Interviews und Statements Juni 2011

Interview mit Sonja Hahn

Entschlossene Kirchen

Die Stiftung "Entschlossene Kirchen" möchte dem Problem entgegentreten, dass Besucher gerade bei den kleinen Dorfkirchen vor verschlossenen Türen stehen. Auch Einheimische entdecken so ihre kleinen Architektur-Schätze wieder.

MO: Sie sind Vorsitzende der Stiftung "Entschlossene Kirchen" im Kirchenkreis Zerbst. Wofür steht dieser Name und wie viele der Gotteshäuser zwischen Elbe und Fläming gehören inzwischen der Stiftung an?

Sonja Hahn: Die Stiftung "Entschlossene Kirchen" wurde 2005 gegründet. Wie der Name sagt, sind wir im doppelten Wortsinne entschlossen. Wir - das sind die Gemeinden auf dem Land - wollen die Dorfkirchen ent-schließen, das heißt sie öffnen. Und wir sind entschlossen, diese wunderbaren Bauten langfristig zu erhalten. Wir agieren in einem bewusst begrenzten Gebiet: Der Kirchenkreis Zerbst gehört zu der sehr kleinen Evangelischen Landeskirche Anhalts. Wir kümmern uns dort speziell um die Dorfkirchen, da es für die Unterstützung der meisten Stadtkirchen der Region bereits sehr alte Stiftungen gibt. Von den 61 Dorfkirchen des Kirchenkreises beteiligen sich mittlerweile 45 an der Stiftung "Entschlossene Kirchen".

MO: Als treuhänderische Stiftung unter dem Dach der Deutschen Stiftung Denkmalschutz kümmern Sie sich um Kirchen in immer kleiner werdenden Gemeinden. Wie wichtig ist das Öffnen dieser Bauten, um Menschen (wieder) an sie zu binden? Kommen mehr Einheimische oder eher Touristen?

Sonja Hahn: Erfreulicherweise werden die Kirchen zunehmend sowohl von Besuchern erkundet als auch von Einheimischen wiederentdeckt. Der Kirchenkreis Zerbst liegt fast vollständig im Naturpark Fläming, der Elberadweg und der Lutherweg führen hindurch. Direkt angrenzend finden sich vier Unesco-Welterbestätten: die Lutherstadt Wittenberg, das Dessau-Wörlitzer Gartenreich, das Bauhaus Dessau und das Biosphärenreservat Mittelelbe. Neben so viel Hochkultur und Naturerbe bietet unsere Region Weite und Stille. Der Kontrast wird immer mehr für Ausflüge und Radtouren genutzt.

Die um 1200 erbaute Nicolaikirche im Elbedorf Steckby bei Zerbst wurde 2008 die erste Radfahrerkirche in Anhalt und ist seit Ostern 2009 Stationskirche am Luther-Pilgerweg. 
Steckby, Nicolaikirche © Sonja Hahn
Die um 1200 erbaute Nicolaikirche im Elbedorf Steckby bei Zerbst wurde 2008 die erste Radfahrerkirche in Anhalt und ist seit Ostern 2009 Stationskirche am Luther-Pilgerweg.

Die Einheimischen entdecken dagegen ihre Kirche auf ganz verschiedene Weise neu: Manch einer hat das Gotteshaus in seinem Ort noch nie betreten, da er immer vor verschlossener Tür stand. Außerdem sind viele Menschen nicht getauft. Hier müssen erst Hemmschwellen abgebaut werden - am besten durch eine offene Tür.

Für die meisten spielte die Kirche nie eine besondere Rolle. Sie wissen nicht, was ihre Dorfkirche zu bieten hat. Hier machen wir neugierig darauf, sie zu besuchen. Wir informieren, erzählen ihre Geschichte, wecken Interesse. Dann kann man auch Menschen dafür begeistern, sich um die Kirche zu kümmern.

Wir haben aber auch bereits erlebt, dass Menschen auf ganz besondere Weise angesprochen werden. Eine offene Kirche ist ein Zufluchtsort in Krisensituationen. Sie bietet außerhalb des Gottesdienstes den natürlichen Raum für eine ganz private Auseinandersetzung mit dem Glauben. Für manches Gespräch mit Gott braucht man seine Kirche ganz für sich allein. Dafür muss die Kirche offen sein!

MO: Haben Sie mit dem Öffnen der Gotteshäuser bisher nur positive Erfahrungen gemacht oder gibt es auch negative Vorfälle wie Sachbeschädigungen oder gar Diebstahl?

Sonja Hahn: Aus unseren offenen Kirchen sind mir weder Beschädigungen noch Diebstähle bekannt. Wir beraten allerdings auch jede Gemeinde vor der Öffnung darüber, wie wir derartige Gefahren möglichst gering halten können. Es müssen nicht die barocken Leuchter auf dem Altar stehen, schlichte Leuchter und eine moderne Bibel erfüllen ebenso gut ihren Zweck. Der Aufgang zum Turm und die Stromverteilung lassen sich meist sehr einfach sichern. Zu bedenken ist auch immer das Umfeld der Kirche: Steht sie versteckt und schlecht einsehbar oder mitten im Dorf? Wie viele Menschen können im Alltag ganz nebenbei einen Blick auf das Kommen und Gehen haben? Gab es in dem Ort bereits anderweitig Vandalismusprobleme? Hier ist das ausführliche Gespräch mit dem Gemeindekirchenrat sehr wichtig. Bei Kirchen, die herausragende Schätze bergen - zum Beispiel einen gotischen Schnitzaltar - werde ich nicht empfehlen, sie unbeaufsichtigt zu öffnen.

MO: In unserem Leitartikel erfahren die Leser etwas über die Weihnachtskirche in Polenzko. Was hat es mit den anderen "Themenkirchen" auf sich?

Sonja Hahn: In den meisten Dorfkirchen gibt es nur noch wenige Gottesdienstbesucher. Aber zu besonderen Anlässen sind die Kirchen voll. Also wird ein Höhepunkt im Gemeindeleben ausgearbeitet. Themenkirchen setzen Schwerpunkte. Sie erzählen Geschichten zu den Kirchen, erzählen vom Glauben, machen neugierig, öffnen Augen und informieren. Um wieder Leben in die Kirche zu holen, muss man etwas Interessantes zu erzählen haben. Man braucht ein Thema. Dieses kann sich aus dem Kirchenjahr, dem Bau, dem Patrozinium etc. der Kirche ergeben. Wichtig ist, dass es ein Interesse im Ort gibt. Unsere Stiftung kann Anregungen geben und bei der Planung helfen. Die Umsetzung aber funktioniert nur, wenn im Dorf das Engagement vorhanden ist. Dabei ist es bemerkenswert, wie intensiv über die Themenwahl und die Umsetzung in den Dörfern diskutiert wird. Allein dadurch wird der Kirchenbau wieder ins Bewusstsein der Bewohner zurückgeholt. Der finanzielle Aufwand und das Maß der Veränderungen in der Kirche können sich ganz nach den Wünschen und Möglichkeiten der Gemeinde richten. Meist lassen sich die Konzepte auch schrittweise umsetzen. Das hat zusätzlich den Vorteil, dass das Interesse und die Aufmerksamkeit an dem Projekt wachgehalten werden.

MO: Können Sie zum Beispiel etwas zur Fahrradkirche, Sonnenkirche und Gesangbuchkirche erzählen?

Sonja Hahn: Die Fahrradkirche in Steckby liegt direkt am Elberadweg, einem der meistbefahrenen Radwege in Deutschland. In dieser Kirche steht der Service für die Besucher im Mittelpunkt. Das Angebot reicht vom Rastplatz bis zum Gebet auf Reisen.

In der Dorfkirche von Luso werden historische Gesangbücher und Bibeln aufbewahrt. 
Luso, Dorfkirche © Sonja Hahn
In der Dorfkirche von Luso werden historische Gesangbücher und Bibeln aufbewahrt.

Die Sonnenkirche Pülzig war nicht an das Elektrizitätsnetz angeschlossen. Der Strom für Beleuchtung und elektrische Geräte wird nun hier durch eine eigene Solaranlage generiert. Der sehr kleine Sonnenkollektor ist an einer Schallluke des Kirchturmes angebracht. Durch diese für eine Kirche ungewöhnliche Energieversorgung kam es zu einer regen Beschäftigung der Kirchengemeinde mit dem Thema "Kirche - Schöpfung - Umweltschutz". Auf diesem Wege fand sich auch die eifrigste Kirchenführerin des Ortes - sie ist keine Christin.

Im Inneren dieser Kirchen wurden kaum bauliche Veränderungen vorgenommen, da sie wie bisher für die sakrale Nutzung zur Verfügung stehen sollen.

In der Gesangbuchkirche Luso finden nur noch zu besonderen Anlässen Andachten statt. So bietet sie Raum für ein Projekt, das Platz braucht. Hier werden Bücher gesammelt, die nicht mehr im Gebrauch sind: ältere und alte Gesangbücher, Gebetbücher, Bibeln etc. In vielen Gemeinden und Haushalten gibt es diese Bücher, die nicht mehr genutzt werden, die aber aus Gründen der Pietät nicht weggeworfen werden. Hier liegen sie in allen Bankreihen zur Ansicht für jeden, der darin lesen will. Es sind sehr schöne, sehr persönliche und sehr rührende Bücher darunter. Bei Andachten ist es wunderbar, gemeinsam zu singen und die Lieder nicht nur nach einer Nummer aufzurufen, sondern ihren Namen zu nennen. Dann wird im Inhaltsverzeichnis geblättert und aus den unterschiedlichsten Gesangbüchern gemeinsam gesungen. Hier bekommen die Lieder eine besondere Beachtung.

MO: Werden noch alle Gotteshäuser für sakrale Handlungen genutzt?

Sonja Hahn: Ja, allerdings in sehr unterschiedlichem Maße. Gottesdienste finden in den meisten Dorfkirchen nur noch alle vier bis sechs Wochen statt, da die Pfarrer in dieser Region mit sehr kleinen Dörfern viele Orte betreuen. Seit einiger Zeit werden zunehmend auch Lektorengottesdienste und Laienandachten gehalten. Darüber hinaus haben wir mittlerweile in verschiedene Kirchentouren durch die "Entschlossenen Kirchen" auch kurze Andachten eingefügt, die zu den jeweiligen Themenkirchen passen. Dieses Angebot wird erfreulicherweise sehr gern angenommen.

MO: Denken Sie, dass es bislang zu wenige Ideen für eine erweiterte Nutzung von Kirchen gibt?

Sonja Hahn: Es gibt nicht zu wenige Ideen. Nur müssen die Ideen verbreitet werden, es muss fruchtbarer Boden in den Gemeinden gesucht werden. Auch ist es schwierig, in sehr kleinen Orten mit einer Einwohnerzahl von 50 bis 250 Menschen genug Aktive zu finden, die eine Idee ausgestalten, umsetzen und am Leben erhalten können. Daher ist uns wichtig, die Interessierten in unserem Kirchenkreis zusammenzubringen und gemeinsam an der Umsetzung der Projekte zu arbeiten. Dafür braucht man manchmal einen langen Atem und darf auch Diskussionen nicht scheuen.

MO: Was ist für Sie das Wichtigste, wenn man eine Kirche auf dem Dorf erhalten und so auch nicht praktizierende Christen oder nicht Getaufte für sie interessieren will?

Die neoromanische Jakobikirche in Pülzig wird seit 2005 mit Solarenergie versorgt. 
Pülzig, Jakobikirche © Sonja Hahn
Die neoromanische Jakobikirche in Pülzig wird seit 2005 mit Solarenergie versorgt.

Sonja Hahn: Wir müssen neugierig machen auf das, was die Kirchen zu bieten haben! Wir müssen die Kirchen zeigen. Wir müssen sie erklären, denn die Geschichten, die diese Bauten erzählen, sind heute längst nicht mehr für jeden lesbar. Dabei wird deutlich, dass in jeder Dorfkirche die Weltgeschichte vor der eigenen Haustür zu finden ist. Und auch die persönlichen Geschichten, die Bindungen von Familien über viele Generationen an eine Kirche, erzählen viel über diese kleinen Orte. Denn meist ist die Kirche der älteste Bau im Dorf.

MO: Gibt es aktuelle Projekte?

Sonja Hahn: In allen Dörfern gibt es jemanden, der den Kirchenschlüssel verwahrt. Doch meist trauen sich diese Menschen nicht, Besuchern auch etwas über ihre Kirche zu erzählen. Seit drei Jahren bieten wir gezielt für diese Kirchenhüter einfache, ganz praxisbezogene Kirchenführerseminare an, die sehr gern besucht werden. Mitten in unserem Kirchenkreis haben wir neuerdings ein Dorfkirchenmuseum eingerichtet. In einem historischen Gewerbegebäude, der Garitzer Stärkefabrik, befindet es sich Tür an Tür mit Informationsräumen des Naturparks Fläming. Wir haben das Museum ganz bewusst nicht in einer Kirche angesiedelt, da wir auch kirchenferne Besucher neugierig machen wollen auf unsere kleinen Schätze: die Dorfkirchen.

MO: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Julia Ricker

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