierig aufgesaugt wurden, brauchte es wohl für die Witwe einen konkreten Anlass, ihre Villa mit derart heroischen Details zu versehen. Ihr Sohn Curt hatte die Urenkelin des Leipziger Verlegers Benedictus Gotthelf Teubner geheiratet. Er führte eine Anwaltskanzlei, die sich auf Verlags- und Urheberrecht spezialisierte. Dem Teubner-Verlag war Friedrich Nietzsche eng verbunden, und zur prominenten Mandantschaft von Hillig gehörte die Schwester des Philosophen, Elisabeth Förster-Nietzsche. Auch die bildenden Künstler und Nietzscheanhänger Max Klinger und Georg Kolbe sowie Henry van de Velde und der Kunstsammler und Publizist Harry Graf Kessler zählten zu ihren Bekannten. Dies war das Milieu, in dem sich der philosophische Anspruch einer Kaufmannstochter an ihre eigene bürgerliche Heimstatt ausbilden konnte, verbunden mit der Verehrung für Richard Wagner und seinen "Ring des Nibelungen". Marie Hillig schwebte beim Bau des Hauses eine Hommage an zwei große Männer ihrer Zeit vor: Der eine, drei Jahre jünger als sie selbst, war Friedrich Nietzsche, der einst in Leipzig studiert hatte. Der andere, eine Generation älter und 1813 in Leipzig geboren, Richard Wagner. Als sie das Haus plante, war Nietzsche gerade in geistiger Umnachtung gestorben und Richard Wagner bereits seit über zwanzig Jahren tot. Dennoch wählte sie die beiden als Protagonisten ihres Bildprogramms. Dabei wusste sie sicher, dass Nietzsche nicht lange mit Wagner befreundet blieb, sondern sich öffentlich von ihm distanziert hatte. Sie aber bezog sich - was zu ihrer Zeit en vogue war - auf die kurze Freundschaft der beiden. Deren erste Begegnung hatte im Hause des Orientalisten Hermann Brockhaus, der mit Ottilie Wagner, der Schwester Richards, verheiratet war, stattgefunden. Der 24-jährige Friedrich Nietzsche zeigte sich vom gro¬ßen Meister tief beeindruckt, hatte er doch selbst Klavierkompositionen geschrieben und Sonaten ersonnen. Ehe sich die beiden entzweiten, besuchte Nietzsche Richard Wagner 23 mal in Tribschen, "verwuchs gefährlich mit der Wagnerei", wehrte sich aber bald hart gegen sie, weil er deren "décadence" als Schwäche verachtete.
Etwas vom Geist der Jahrhundertwende, ihrem Willen zum Aufbruch, zur Erneuerung und ihrem Hang zur Mystik zu spüren, gelingt heute, wenn man ins Obergeschoss der Villa vordringt. Blickt man durch ein Fenster an der Straßenseite hoch zum Dach, prangen dort die hölzernen, grob behauenen Balkenköpfe. Friedrich Nietzsche, seine Schwester Elisabeth und die Mutter Franziska wurden dort verewigt, außerdem Richard Wagner und seine erste Ehefrau Minna. Die Gartenseite ist dem tatsächlichen und dem ideellen Umkreis Nietzsches und Wagners gewidmet, unter anderem Arthur Schopenhauer und Platon sowie der Essayistin und Psychoanalytikerin Lou von Salomé und der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug. Ihre raue, ungebändigte Formensprache, die archaische Wucht und das ikonenhaft Frontale und Flache erinnern an den sogenannten Zarathustra-Stil. Seine ausdrucksstarke Ornamentik wird mit dem Bauschmuck der Jugendstilhäuser auf der Mathildenhöhe in Darmstadt in Zusammenhang gebracht. Bildhauer Dirk Brüggemann, der sich nun schon seit drei Jahren mit der Entschlüsselung des Bildprogramms beschäftigt, bekommt glänzende Augen, wenn es um den Zarathustra-Stil geht. An 80 Fassaden in Leipzig habe er ihn inzwischen entdeckt, immer wiederkehrend dabei die Begleittiere des vorchristlichen, alt-iranischen Priesters Zarathustra: der Adler und die Schlange. Nur leider sei die Architektur dieser Zeit in Leipzig nicht ausreichend untersucht. Man hinke der Forschung über Darmstadts Jugendstil weit hinterher. Der Leipziger Architekt Paul Möbius, der sein Atelier ein paar Straßen weiter unterhielt, sei einer der zahlreichen Nietzsche-Anhänger seiner Zeit gewesen, der den Zarathustra-Stil früh - möglicherweise sogar eher als Peter Behrens - verbreitet habe. Möbius' Wohnhaus in der Tschaikowskistraße 31 ist ein eindrucksvolles Zeugnis des Kultes. Von überallher blicken die bedeutsamen Tiere aus "Also sprach Zarathustra", Schlangen, Löwen und Affen, auf den Vorübergehenden herab. Teilweise naturalistisch aus dem Stein gehauen, fordern sie Respekt, vermitteln sie Stärke und den Anfang eines neuen nihilistischen Denkens. Möbius durchbricht die Regeln der klassischen Architektur wie später der sich an ihm orientierende Architekt Klotzsch, so wie laut Nietzsche alle damaligen Werte abgeschafft werden sollen.
Das Besondere an der Villa Karl-Heine-Straße 24 b sind aber nicht allein die Porträts auf den Balkenköpfen. Überall am Haus gibt es Idealbildnisse, erzählerische Elemente oder werden keltische und persische abstrakte Ornamente aufgegriffen, um Wagners "Ring" und Nietzsches "Zarathustra" zu illustrieren. Dirk Brüggemann geht sogar soweit, dass er im Windfang und Foyer des Hauses die Stufen der Verwandlungen aus einer der Reden des Zarathustra erkennen will.
Darin beschreibt Nietzsche drei wesentliche Stadien, die der menschliche Geist im Laufe des schweren Prozesses der Wahrheits- und Selbstfindung durchlaufen muss. "Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe." Wir treffen auf eine dem Persischen entlehnte Formensprache, auf Grundformen, die ins Reich des Zarathustra führen. Mehr sei an dieser Stelle nicht gesagt, denn die Symbole erschließen sich nicht durch das gedruckte Wort allein. Wer also über das gerade Gelesene hinaus eintauchen möchte in diese Zarathustra-Welt, den Weg mitgehen will vom genügsamen Kamel über den kämpferischen, freien Löwen bis hin zum unschuldigen Kind, dem sei ein Besuch der Villa wärmstens empfohlen. Die gut vorbereiteten Führungen (nach telefonischer Absprache unter Tel. 0341/14 99 00 88) erweitern in jedem Fall den Horizont.
Die Eigentümer haben sich vorgenommen, dieses Zeugnis einer Epoche im Umbruch wieder aufleben zu lassen. Sie möchten eine internationale Forschungs- und Begegnungsstätte einrichten. Leipzig soll damit den Rang zurückerhalten, den es als Zentrum für Musik, Literatur und Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts einnahm: als eine Stadt, in der das von philosophischen Ideen durchtränkte Bürgertum seine Häuser anstatt mit Eierstab und Akanthusblättern mit Kobraköpfen und feuerspeienden Drachen schmückte.
Christiane Schillig
Literatur:
Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung 3, Tagung vom 12. bis 14. März 2010 in Leipzig, Nietzsche und Wagner - Begegnung in Leipzig, hrsg. vom Richard-Wagner-Verband Leipzig e. V., Nietzsche-Forum München e. V. und K.O.P. Klinge Otto Planung GmbH. Leipzig, Beucha und Markkleeberg 2011.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
Fast 17 Millionen Dollar. Das ist auch für das Auktionshaus Christie's keine alltägliche Summe. Bei 16,8 Millionen Dollar ist im Mai bei einer Auktion in New York für Nachkriegs- und zeitgenössische Kunst der Zuschlag erfolgt, und zwar für - und das ist ebenso ungewöhnlich - ein Bauwerk. Nicht einmal ein besonders großes.
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Wir sind heute zufällig an der Villa vorbeigeradelt und haben mit Interesse soeben diesen Beitrag gelesen. Wir kennen die Villa als Kinderheim in DDR-Zeiten und sind nun von der Geschichte dieses Hauses sehr beeindruckt und freuen uns sehr, dass es wieder Eigentümer gibt, die die Villa wieder aufleben lassen
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Jahrelang bin ich an diesem Haus vorbeigelaufen, ohne seine Bedeutung zu erkennen,habe mich nur gefreut,dass jetzt in der Karl-Heine-Straße so viele alte Villen restauriertwerden wie z. B. die Klinger Villa. Die Hintergründe dieses Hauses müssten weiter erforscht und publik gemacht werden.
Ich bin in diesem haus 1959 geboren und aufgewachsen und freue mich sehr über den Beitrag. Wir lebten gern dort, mussten aber ca. 1971 ausziehen. Es war und blieb für mich besonders. Ich bin nachträglich doch sehr beeindruckt.Herzlichen Dank!
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