Landschaften, Parks und Friedhöfe Herrscher, Künstler, Architekten
Erst auf mein zweites Klingeln wird die Tür zum Gemeindebüro aufgerissen. Dennoch traue ich mich, die Frage nach einem Stempel für meinen Pilgerpass zu stellen. Eine Mitarbeiterin schnappt sich den Ausweis und verschwindet ins Haus. Hereingebeten werde ich nicht. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs auf dem Lutherweg, und zwar auf der nördlichen Route von Wittenberg über Dessau, Zerbst und Bernburg nach Eisleben.
Die südliche verläuft von dort über Halle nach Wittenberg zurück. Der Pilgerweg ist insgesamt 410 Kilometer lang, besteht aus 40 Stationen und wurde am 28. März 2008 im Rahmen der Lutherdekade eröffnet. Die Veranstaltungsreihe begann fünfhundert Jahre, nachdem Martin Luther 1508 in Wittenberg angekommen war. Sie setzt jedes Jahr einen Themenschwerpunkt - in diesem geht es anlässlich des 450. Todestages von Philipp Melanchthon um Reformation und Bildung - und endet 2017 mit dem Reformationsjubiläum.
Der Lutherweg, der von der Lutherweg-Gesellschaft und dem Regionalen Tourismusverband "TourismusRegion Wittenberg" betreut wird, führt zu den wichtigsten Wirkungsstätten des Reformators in Sachsen-Anhalt. Es lohnt sich sehr, ihn zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erwandern, obwohl er noch in den Kinderschuhen steckt und die Infrastruktur nicht überall funktioniert. Man gelangt zu wichtigen touristischen Zielen des Landes, wie dem UNESCO-Welterbe Dessau-Wörlitzer Gartenreich, und zu vielen Förderprojekten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.
In Wittenberg hat unsere Stiftung bereits Anfang der 1990er Jahre die Sanierung der beiden Cranach-Höfe unterstützt und sie so vor dem Verfall bewahren können. Lucas Cranach der Ältere, der von Kurfürst Friedrich dem Weisen 1505 nach Wittenberg geholt worden war, zählt zu den engen Weggefährten Luthers. Über 45 Jahre lebte der Künstler in der Stadt und baute dort eine der erfolgreichsten Malerwerkstätten seiner Zeit auf. Er war Ratsherr und wurde mehrfach zum Bürgermeister gewählt. In den beiden CranachHöfen wohnte er zusammen mit seiner Familie, malte, betrieb eine Apotheke und gründete eine Druckerei, in der er Luthers Übersetzung des Neuen Testaments illustrierte und verlegte. Sein Sohn Lucas Cranach der Jüngere führte das Werk des Vaters in Wittenberg fort.
Beide Höfe waren Ende der 1980er Jahre in einem derart schlechten Zustand, dass sie abgerissen werden sollten. Engagierte Bürger verhinderten dies. Heute werden die Häuser von Vereinen und Werkstätten belebt. Im Haus Markt 4 finden Wechselausstellungen statt, und in der Schlossstraße 1 gibt es seit letztem Jahr die Cranach-Herberge, die vor allem Zimmer für Gruppen und Familien anbietet.
Die Orte, an denen man in Wittenberg die Geschichte der Reformation erleben kann, sind durch rote Markierungen im Pflaster miteinander verbunden. Sie führen zum Beispiel zum ehemaligen Wohn- und Sterbehaus Philipp Melanchthons, in dem sein Leben und sein Werk in einer Ausstellung gewürdigt werden.
Melanchthon wohnte in unmittelbarer Nähe zu den Luthers, die nach ihrer Hochzeit 1525 in das ehemalige Schwarze Kloster gezogen waren. Bis zu vierzig Personen sollen zeitweise mit ihnen dort gelebt haben - Familienangehörige, stellenlose Prediger, geflohene Nonnen und weitere Hausgäste. Das Lutherhaus ist seit 1883 ebenfalls Museum, in dem man auch Einblicke in den Alltag Katharina von Boras bekommt. Sie brachte dort sechs Kinder zur Welt und organisierte den großen Haushalt.
Die Schilder mit dem grünen gotischen "L", die auf den Lutherweg hinweisen, führen mich bei strahlendem Sonnenschein aus der Wittenberger Altstadt hinaus. Entlang der Elbe komme ich zunächst zur Gartenstadt nach Piesteritz. Sie wurde 1916-19 für die Beschäftigten eines Stickstoffwerkes errichtet und in den 1990er Jahren auch mit Mitteln der Deutschen Stiftung Denkmalschutz saniert. Als ich einige Kilometer durch das angrenzende Industriegebiet neben einer recht befahrenen Straße zurücklegen muss, sehne ich mich nach der beschaulichen Ruhe zurück, die in der autofreien Siedlung herrscht und ihr einen dörflichen Charakter verleiht. Weite Blicke über die Elbauen entschädigen mich aber schon bald für den Lärm.
Der Lutherweg verläuft ein gutes Stück parallel mit dem Elbe-Radweg, dem beliebtesten Fernradweg Deutschlands. Daher sind die Radfahrer, mit denen ich ins Gespräch komme, auch zwischen Bad Schandau und Cuxhaven unterwegs.
In Coswig treffe ich dann die erste Pilgerin, die sich nicht mit dem Rad, sondern zu Fuß auf Luthers Spuren begibt. Sie ist Wittenbergerin und nimmt sich jedes Jahr eine dreiwöchige Auszeit vom Alltag. "Ich habe bereits den St. Jakobus-Pilgerweg in mehreren Etappen nach Santiago de Compostela zurückgelegt und freue mich, dass ich nun die Möglichkeit habe, meinen Weg sozusagen vor der Haustür zu beginnen." Sie kennt viele Stationen, die am Lutherweg liegen, hat diese aber mit dem Auto besucht. Sie ist wie ich von der unglaublich schönen Landschaft des Biosphärenreservats Mittelelbe begeistert, die man viel intensiver wahrnimmt, wenn man sich in einem gemächlichen Tempo bewegt.
Gemeinsam holen wir uns im Gemeindebüro von St. Nicolai Stempel für unsere Pilgerpässe und besichtigen die Kirche. Eine Mitarbeiterin präsentiert uns stolz die Gemälde Lucas Cranachs des Jüngeren und die steinerne Taufe, die der Schweizer Baumeister und Stuckateur Giovanni Simonetti 1701 schuf. Er war viele Jahre als Hofbaumeister des Anhalt-Zerbster Fürstenhofes tätig und wohnte in dem heute nach ihm benannten Simonetti-Haus in Coswig. Man vermutet, dass die phantasievollen Decken-Stuckaturen in dem Gebäude ebenfalls von ihm stammen.
Für mich geht es nun mit dem Rad weiter, vorbei am Coswiger Schloss, dessen Größe von der Zeit erzählt, als es Witwensitz des Hauses Anhalt-Zerbst war. Von 1874 an wurde es als Gefängnis genutzt, und während des Nationalsozialismus waren dort bis zu 900 Häftlinge untergebracht. Viele starben an den unmenschlichen Haftbedingungen.
Der Weg führt nun auf der anderen Seite der Elbe weiter, und eine motorlose Gierseilfähre, die den Druck der Strömung nutzt, bringt mich über den Fluss. Schon bald erreiche ich den Wörlitzer Park, der zwar in keinem Zusammenhang mit Luthers Leben oder Wirken steht, aber wegen seiner Bedeutung die achte Station des Pilgerwegs bildet. Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ließ diese einzigartige Schöpfung im 18. Jahrhundert anlegen. Sie gehört zu den frühesten Landschaftsgärten nach englischem Vorbild auf dem europäischen Kontinent und ist zugleich die Keimzelle des Klassizismus und der Neugotik in Deutschland.
Ich sehe vom Rad aus in der Ferne Seen, Brücken und das fürstliche Schloss. Ich hätte große Lust, hier meine Reise für einige Stunden zu unterbrechen. Aber ich möchte an diesem Tag noch bis Zerbst kommen. Daher setze ich meinen Weg fort und erreiche wenig später den Sieglitzer Park. Er ist wie der Wörlitzer Park Teil des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs und nur zu Fuß oder mit dem Rad zu erkunden. Die Natur ist hier vorherrschend, der dichte, aus jahrhundertealten Eichen bestehende Wald lässt aber immer wieder Blicke auf Parkarchitekturen - einen palladianischen Dianentempel, Statuen und Tore - zu.
Kurz vor einer Anhöhe stoße ich auf die Fundamente eines kleinen Gebäudes, Solitude genannt. Der Fürst ließ es ab 1777 anlegen. Er litt unter rheumatischen Beschwerden und kam mehrfach zu Kuraufenthalten hierher. Das Gebäude besaß ein Kaminzimmer, ein Kabinett, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer, in das warmes Wasser durch ein ausgeklügeltes Röhrensystem geleitet wurde. Von der Solitude aus sind es nur wenige Kilometer bis zum Luisium, das der Fürst für seine Frau Luise errichten ließ. Den Park, den das klassizistische Landhaus umgibt, durften Einheimische auf seine Anweisung hin nur montags bis freitags, Gäste jedoch jeden Tag besuchen.
Bei Roßlau verlasse ich die Elbe und folge dem Pilgerweg nach Zerbst. Luther hat die Stadt oft besucht und bereits sehr früh vor seinen Ordensbrüdern im Augustinerkloster, aber auch vor den Bürgern gegen den Ablasshandel gepredigt. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Zerbst stark bombardiert und die Nicolaikirche dabei sehr beschädigt. Heute steht die Ruine zusammen mit der benachbarten Trinitatiskirche inmitten eines Neubaugebiets. Ein Förderkreis kümmert sich um die Sicherung von St. Nicolai – bis zur Zerstörung die größte Hallenkirche Mitteldeutschlands.
Am Zerbster Schloss, in dem die spätere russische Zarin Katharina die Große einen Teil ihrer Kindheit verbrachte, sind die Kriegswunden ebenfalls noch sichtbar. Es brannte 1945 aus und wurde nach Ende des Krieges teilweise gesprengt. Der Lutherweg bringt mich nun in südlicher Richtung zu der um 1200 errichteten Feldsteinkirche in Steckby. Auch sie ist, wie so viele andere Kirchen, dem heiligen Nikolaus geweiht. Er ist der Schutzpatron der Reisenden, so dass man in Steckby auf die Idee kam, St. Nicolai 2008 zur ersten Radfahrerkirche Anhalts zu machen.
Im
Kirchenraum hängt eine Deutschlandkarte, auf der man mit einem Klebepunkt
seinen Wohnort markieren kann. Neugierig werde ich von einem Paar dabei
beobachtet, und wir stellen fest, dass wir aus derselben Ecke Deutschlands
kommen: sie aus Kerpen, ich aus Bonn. Wir gehören damit zu den elf Prozent
Besuchern, die 2008 und 2009 aus Nordrhein-Westfalen stammten. Insgesamt haben
rund 4.700 Gäste ihre Wohnorte markiert, die meisten waren Sachsen, einige
Schweizer, Österreicher und Niederländer.
Vom Lutherweg haben diese Kerpener noch nichts gehört. Sie sind auf dem Elbe-Radweg unterwegs, auf den ich in Steckby erneut gestoßen bin. Wir verabschieden uns, denn sie fahren weiter Richtung Norden, ich die wenigen Minuten zur ruhig dahinfließenden Elbe nach Süden. Auf einer Fähre geht es wieder auf die andere Seite des Flusses, und über Reppichau, dem einzigen Freilichtmuseum für deutsche und europäische Rechtsgeschichte, nach Köthen. Die Stadt verbindet man vor allem mit dem Wirken Johann Sebastian Bachs, so dass die im Schloss untergebrachte Bach-Gedenkstätte zu den vierzig Stationen des Lutherwegs gehört. In dieser Stadt kann man ebenfalls Spuren der Reformation entdecken, führte Fürst Wolfgang doch in Anhalt-Köthen bereits 1525 den lutherischen Glauben ein.
Nur wenige Kilometer westlich von Köthen, in Wohlsdorf, liegt gewissermaßen die Keimzelle des Lutherwegs. Der Landwirt Wolf von Bila, dessen Frau Ursel eine Nachfahrin von Luthers Bruder Jacob ist, hatte vor ein paar Jahren die Idee, Wittenberg und Eisleben durch einen Wander- und Pilgerweg miteinander zu verbinden. Er baute einen Pferdestall zur Herberge um und stellte gemeinsam mit seinem Onkel Mittel für die Restaurierung der Dorfkirche bereit.
Und dann bin ich auch schon bald in Bernburg und bestaune das beeindruckende Panorama der Stadt: Hoch oben über der Saale thront das mächtige Residenzschloss der Fürsten und Herzöge zu Anhalt-Bernburg. Von dort aus verläuft der Pilgerweg zunächst beidseits der Saale und folgt damit dem Pfad des Saale-Radwanderweges. Ich fahre durch idyllische kleine Orte und komme schließlich nach Wettin, wo mich das grüne „L“ weg vom Fluss nach Höhnstedt bringt. Dort kreuzen sich der nördliche und der südliche Teil des Lutherwegs.
Entlang des „Süßen Sees“ erreiche ich Unterrißdorf, Luthers berühmte „Kalte Stelle“. Ende Januar 1546 war der Reformator auf dem Weg nach Mansfeld, wo er einen Streit der dortigen Grafen schlichten wollte. „... wir mussten durch ein Dorf hart vor Eisleben“, schreibt er an seine Frau, „und wahr ist, als ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen hinein auf den Kopf durchs Barett, als wollt mir das Hirn zu Eis machen.“ Es war Luthers letzte Fahrt, denn kurz darauf, am 18. Februar 1546, starb er in Eisleben.
Diese Stadt sollte eigentlich mein nächstes Ziel werden. Doch ich beschließe, zunächst einen Abstecher nach Mansfeld zu machen. Martin Luther war erst ein halbes Jahr alt, als er mit seinen Eltern dorthin zog. Sein Vater hatte in einem Bergwerk Arbeit gefunden, kam in der Stadt zu einigem Wohlstand und wurde später sogar Ratsherr. Martin Luther besuchte in Mansfeld die Lateinschule, die er später als „Eselsstall und Teufelsschule“ voller „Tyrannen und Stockmeister“ bezeichnen wird. Sie gibt es heute nicht mehr, wohl aber die Stadtkirche St. Georg, in der er als Ministrant diente. Meine letzte Etappe führt mich nun wieder nach Eisleben zurück, wo Martin Luther am 10. November 1483 geboren wurde. Sowohl sein Geburts- als auch sein Sterbehaus existieren noch, beide sind heute Gedenkstätten und gehören zusammen mit dem Luther- und dem Melanchthonhaus in Wittenberg zum UNESCO-Welterbe. In Eisleben findet man weitere Spuren von Luther in St. Petri-Pauli, wo er einen Tag nach seiner Geburt getauft wurde, und in der Andreaskirche, in der er am 15. Februar 1546 seine letzte Predigt hielt.
„Die im
Ministerium“, bekomme ich in St. Andreas zu hören, „denken sich immer was Neues
aus, aber die Infrastruktur schaffen sie nicht.“ Daher gibt es dort auch keinen
passenden Stempel, nur einen des St. Jakobus-Pilgerwegs – er kreuzt in Eisleben
den Lutherweg –, der in meinen Pilgerausweis gedrückt wird. Das hätte Martin
Luther sicher nicht gefallen, denn er lehnte das Pilgern nach Santiago de Compostela
ab. „... lauf nicht dahin“, wetterte er, „denn man weiß nicht, ob Sankt Jakob
oder ein toter Hund oder ein totes Ross da liegen. Lass reisen, wer will, bleib
du daheim.“
Carola Nathan
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
Sie sind nur wenige Zentimeter dünn und überspannen dennoch große Hallen. Stützenfrei. Sie sind ingenieurtechnische Meisterleistungen und begeistern durch ihre kühnen Formen.
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
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