Wohnhäuser und Siedlungen Städte und Ensembles Neues Bauen Design Juni 2009 B

Vor 90 Jahren forderte das Bauhaus Revolution - statt Dekoration

"Fasse dich kurz!"

Fasse dich kurz!", prangt in großen roten Buchstaben über dem Schreibtisch ihres zukünftigen Chefs im Frankfurter Rathaus. Die junge Wienerin Margarete Lihotzky erschrickt über diesen Spruch, als sie im Januar 1926 die Klinke zum Büro des Baudezernenten Ernst May herunterdrückt und beherzt eintritt. In diesem Augenblick kann Lihotzky noch nicht ahnen, dass ihr fast 103 Lebensjahre geschenkt würden und sie in hohem Alter als Erfinderin der Frankfurter Küche und erste Architektin Österreichs gewürdigt werden sollte.

Frankfurt am Main, die unter Denkmalschutz stehende May-Siedlung in der Römerstadt. 
© E. Lixenfeld
Frankfurt am Main, die unter Denkmalschutz stehende May-Siedlung in der Römerstadt.

May, ein Hüne mit kräftigem Händedruck, ist mit Anfang vierzig mehr als zehn Jahre älter als sie und hat sich als Stadtplaner in Breslau längst einen Namen gemacht. Durch einen Zufall hatte May die Entwürfe der Studentin für Einbaumöbel wenige Jahre zuvor in ihrem Wiener Atelier gesehen und sofort gewusst, dass er diese sozial engagierte junge Frau mit dem Bubikopf für das größte Wohnungsbauprojekt brauchte, das die Stadt Frankfurt je gesehen hatte: Die Avantgarde der Architekten sollte unter Mays Leitung Wohnungen und Häuser bauen, und zwar schnell, schön, praktisch, citynah und im Grünen gelegen, dazu billig - denn sie bauten für die Stadt. May bot Lihotzky das Dreifache dessen, was sie sich an Gehalt vorstellte. Ein Traum für die Wienerin, die nur einen Berufswunsch kannte: Sie wollte als Architektin arbeiten, wollte bauen. Doch eine Frau auf der Baustelle - das gab es bis dahin nicht.

Oberbürgermeister Landmann greift durch

Gleich um die Ecke von Mays Dezernat lag die größte gotische Altstadt Deutschlands, von der damals niemand ahnte, dass sie als Folge des Wahlergebnisses vom 30. Januar 1933 nur wenige Jahre später vollständig im Feuersturm untergehen würde. In dieser Fachwerkaltstadt konnten die Architekten - Lihotzky war die einzige Architektin im Hochbauamt - tagtäglich die Bedingungen erleben, unter denen arme Menschen in der Großstadt lebten, während die Einkaufsmeile Zeil mit prachtvollen Kaufhäusern lockte. Für May war klar, dass die Sanierung der Altstadt warten musste, denn die Liste der Wohnungssuchenden wurde täglich länger. Für die wenigsten Arbeiterfamilien gab es in den völlig überbelegten Mietsblöcken ein Bad. In Stadtteilen wir Bornheim und Bockenheim konnte man sich für zehn Pfennig in öffentlichen Brausebädern duschen. Die Geldbeutel waren leer, der Arbeitstag lang und schwer, und der Schock über den verlorenen Weltkrieg saß allen in den Knochen. Manch avantgardistischer Architekt würde heute irritiert fragen: Und - was soll ich dagegen tun?

Das ernst-may-haus ist ein Reihenhaus, das die ernst-may-gesellschaft e.v. mit Hilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in den Zustand von 1926 rückbaut. 
© E. Lixenfeld
Das ernst-may-haus ist ein Reihenhaus, das die ernst-may-gesellschaft e.v. mit Hilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in den Zustand von 1926 rückbaut.

Vieles, hätte ihm Mays Chef, der tatkräftige Oberbürgermeister Ludwig Landmann, geantwortet, denn wer in Mietskasernen ohne Licht, Luft und sauberes Wasser haust, wird krank und kann seine Kraft nicht mehr in unserer jungen demokratischen Republik einsetzen. Man bedenke die hoffnungsvollen Anfänge der Zwanziger Jahre: Nach dem verlorenen Krieg wurde im November 1918 die Weimarer Republik ausgerufen, der letzte Kaiser dankte ab und beendete das Zeitalter der Monarchie in Deutschland. Während der Adelsstand 1918 abgeschafft wurde, erhielt endlich auch die zweite Hälfte der Bevölkerung das Wahlrecht: 1919 durften Frauen zum ersten Mal auf nationaler Ebene wählen. Der Oberbürgermeister der wachsenden Großstadt modernisierte seine Stadtverwaltung, denn nicht zuletzt brauchte er städtische Architekten, die sich selbst um ihre Baustellen kümmerten. Weil es galt, keinen Tag zu verlieren, sorgte Landmann pragmatisch dafür, dass May sich seine Mitarbeiter aussuchen durfte und die Informations- und Verantwortungskette von oben nach unten so kurz wie möglich war.

Der Mythos Bauhaus strahlt von Dessau auf Europa aus

Die Namen der fast 40 Architekten, die unter May für die Stadt bauten, lesen sich heute wie ein Who-is-Who der Avantgarde des 20. Jahrhunderts: Martin Elsaesser, Ferdinand Kramer, Walter Gropius, Mart Stam, Adolf Meyer, Herbert Boehm, Hans Leistikow, Eugen Kaufmann, Eugen Blank, Margarete Lihotzky und viele mehr. Rückblickend erfüllten sie in nur fünf Jahren mehr als das Soll: Mays Dezernat baute mehr als 12.000 Wohnungen und Häuser - und zwar allesamt als Gartenstädte im Grünen an das Frankfurter Zentrum angebunden, jede Wohnung mit Bad, Küche und fließendem Wasser ausgestattet, wobei außerdem die Siedlung Römerstadt die erste voll elektrifizierte Siedlung in Deutschland war.

UNESCO-Welterbe in Dessau: Eines der wiederhergestellten Meisterhäuser von Walter Gropius 
© R. Rossner
UNESCO-Welterbe in Dessau: Eines der wiederhergestellten Meisterhäuser von Walter Gropius

Die unter May entstandenen 20 Siedlungen mitsamt Schulen, Krankenhäusern, Kindergärten und Kirchen wären nicht denkbar ohne zwei Denkmodelle: zum einen das Konzept der englischen Gartenstädte, und zum anderen das Konzept der Typisierung, des Bauens in Serien - was heute selbstverständlich ist. Beides war Margarete Lihotzky durch die großen Wiener Siedlungsprogramme bestens vertraut. In Deutschland war der Gedanke, die Gestalt der Alltagsdinge zu vereinfachen und damit den Herstellungsprozess zu reduzieren, und Lampen, Möbel, Besteck, Geschirr, Klinken, ja ganze Häuser in Serie industriell herzustellen, am Bauhaus in Dessau wie in einem Schmelztiegel zusammengekommen. Das Bauhaus selbst existierte zwar als staatliche Ausbildungsstätte kaum zwölf Jahre, zunächst in Weimar, dann in Dessau und zuletzt in Berlin, traf jedoch mit seinem publizierten Manifest bei der Gründung im Jahr 1919 durch Walter Gropius genau den Nerv der jungen Generation nach dem Krieg und zugleich den herrschenden Bedarf der Gesellschaft - und zwar länderübergreifend, europaweit.

Die Fassade des Dessauer Bauhausgebäudes 
© R. Rossner
Die Fassade des Dessauer Bauhausgebäudes

Die damaligen Künstlerinnen und Künstler, Architekten und Maler spannten durch langjährige Verbindungen von Lehrern und Schülern ein Netz von Bauhäuslern, Mitgliedern des Deutschen Werkbundes und anderer Vereinigungen, die eines gemeinsam hatten: das leidenschaftliche Bedürfnis, besser, zeitgemäßer, menschlicher zu bauen. Die Kontakte bündelten sich in den Hochschulsstädten, drangen von Dessau nach Berlin, Wien, Amsterdam, Köln und Frankfurt am Main. May, Gropius und Kollegen trafen sich auf Tagungen, lobten gemeinsam in Preisgerichten Entwürfe aus und sorgten vor allem dafür, dass ihre Konzepte, Ideen und Reden publiziert wurden und dadurch Breitenwirkung erfuhren. Denn was nützt die spektakulärste Architektur, wenn sie nicht bildtauglich ist? Vor allem, wenn es gilt, Politiker zu überzeugen. May gab selbst seit 1926 die Zeitschrift "Das Neue Frankfurt" heraus, in der die progressiven Wohnideen mit allen Vorteilen erklärt und gleichsam die Bedienungsanleitungen für das Wohnen und Kochen in einer winzigen Küche mitgeliefert wurden. In diesem hauseigenen Sprachrohr publizierte May die Bauhaus-Siedlung in Dessau-Törten von Walter Gropius ebenso wie die Siedlung Am Lindenbaum, die Gropius ab 1930 in Frankfurt-Eschersheim baute.

Das Neue Bauen ist eine soziale Haltung, kein Stil

Das Bauhaus fasste seine Ideen in Zeitschriften und auf Tagungen in so griffige Slogans, dass man allzu leicht die Außenwerbung mit den wirklichen Absichten vermischt. Wenn Freischwinger, Liegesessel, Lampen und gläserne Teekannen heute als Designerstücke den guten Geschmack ihres Besitzers zeigen und als Kunstwerke voll kühler Erlesenheit großzügige Villen mit Glasfassaden zum Pool hin prägen, dann haben diese hochpreisigen Einzelobjekte nur wenig mit den Bauhausvorstellungen von Gropius, Mies van der Rohe oder Meyer zu tun. Sie wollten den Bruch mit der Vergangenheit auf allen Ebenen des Alltags vollziehen, um ihre sozialen Utopien zu verwirklichen; so wie das Kaiserreich soeben abgedankt hatte, so fand man auch seine historisierende Bauweise und die schweren Möbel unerträglich. Farbflächen und Abstraktion auf der Leinwand waren als Kampfansage gegen die akademische Historienmalerei gemeint, Theater, Musik und Dichtung experimentierten mit Sprache, Lautmalerei, mit Licht, neuen Instrumenten und Tönen. Indem der moderne Tagesablauf diskutiert und reflektiert, entstaubt und entmottet wird, geht es um Grundsätzliches im Alltagsverhalten, um die Frage: Wie will ich eigentlich wohnen? Für die Bauhäusler war, wie in der Antike, die Architektur die Mutter aller Künste; alle anderen Künste wurden dem Bauen untergeordnet.

UNESCO-Welterbe in Weimar: Das Haus am Horn entstand 1923 als Bauhaus-Versuchshaus am Rande des Ilmparks. 
© E. Lixenfeld
UNESCO-Welterbe in Weimar: Das Haus am Horn entstand 1923 als Bauhaus-Versuchshaus am Rande des Ilmparks.

Mit dem "Neuen Bauen" wollte man Räume schaffen für den "Neuen Menschen". Und der neue Mensch, das war der souveräne Bürger der demokratischen Gesellschaft, in der Arbeiter und Angestellte die gleichen Rechte und Pflichten besaßen wie Industrielle und Großbürger. Dem Bauhaus ging es um Revolution, nicht um Dekoration. Und Revolution funktioniert nicht mit hochpreisigen, selbstverliebten Einzelstücken für eine kleine Geschmackselite. Deshalb gehört es zum Programm, jeden Produktionsprozess zu beobachten, um ihn zu vereinfachen, damit man billiger und schneller größere Mengen erhält.

Wer in den Zwanziger Jahren als Architekt für die Kommune arbeitete, sah jeden Tag, ob in Berlin, Dessau oder Frankfurt am Main die große Armut und die Folgen epidemisch sich ausbreitender Krankheiten wie Tuberkulose durch unhygienische Wohnsituationen und schlecht beheizbare und belüftete Räume. Die Herausforderung lautete damals wie heute: Wie kann man in Zukunft mehr Menschen sauberes, gesundes, bezahlbares Wohnen ermöglichen? Es geht nur, wenn man den Bauvorgang selbst analysiert, dann rationalisiert, die Maße normiert, wo es möglich ist, die Bauelemente unabhängig von Wetter und Jahreszeiten produziert und sie dann auf der vorbereiteten Baustelle zügig zusammensetzt. Unter diesen Aspekten hatten Schüler und Lehrer des Bauhauses mit einigen Versuchshäusern experimentiert - wie man das in Serie, gleichsam ins echte Leben, übertragen kann, zeigte dann Ernst May mit seinem Generalbebauungsplan für Frankfurt am Main.

Mays Versuchshäuser und der CIAM-Kongress

Mays städtische Abteilung "Typisierung" entwickelte 1926 ein natürliches Material aus Bims und Kies und wendete die damit hergestellten Bauplatten zum ersten Mal in der Siedlung Praunheim bei zehn Versuchshäusern an. Wer heute "Platte" hört, denkt mit Grausen an die Monotonie der Trabantenstädte, mit der man seit den 1950er Jahren auf Wohnungsnot und sanierungsbedürftige Altstädte reagierte, und die nun rückgebaut werden. Doch die vorgefertigte Platte, das bedeutete 1926 eine Revolution im Wohnungsbau.

In Frankfurt am Main wurden unter Leitung des Baudezernenten Ernst May 1926 die ersten zehn Versuchshäuser in Plattenbauweise gefertigt. 
© Archiv Pfotenhauer
In Frankfurt am Main wurden unter Leitung des Baudezernenten Ernst May 1926 die ersten zehn Versuchshäuser in Plattenbauweise gefertigt.

Die ersten Platten für die zehn Versuchshäuser wurden 1926 in einer leerstehenden Halle, dem Haus der Technik, auf dem Frankfurter Messegelände hergestellt; nach dem erfolgreichen Gelingen im Handbetrieb richtete May am Osthafen eine Fabrik für diese Tafelbauweise ein. Mit den dort gefertigten Platten konnte man in wenigen Tagen ein Haus bauen. Die zehn Versuchshäuser, mit denen May seine erste und zugleich größte Frankfurter Siedlung im Stadtteil Praunheim im Herbst 1926 begann, stehen unter Denkmalschutz. Wohnen mussten - oder durften - in diesem Wohnexperiment die Architekten selbst, die das "Frankfurter Montageverfahren" verwirklicht hatten und in Praunheim in kaum drei Jahren bis 1929 genau 1.441 Mietwohnungen schufen, davon die meisten als Einfamilienhäuser. Gestaltprägend waren neben May, der die Gesamtsiedlung entwarf, Herbert Boehm, Eugen Kaufmann, Wolfgang Bangert, Anton Brenner und Margarete Schütte-Lihotzky - seit 1927 verheiratet mit dem Architekten Wilhelm Schütte -, und nicht zu vergessen Leberecht Migge aus Worpswede, der für die Landschaftsplanung und Gartenkonzeption verantwortlich war.

Mit der "Platte" hatte das Frankfurter Hochbauamt 1926 das Werkzeug für die dringend notwendigen Kleinstwohnungen gefunden, das später den Ablauf auf Baustellen nach dem Zweiten Weltkrieg völlig verändern sollte. Mit seinen zehn Praunheimer Musterhäusern von 1926 war May der ideale Gastgeber für die nächste internationale Architekturtagung für das Neue Bauen. Unter dem Namen CIAM - Congrès Internationaux d'Architecture Moderne - hatten 28 führende internationale Architekten im Jahr 1928 in der Schweiz ein Forum, eine Art Denkfabrik, für die europaweit drängenden Fragen des Städtebaus und der Architektur ins Leben gerufen. Zu den 28 Unterzeichnern der Gründungserklärung des CIAM gehörten die Brüder Jeanneret aus Paris, von denen sich der eine den Künstlernamen Le Corbusier gab, Hugo Häring aus Berlin, Hannes Meyer vom Bauhaus Dessau, Mart Stam aus Rotterdam, Sigfried Giedion - und natürlich Ernst May. May hatte mit seiner Mustersiedlung in Praunheim bereits umgesetzt, was die erste CIAM-Konferenz ein Jahr zuvor gefordert hatte, die Rationalisierung, Standardisierung, Vereinfachung der Arbeitsvorgänge als Voraussetzung für soziale Veränderungen.

Häuserzeile in der unter Ernst May entstandenen Römerstadt 
© E. Lixenfeld
Häuserzeile in der unter Ernst May entstandenen Römerstadt

Mays Mitarbeiter bereiteten die dreitägige CIAM-Tagung vor, die vom 24.-26. Oktober 1929 in Frankfurt am Main stattfand. Dadurch bot May den Bauhaus-Ideen seines Kollegen Gropius, dem längst ein konservativer Wind die Luft nahm und die Finanzierung seiner Architekten- und Designerschule bedrohte, ein weiteres internationales Forum.

Die Avantgarde der europäischen Architektur fand sich zur Tagungseröffnung im Frankfurter Palmengarten ein, wurde im Rathaus empfangen, und einige Teilnehmer trafen sich 1929 in der neuen Gaststätte der Praunheimer Siedlung, die bis heute "Zum Neuen Adler" heißt. Insgesamt kamen 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 18 Ländern nach Frankfurt am Main. Unter anderem hielt Walter Gropius einen Vortrag über die soziologischen, biologischen und wohnungstechnischen Grundlagen der Minimalwohnung. Interessant ist, dass sich damals kein Architekt mit "Stil" beschäftigte, sondern alle gemeinsam nach alltagstauglichen Lösungen für den Wohnhausbau suchten.

Als der CIAM-Kongress am 24. Oktober 1929 begann, konnte niemand ahnen, das jenes Datum als "schwarzer Donnerstag" an der Wall Street einging, und mit ihm die Weltwirtschaftskrise begann, die nicht nur dem modernen Bauen ein brutales Ende bereitete. Zu diesem Zeitpunkt war den führenden Köpfen des Neuen Bauens längst klar, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr hatten. Die Sozialutopien des Bauhauses waren hier spätestens 1933 tot. Wer konnte, floh. Glücklicherweise bestanden durch Kongresse wie den CIAM internationale Kontakte, die einige retteten. Für hunderte Architekten folgten Jahre unfreiwilliger Reisen, nach Istanbul, Moskau, London und Amsterdam, viele wurden ermordet oder verbrachten Jahre im Zuchthaus - wie Grete Schütte-Lihotzky, die im Widerstand gegen die Faschisten aktiv war und denunziert worden war - oder sie starben auf der Flucht, wie Frankfurts großer Oberbürgermeister Ludwig Landmann, dem nicht nur Zehntausende eine menschenwürdige Bleibe, und noch mehr ein eigenes Häuschen im Grünen verdanken, sondern der schon damals mit seiner Weitsicht auf die internationale Messe und den Flughafenausbau gesetzt hatte. Und obwohl sich die neue Bauweise mit Bimsplatten bei 204 Reihenhäusern in Praunheim bis heute bestens bewährt, war es eine politische Entscheidung, die meisten Reihenhäuser der May-Siedlungen doch wieder aus Backstein zu mauern. Mit den Platten wären noch mehr Häuser in kürzerer Zeit fertig geworden, doch der Not gehorchend gebot es sich, stattdessen arbeitslose Hilfskräfte von der Straße zu holen und auf den Baustellen zu beschäftigen.

Das weiße Bauen galt 1933 als „undeutsches Bauen”

Nicht nur die neuen Baumaterialien, auch die neue Gestalt rückte in den Zwanziger Jahren in Frankfurt die Konservativen auf den Plan. Schon in den konservativen Kleinstädten Weimar und Dessau hatten weiße Häuser mit Flachdach viel Spott geerntet. Wenn man bedenkt, dass die Frankfurter Altstadt in den 1920er Jahren von gotischen Spitzdächern geprägt war, erscheint Mays Flachdach noch flacher. Ein Flachdach war für viele eben kein Dach, es irritierte die Sehgewohnheiten und verärgerte die Zimmerleute und die Dachdecker-Zunft, die um Lohn und Brot fürchteten. Hinzu kam die Farbigkeit der Architektur, die Kritik auf sich zog. Wie Bruno Tauts Siedlungen in Berlin und die Meisterhäuser von Gropius in Dessau, so bekannten sich auch Mays Zeilenbauten zur Farbe, ohne jedoch grell bunt zu sein: Zu den Straßenseiten hin waren die Häuserzeilen einheitlich backsteinrot, blassblau oder hellgelb verputzt, während sie nach außen hin, in die Landschaft, in einem klaren Weiß erstrahlten und auf Fernwirkung abzielten. Dieses weiße Bauen war in einer Stadt wie Frankfurt eigentlich nichts Neues, denn die Stadt bestand jenseits der Fachwerkaltstadt aus weißen, klassizistischen Häuserzeilen, die damals zum größten Teil noch standen, heute jedoch bis auf einige wenige am Mainufer zerstört sind.

Kochen auf nur sechs Quadratmetern?

Die städtischen Wohnungen und Häuser, die Ludwig Landmann von Ernst May bauen ließ, waren mit spitzem Bleistift gerechnet, denn es ging darum, die Mieten möglichst gering zu halten. Kleine Wohnungen, die kleinsten für eine einzelne berufstätige Person auf nur 25 Quadratmetern, mit Bad, Küche und mit einem vergleichsweise großen, eigenständigen Wohnraum, frei von Kochgerüchen, das war die große Neuerung bei Wohnungen für Arbeiter und Angestellte, die wenig Geld verdienten. Für die Architekten um May und Lihotzky war der separate Wohnraum "eine höhere Form des Wohnens".

Die ernst-may-gesellschaft e.v. hat mit Hilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, der Wüstenrot Stiftung und weiterer Geldgeber eine Frankfurter Küche wieder erlebbar gemacht. 
© B. Staubach
Die ernst-may-gesellschaft e.v. hat mit Hilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, der Wüstenrot Stiftung und weiterer Geldgeber eine Frankfurter Küche wieder erlebbar gemacht.

Um den Wohnraum jedoch so groß wie möglich zu bauen, gerieten die Nebenräume bei der Planung immer kleiner, bis man schließlich bei nur noch sechs Quadratmetern für Bad und Küche ankam. Eine Küche für eine Familie auf nur sechs Quadratmetern? Das war in den 1920er Jahren unmöglich zu vermieten, weil damalige Küchenmöbel einfach nicht hinein passten. Man erinnere sich an Wohnküchen von Arbeiterhaushalten, in denen sich das häusliche Leben in der Küche abspielte, schon deshalb, weil es durch den Herd meist der einzige warme Raum war. Allein ein Kohleherd oder ein Küchenbuffet hätte eine Frankfurter Küche völlig ausgefüllt.

Doch May kannte Grete Lihotzky und ihre frühen Entwürfe für praktische Einbaumöbel, die damals für Privathaushalte unüblich waren. Lihotzky stellte sich vor, dass es für berufstätige Menschen grundsätzlich eine Erleichterung bedeutete, nur mit einem Koffer umzuziehen, weil die Einbaumöbel bereits in den gemieteten Wohnungen vorhanden sind. Tatsächlich war Lihotzky mehrmals in ihrem Leben gezwungen, ohne eigene Möbel zu leben; sie war nur vier Jahre in Frankfurt, viel kürzer etwa als in Moskau. Doch diese vier Jahre drückten ihr einen Stempel auf, der sie später mehrmals empört ausrufen ließ: "Ich bin keine Küche!"

Die berufstätige Wienerin kochte selbst nicht gern - doch gerade dies ermöglichte ihr die distanzierte Beobachterperspektive, die man einnehmen muss, um komplexe Arbeitsvorgänge zu rationalisieren. Lihotzky beobachtete und maß die Wege der Hausfrau in der Küche, stoppte die Zeit, wog die Mengen, analysierte die Handbewegungen von linker und rechter Hand beim Spülen, Abtrocknen, Geschirr einräumen - wie in einem Labor. Dabei ließ sich Lihotzky von dem Buch der Amerikanerin Christine Frederick "The New Housekeeping. Efficiency Studies in Home Management" inspirieren, das Irene Witte 1921 ins Deutsche übertrug und den Titel trägt: Die rationelle Haushaltsführung. Aus diesen Beobachtungen heraus konnte Lihotzky eine Küchenausstattung entwickeln, die passgenau für die neuen Häuser angefertigt wurde und in den Häusern verblieb, auch wenn die Mieter wechselten. Lihotzky selbst gab dieser Erstausstattung, dieser Serienküche, für deren Herstellung es damals mühsam war, Betriebe zu finden, eine Lebenszeit "von 30 bis 35 Jahren". Man kann davon ausgehen, dass sich die Einbauküchen ohne die etwa 15.000 eingebauten Küchen und die publizierten Begründungen dafür nicht durchgesetzt hätten. Lihotzky war eine Pionierin auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Moderne.

Die Frankfurter Küche lieferte die „Marke” für das Neue Bauen

Erst dieses Konzept der eingebauten Küchenausstattung, das Ernst May nicht von Anfang plante, das jedoch die Lösung für ein aufgetretenes Problem bot, dass nämlich der Küchenraum immer kleiner wurde, weil May einen großen Wohn- und Essraum für wichtiger hielt, lieferte das Kernstück, das Erkennungsmerkmal des Neuen Bauens. Rückblickend kann man sagen, Lihotzkys Frankfurter Küche, der Prototyp der Einbauküchen, wurde zur "Marke" für das Neue Bauen.

Beispiel für eine nur vier Quadratmeter große Frankfurter Küche in Frankfurt-Praunheim, die von den Eigentümern liebevoll restauriert wurde. 
© E. Lixenfeld
Beispiel für eine nur vier Quadratmeter große Frankfurter Küche in Frankfurt-Praunheim, die von den Eigentümern liebevoll restauriert wurde.

Nur mit dieser, in jede Wohneinheit fest eingebauten Küche, für die lediglich eine Mark Miete zusätzlich berechnet wurde, konnte die Stadt die Wohnungen überhaupt sinnvoll vermieten oder verkaufen. Und nur dadurch, dass Lihotzky für diese Küche, die für damalige Sehgewohnheiten kaum als solche erkennbar war, die Gebrauchsanweisung mitlieferte, selbst Vorträge hielt und Kochkurse einrichtete, wurden die zukünftigen Mieter - und vor allem die Mieterinnen - davon überzeugt, dass sie hier etwas ganz Besonderes bekamen. Das Neue Bauen wünscht sich neue Menschen, die Frankfurter Küche soll der neuen Frau helfen. Die neue Frau ist die moderne, berufstätige Frau mit politischem Mitspracherecht, die allerdings kein Personal besitzt. Folglich muss sie ihre Arbeit rationell planen, um mehr Zeit für ihren Beruf und für das zu haben, was ihr wichtig ist - sofern sie nicht eine leidenschaftliche Köchin ist, die selbst gern und mit Genuss und viel Zeit isst.

Kochen und Essen wird beim Neuen Bauen nicht als soziales Gemeinschaftserlebnis, sondern als Notwendigkeit gesehen - was es bis heute für die meisten berufstätigen Stadtbewohner sein dürfte. Damals wie heute leben in keiner deutschen Stadt so viele Singles wie in Frankfurt am Main. Lihotzkys Konzept der Küche als "modernes Laboratorium" und reiner Arbeitsküche nimmt vorweg, was heute im Alltag üblich ist: die kleine Zwischenmahlzeit und das schnelle Fertiggericht aus der Mikrowelle. "Fasse dich kurz", rede nicht viel, sondern arbeite gut organisiert und nach ökonomischen Grundsätzen - damit du die Zeit, die dir bleibt, für das nutzen kannst, was dir außer Arbeit und Kochen wirklich wichtig ist.

Angela Pfotenhauer

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1 Kommentare

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    Wagner, Herbert schrieb am 21.03.2016 11:43 Uhr

    Dieser Beitrag sollte all den Giftspritzen gegen den Plattenbau an sich in der DDR mit seinen beispielgebenden Einrichtungen in Küche, Flur und Schlafzimmer die Kanüle abbrechen. Das war sozialer Wohnungsbau, abgesehen von der Baumisere auf der anderen Seite.

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