1925 Dezember 2011 N

Neoklassizismus und Neue Sachlichkeit

Die Baukunst zwischen den Weltkriegen

Soweit die Werke berühmter Jugendstil-Architekten wie Otto Koloman Wagner und Joseph Maria Olbrich auf der Wiener Sezession beruhten, bedeuteten sie eine Vorwegnahme von Tendenzen der Neuen Sachlichkeit, einer der Hauptrichtungen zwischen den beiden Weltkriegen. Doch um das Jahr 1910 änderte sich das bei allen führenden Baumeistern, zuerst bei Olbrich. Sein letztes Werk vor seinem frühen Tod 1908 war das ehemalige Warenhaus Tietz an der Königsallee in Düsseldorf, das vor allem im jetzt leider zerstörten Inneren deutliche Züge eines Neoklassizismus aufwies.

Peter Behrens’ Deutsche Botschaft in St. Petersburg  
St. Petersburg, Deutsche Botschaft © Gottfried Kiesow, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Peter Behrens’ Deutsche Botschaft in St. Petersburg

Fußend auf dem originalen Klassizismus zwischen etwa 1780 und 1835 gab es bereits um 1870 einen ersten Neoklassizismus und um den Ersten Weltkrieg herum einen zweiten, dem schließlich ein dritter - vor allem durch Albert Speer - in der Zeit des Nationalsozialismus folgte. Bereits 1922 erkannte Sigfried Giedion, dass Klassizismus "kein Stil, sondern eine Färbung sei". Denn der eigentlich führende Stil in den 1920er Jahren ist die Neue Sachlichkeit, die ihre beherrschende Stellung auch nach 1945 behaupten konnte. Doch parallel zu ihr gab es den Neoklassizismus, den Expressionismus und den Heimatschutzstil. Die ersten beiden möchte ich in diesem Beitrag ausführlicher behandeln.


Hatte Peter Behrens sein eigenes Wohnhaus auf der Mathildenhöhe in Darmstadt 1901 noch im Jugendstil erbaut, so wählte er 1911/12 für die Deutsche Botschaft in St. Petersburg den Neoklassizismus. Mit der Unterdrückung des Daches durch ein kräftiges Gebälk und der gleichmäßigen Reihung der Kolossalsäulen - mit deren Hilfe die Dreigeschossigkeit verschleiert wird - betont er einseitig die Horizontale. Er folgt darin dem Alten Museum von Karl Friedrich Schinkel in Berlin, nur dass dieser Vollsäulen mit ionischen Kapitellen und profilierten Basen verwendete, während Behrens bei den Halbsäulen beides weglässt.

Der Neoklassizismus zwischen 1910 und dem Dritten Reich ist keine deutsche, sondern eine internationale Stilrichtung, wie man am 1914-22 errichteten Lincoln Memorial in Washington von Henri Bacon, am Musée d'Art Moderne in Paris, 1935-37 von Jean-Claude Dondel und anderen, sowie am Parlamentsgebäude in Helsinki, 1927-31 von Johan Sigrid Sirén, erkennen kann.

Die Sektfabrik Henkell in Wiesbaden-Biebrich  
Wiesbaden-Biebrich, Sektfabrik Henkell © Wikimedia Commons, Oliver Abels
Die Sektfabrik Henkell in Wiesbaden-Biebrich

Neben Peter Behrens baute in Deutschland vor allem Paul Bonatz (1877-1956) häufig im Stil des zweiten Neoklassizismus. Er prägt schon seinen ersten Großauftrag, die Sektfabrik Henkell in Wiesbaden-Biebrich, für die 1906 ein Wettbewerb ausgeschrieben worden war. Ohne sich an das Votum des Preisgerichts zu halten, entschied sich Henkell persönlich für den 30 Jahre jungen Bonatz. Dessen Entwurf traf 1907-09 den erwünschten Schlosscharakter, der das Festliche dieses edlen Getränks suggerieren sollte. Die einschwingende Kolonnade schließt den Vorhof zur Straße hin ab. Er vertritt den Typ eines Cour d'honneur im Schlossbau. Das breitgelagerte Hauptgebäude hat im Unterschied zu Behrens' Botschaft in St. Petersburg oder auch zum Landtagsgebäude von Bonatz in Oldenburg von 1917 nicht jene monumentale Reihung von Säulen oder Halbsäulen, sondern flache Pilaster. Dazu kommt ein Mittelrisalit mit breitem Dreiecksgiebel sowie ein relativ hohes, gestuftes Walmdach, auf dessen First die Werbung für das Produkt des Hauses integraler Bestandteil der Architektur geworden ist. Hier also die heitere Festlichkeit einer Schlossarchitektur im Unterschied zu den meisten Bauten im Stil des zweiten Neoklassizismus mit jener Monumentalität, die Macht symbolisiert und deshalb auch später von Hitler und Stalin missbraucht worden ist.

Das 1929-31 für die Deutsche Reichsbank errichtete Gebäude an der Taunusanlage in Frankfurt am Main  
Frankfurt am Main, Reichsbankgebäude © Gottfried Kiesow, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Das 1929-31 für die Deutsche Reichsbank errichtete Gebäude an der Taunusanlage in Frankfurt am Main

Aus diesem Grund werden die Bauten des zweiten Neoklassizismus vielfach dem Dritten Reich zugeschrieben. So gelang es mir als hessischem Landeskonservator nur mit sehr viel Überzeugungskraft, den 1929-31 von Amsler & Wolff errichteten Bau der Deutschen Reichsbank an der Taunusanlage in Frankfurt am Main vor dem Abbruch zu retten. Mit seinem strengen Portikus aus Pfeilern ohne Basen oder Kämpfer lässt er auf den ersten Blick in der Tat den von Speer vertretenen Staatsstil des Dritten Reiches vermuten. Doch sind die Baumeister des Neoklassizismus zwischen 1910 und 1933 nicht dafür verantwortlich, dass Hitler diese europäische Formensprache zu seinem Machtstil erhoben hat.

Der zweite Neoklassizismus unterscheidet sich vom ersten wie auch vom originalen des frühen 19. Jahrhunderts dadurch, dass er immer stärker auf architektonische Details und Ornamente verzichtet und damit der Hauptströmung der 1920er Jahre - der Neuen Sachlichkeit - folgt. Weil diese auf allen Kontinenten zu finden ist, spricht man auch vom Internationalen Stil, dessen vorherrschende Eigenschaft der Funktionalismus ist. Dieser geht auf den amerikanischen Architekten Louis Henry Sullivan zurück, der die folgenschwere Definition prägte "form follows function" (die Form folgt der Funktion). Den Begriff Funktion verwendeten auch Gottfried Semper und Karl Friedrich Schinkel, jedoch lediglich in dem Sinne, welcher Stil oder welche Säulenordnung am deutlichsten die Zweckbestimmung eines Gebäudes wiederzugeben vermag.

Im Funktionalismus geht es aber allein um die materielle Zweckbestimmung, um die Organisation der Grundrisse bezüglich der Anordnung und Größe der Räume. Dies soll sich auch in den Fassaden widerspiegeln. Damit war jetzt in der Neuen Sachlichkeit für Bauplastik und Ornamentik kein Raum mehr. Darunter hatte das Kunsthandwerk zu leiden. So musste etwa die Terrakottafirma von Johann Jacob Höppli in Wiesbaden ihren Betrieb einstellen, weil niemand mehr den figürlichen und ornamentalen Fassadenschmuck benötigte, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Bauten des Historismus bereichert hatte.

Die von Walter Gropius errichteten Fagus-Werke in Alfeld gehören heute zum Welterbe der UNESCO.  
Alfeld, Fagus-Werke © ML Preiss, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Die von Walter Gropius errichteten Fagus-Werke in Alfeld gehören heute zum Welterbe der UNESCO.

Das erste bekannte Beispiel für die Neue Sachlichkeit in Deutschland sind die 1910-14 von Walter Gropius im Wesentlichen beeinflussten Fagus-Werke in Alfeld an der Leine. Es war bereits ein Bauantrag für den Plan des Architekten Eduard Werner gestellt worden, als der Bauherr der Schuhleistenfabrik den 28-jährigen Gropius zur Überarbeitung heranzog. Dieser übernahm die vertikale Teilung der Fassaden durch zurückliegende Wandpfeiler, denen er aber die Horizontale der mit Stahlblech verkleideten Fensterbrüstungen entgegensetzte. Zusammen mit den großen Glasflächen schuf er eine sensible Rasterfassade, ein Vorläufer für unzählige Gebäude im 20. Jahrhundert. Das Gesetz von Last und Stütze wird durch die Betonung der Vertikalpfeiler und des leicht vortretenden Dachgesimses mittels der Verkleidung durch gelbe Klinker zwar noch gewahrt, jedoch durch das Weglassen der Eckpfeiler und das Herumführen der Fensterbänder um die Gebäudeecke eingeschränkt.

Das Bauhaus in Dessau als Hauptwerk von Walter Gropius erhielt bereits 1996 diesen Status. Es vertritt nicht nur eine innovative Architektur, sondern gleichermaßen ein kunstgewerblich wie auch wirtschaftlich anspruchsvolles Programm, das auf dem 1907 von führenden Architekten gegründeten Werkbund beruht. Dessen Ziel - "die Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk" - verfolgte auch Henry van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar, auf deren Grundlage Walter Gropius 1919 das mit einem besonderen Manifest versehene "Bauhaus Weimar" gründete. Als der politische Druck der in Thüringen stark gewordenen rechten Parteien zu groß wurde, verlegte Gropius das Bauhaus nach Dessau. Nach seinem Entwurf entstand dort 1925-26 der vielgestaltige Komplex aus der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule, dem Werkstattflügel, dem aufgestelzten Verwaltungstrakt zwischen beiden und dem rückwärtigen flachen Verbindungsbau mit Kantine und Aula zum fünfgeschossigen Studentenheim. Im Vergleich zu seinen 15 Jahre älteren Fagus-Werken in Alfeld wurden die Fassaden entscheidend weiterentwickelt. Bei den Schul- und Verwaltungsbauten im Hof der Dreiflügelanlage dominiert jetzt noch stärker die Horizontale der verputzten Brüstungsfelder und breiten Fensterbänder. Der rechts sichtbare Werkstattbau dagegen erhielt eine Ganzglasfassade, hinter der die tragende Konstruktion aus Pfeilern und Decken verborgen wird. Beide Formen werden heute noch häufig angewendet.

Das Bauhaus-Gebäude in Dessau – ein Hauptwerk der Neuen Sachlichkeit  
Dessau, Bauhaus © Gottfried Kiesow, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Das Bauhaus-Gebäude in Dessau – ein Hauptwerk der Neuen Sachlichkeit

Erst mit dem neuen Bauhaus wurde auch eine Architekturabteilung eingerichtet. Bis dahin galt noch das Ziel des ersten Bauhauses in Weimar, nämlich durch herausragende Künstler wie Klee, Kandinsky, Muche, Schlemmer und Feininger im qualitätvollen Handwerk auszubilden. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Zwänge ging Gropius mit seinen Architektenkollegen Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe dazu über, anspruchsvolle Formen für Industrieprodukte zu entwickeln, von denen einige bis in die heutige Zeit wirken, wie zum Beispiel der von Mies van der Rohe als Freischwinger entwickelte Stahlrohrsessel von 1926 oder die Bauhaus-Tischlampe aus Glas von Karl J. Jucker und Wilhelm Wagenfeld von 1924, die noch 1982 mit dem Bundespreis "Gute Form" ausgezeichnet wurde.

Aus der Not der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit Arbeitslosigkeit, Inflation und Wohnungsmangel erhielt der Bau von genossenschaftlichen Siedlungen eine besonders Bedeutung. In Frankfurt am Main entstanden unter Oberbürgermeister Ludwig Landmann und Stadtbaurat Ernst May in der kurzen Zeit von 1925-33 rund 20 Siedlungen in einem Kranz rund um die Kernstadt, darunter die ersten Kleinstwohnungen mit zweieinhalb Zimmern auf etwa 35 Quadratmetern, zum Beispiel in der Hellerhofsiedlung an der Frankenallee.

Ein Beispiel für den Siedlungsbau der 1920er Jahre ist "Onkel Toms Hütte" in Berlin-Zehlendorf.  
Berlin-Zehlendorf, Onkel Toms Hütte © Gottfried Kiesow, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Ein Beispiel für den Siedlungsbau der 1920er Jahre ist "Onkel Toms Hütte" in Berlin-Zehlendorf.

Im Auftrag der Aktiengesellschaft Hellerhof erbaute der Privatarchitekt Mart Stam 1929-32 diese Siedlung. Trifft man bei ihm noch auf das in den 1920er Jahren vorherrschende Weiß, so zeigen die 1926-32 in sieben Abschnitten errichteten Siedlungsbauten von "Onkel Toms Hütte" in Berlin-Zehlendorf eine freundliche, abwechslungsreiche Farbigkeit. Das Farbkonzept von Bruno Taut hebt das Einzelhaus zwar vom Nachbarn ab, die städtebauliche Einheit wird aber nicht gestört.

Prof. Dr. Dr.-Ing. E. h. Gottfried Kiesow †

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1 Kommentare

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    Christoph Rusteberg schrieb am 21.03.2016 15:04 Uhr

    Durch die Serie von Prof. Gottfried Kiesow ist mir manches in der Baugeschichte deutlich geworden. Ich finde seine Serie sehr informativ, die Zusammenhänge darstellend - einfach prima! Schade, dass er nicht mehr unter uns ist.

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