Interviews und Statements Oktober 2011

Interview mit Dr. Thomas Gunzelmann

Historische Kulturlandschaften

Der Hauptkonservator am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, Dr. Thomas Gunzelmann, spricht über die Erfassung und den Schutz historischer Kulturlandschaften in Deutschland.

MO: Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich, das Obere Mittelrheintal und der Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau haben eine Gemeinsamkeit: Sie wurden als Kulturlandschaften in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Was ist eine historische Kulturlandschaft?

Dr. Thomas Gunzelmann: Die Frage klingt einfacher, als sie ist. Unter "Kulturlandschaft" versteht jeder etwas anderes. Für das Feuilleton setzt sich die Kulturlandschaft Deutschlands aus Theatern und Museen zusammen, der Landwirt meint damit die landwirtschaftlich genutzte, in "Kultur" genommene Landschaft. Das ist ja nicht falsch, das Wort Kultur kommt ja schließlich vom Lateinischen colere (anbauen). Für die Geographie, die Wissenschaft, deren zentrales Objekt die Kulturlandschaft lange war, ist sie das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Naturraum und menschlichem Einfluss auf der Erdoberfläche. Für den Denkmalpfleger ist nun interessant, dass diese menschlichen Leistungen in einem geschichtlichen Prozess ablaufen und auf diese Weise materielle Zeugen der Geschichte in der Landschaft entstehen lassen. Damit sind wir sehr nahe beim Denkmalbegriff. Man könnte also sagen, dass die historische Kulturlandschaft eine Landschaft ist, die in der Vergangenheit vom Menschen geprägt wurde. Und das sind die von Ihnen genannten Beispiele zweifelsohne.

Seit über 900 Jahren wird auf dem Terrassenweinberg Kallmuth bei Homburg am Main Wein angebaut. Die Winzer terrassierten den Hang mit bis zu fünf Meter hohen Trockenmauern, die die Sonnenwärme speichern und sie nachts wieder abgeben. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat sich an der Sanierung des denkmalgeschützten Mauerwerks beteiligt. 
Homburg am Main, Weinberg Kallmuth © Eberhard Lantz, BLfD
Seit über 900 Jahren wird auf dem Terrassenweinberg Kallmuth bei Homburg am Main Wein angebaut. Die Winzer terrassierten den Hang mit bis zu fünf Meter hohen Trockenmauern, die die Sonnenwärme speichern und sie nachts wieder abgeben. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat sich an der Sanierung des denkmalgeschützten Mauerwerks beteiligt.

MO: Welche Faktoren sind bei der Definition eines Gebiets als Kulturlandschaft relevant?

Dr. Thomas Gunzelmann: Ganz Europa ist zunächst einmal Kulturlandschaft. Es gibt kaum ein Stückchen Erde, das nicht durch den Menschen beeinflusst wurde. Man muss daher herausarbeiten, welches die Kulturlandschaften sind, um die sich der Denkmalpfleger kümmern möchte, und das sind eben die historisch bedeutsamen Kulturlandschaften. Sie werden bestimmt durch materiell greifbare Elemente und Strukturen, die man heute so nicht neu gestalten würde. Um ein Beispiel zu nennen: In Mitteleuropa würde heute keiner mehr auf die Idee kommen, einen Weinberg mit zahlreichen kleinen Terrassen sowie Steinmäuerchen und -treppen anzulegen. So sind solche historischen Weinberge Geschichtszeugnisse, vielleicht Denkmale, auf jeden Fall aber Elemente der historischen Kulturlandschaft.

MO: Wie werden Kulturlandschaften erfasst?

Dr. Thomas Gunzelmann: Kulturlandschaften sind komplexe Systeme mit vielen zeitlichen Schichten und räumlichen Strukturen, so dass man sie in ihrer Wirklichkeit nicht vollständig erfassen kann. Daher versucht man die Komplexität zu reduzieren, indem man sie nach Funktionsbereichen gliedert. Diesen Bereichen, wie beispielsweise Landwirtschaft, Verkehr oder Freizeit und Erholung werden einzelne Elementtypen zugeordnet. Dies ist der elementbezogene Ansatz der Erfassung, es gibt aber auch den flächenbezogenen, bei dem man prüft, wie sich die Flächennutzung eines bestimmten Raumes im Lauf der Zeit gewandelt hat. Heute verwendet man meist eine Kombination dieser Ansätze.

Das Gulfhaus ist ein typischer Bestandteil der ostfriesischen Kulturlandschaft. Im 16./17. Jahrhundert entstanden, bot es den Bauern einen Wohntrakt und diente gleichzeitig zur Bergung riesiger Erntemengen. Inzwischen sind viele dieser Bauernhäuser nicht mehr wirtschaftlich zu unterhalten, weshalb für einige neue Nutzungsmöglichkeiten gesucht werden.  
Ostfriesland, Gulfhaus © ML Preiss, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Das Gulfhaus ist ein typischer Bestandteil der ostfriesischen Kulturlandschaft. Im 16./17. Jahrhundert entstanden, bot es den Bauern einen Wohntrakt und diente gleichzeitig zur Bergung riesiger Erntemengen. Inzwischen sind viele dieser Bauernhäuser nicht mehr wirtschaftlich zu unterhalten, weshalb für einige neue Nutzungsmöglichkeiten gesucht werden.

MO: In der Vergangenheit wurden bereits digitale Kulturlandschaftskataster angelegt. Wie ist der derzeitige Stand der Inventarisation?

Dr. Thomas Gunzelmann: So lange gibt es digitale Kulturlandschaftskataster noch gar nicht. Vor zehn Jahren tastete man sich da erst heran, heute gibt es einige Ansätze, die funktionieren. Keineswegs kann man aber von einem einheitlichen Vorgehen in Deutschland sprechen. Grob gesagt, stehen sich zwei Vorgehensweisen gegenüber: Eine staatlich und behördlich gelenkte in verschiedenen Bundesländern sowie eine andere mit einem webgestützten Ansatz im Internet, die auf ehrenamtliches Engagement setzt.

MO: Welche Probleme oder weitergehende Fragestellungen haben sich aus den bisher geführten Erfassungen von Kulturlandschaften ergeben?

Dr. Thomas Gunzelmann: Die Probleme liegen in der Sache: Da es kein einheitliches bundesweites Vorgehen gibt, von der europäischen Ebene ganz zu schweigen, arbeiten viele nebeneinander her. Lange Jahre erfand man das Rad der Kulturlandschaftsinventarisation immer wieder neu. Eine gewisse Zeit lässt sich mit dieser Heterogenität gut leben. Es werden unterschiedliche Ansätze getestet, neue Ideen kommen hinzu, aber irgendwann müsste man sich einig sein, wenn man für größere Räume vergleichbare Daten erheben will. Auf Bundesebene engagiert sich besonders der Bund für Heimat und Umwelt (BHU) für eine Vereinheitlichung der Ansätze, aber es müssten auch die staatlichen Institutionen mitziehen. Und da fehlt es gerade im Bereich der Denkmalpflege an Manpower. Manchmal will man sich einfach auch nicht noch mehr Arbeit am Rande der sogenannten Kernaufgaben machen.

Schmale streifenartige Parzellen kennzeichnen die historische Gewannflur von Kemmern bei Bamberg. Durch die Dreifelderwirtschaft entwickelte sich die vor allem im Südwesten Deutschlands verbreitete Feldform, bei der die Parzellen in einer regelmäßigen Abfolge mit Sommer- und Wintergetreide bestellt werden. Im dritten Jahr wird das Land brach liegen gelassen.  
Kemmern, Felder © Christine Dorn
Schmale streifenartige Parzellen kennzeichnen die historische Gewannflur von Kemmern bei Bamberg. Durch die Dreifelderwirtschaft entwickelte sich die vor allem im Südwesten Deutschlands verbreitete Feldform, bei der die Parzellen in einer regelmäßigen Abfolge mit Sommer- und Wintergetreide bestellt werden. Im dritten Jahr wird das Land brach liegen gelassen.

MO: Wer kümmert sich um den Schutz und die Pflege der erfassten Kulturlandschaften?

Dr. Thomas Gunzelmann: Eigentlich sollten sich alle im Raum tätigen Institutionen, aber auch Privatinvestoren darum kümmern, konkret die Raumplanung mit allen ihren Ebenen, die gestaltenden Akteure wie der Straßenbau und die Flurbereinigung, jetzt aber auch diejenigen, die die Energiewende zu steuern haben. Letztendlich wird es aber davon abhängen, ob Naturschutz und Denkmalpflege rechtlich und finanziell in die Lage versetzt werden, dies systematisch zu tun.

MO: Was kann die Denkmalpflege im Bereich des Kulturlandschaftsschutzes leisten? Mit welchen anderen Disziplinen arbeitet sie dabei zusammen?

Dr. Thomas Gunzelmann: Die Denkmalpflege wird sich - neben der Erfassung - vor allem um die Elemente der historischen Kulturlandschaft kümmern müssen, die bauliche Bestandteile haben, und damit dem klassischen Denkmal-Begriff nahekommen. Nur dafür ist ihr derzeitiges Förderinstrumentarium einigermaßen ausgelegt. Flächenhafte Elemente, wie beispielsweise historische Landnutzungsrelikte, wird man dagegen eher mit den Instrumenten des Naturschutzes und der Landschaftspflege erhalten können. Damit sind schon die beiden wichtigsten Partner auf der Seite der Erhaltung genannt. Die beiden waren ja auch schon einmal unter dem Dach der Heimatschutzbewegung gemeinsam aktiv - wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ansonsten wird die Denkmalpflege mit allen zusammenarbeiten müssen, die Kulturlandschaft verändern wollen. Eine wichtige Aufgabe wird sein, bei diesen Partnern mehr Verständnis für den Wert der historischen Kulturlandschaft zu wecken.

Der rundum mit einer Natursteinmauer umgrenzte Steinberg war seit dem 12. Jahrhundert in Besitz des Klosters Eberbach. Der ausschließlich mit Rieslingreben bestockte Weinberg gehört heute zu den Hessischen Staatsweingütern Kloster Eberbach.  
Kloster Eberbach, Weinberg © Roland Rossner, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn
Der rundum mit einer Natursteinmauer umgrenzte Steinberg war seit dem 12. Jahrhundert in Besitz des Klosters Eberbach. Der ausschließlich mit Rieslingreben bestockte Weinberg gehört heute zu den Hessischen Staatsweingütern Kloster Eberbach.

MO: Kulturlandschaften werden zunehmend auch als Tourismusregionen vermarktet. Wie schätzen Sie ihre ökonomische Bedeutung ein?

Dr. Thomas Gunzelmann: In der Außenperspektive ist diese Sichtweise schon viel weiter fortgeschritten, als wir vielleicht annehmen. Der türkische Kurator Vasif Kortun sprach gerade von Europa als "glamouröser Version von Disneyland" und dass alle dorthin reisen würden, um "sich an der Vergangenheit zu erfreuen." Dies widerspricht insofern meiner Wahrnehmung, als auch das alte und überalterte Europa in vielen Regionen noch immer kräftig dabei ist, seine landschaftlichen Strukturen weitgehend ohne die Beachtung ihrer historischen Werte zu verändern. Die Regionen, die diese Dynamik aber schon zu einem Großteil verloren haben, sind auf jeden Fall gut beraten, die daraus resultierende landschaftliche Stabilität als Alleinstellungsmerkmal zu vermarkten. Echtes Verständnis für landschaftliche und kulturelle Strukturen wird man nur bei einem kleineren Teil der Touristen erwarten dürfen. Dennoch können solche Qualitäten als Standortfaktoren wahrgenommen werden.

MO: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Julia Ricker

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