Interviews und Statements

Interview mit Dr. Agnes Seemann und Dr. Matthias Hünsch

Sterne zum Greifen nah

Über die Bedeutung des fast 100 Jahre alten 1-Meter-Spiegelteleskops in der Sternwarte auf dem Gojenberg in Hamburg-Bergedorf ein Gespräch mit Kunsthistorikerin Dr. Agnes Seemann und Astrophysiker Dr. Matthias Hünsch

MO: Die 1909 bis 1912 entstandene Sternwarte auf dem Gojenberg in Hamburg-Bergedorf ist noch heute mitsamt der technischen Ausstattung nahezu vollständig erhalten und steht seit 1996 unter Denkmalschutz. Vor 100 Jahren galt sie als eine der fortschrittlichsten in Europa. Was machte zu dieser Zeit die besondere Modernität der Anlage aus und wieso ist sie bis heute von Bedeutung?

Dr. Agnes Seemann: Modern war zum einen die Anlageform, das heißt, die Aufteilung der Instrumente auf einzelne, verstreut liegende Gebäude. Das erste Mal war eine solche Gruppenanlage 1879 bis 1886 in Nizza verwirklicht worden. In Deutschland gab es nur ein vergleichbares Ensemble in Heidelberg auf dem Königstuhl, das 1896 bis 1900 entstand. Dieses war schon zur Bauzeit sehr viel kleiner und bescheidener und ist heute stark verändert.

Das Spiegelteleskopgebäude mit geöffneter Beobachtungskuppel im Jahr 1909. 
© Hamburger Sternwarte
Das Spiegelteleskopgebäude mit geöffneter Beobachtungskuppel im Jahr 1909.

Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Übergang von der Astronomie zur Astrophysik vollzog, wurde das Bergedorfer Observatorium mit Instrumenten für beide Forschungsschwerpunkte ausgestattet: Der Große Refraktor zählt mit einem Objektivdurchmesser von 60 Zentimeter bis heute zu den größten Deutschlands. Die von Carl Zeiss entworfene und verwirklichte Hebebühne, die dessen Betrieb erst ermöglichte, war zudem die erste dieser Art, die auf dem europäischen Kontinent entstand. Das ebenfalls von der Firma Carl Zeiss konstruierte 1-Meter-Spiegelteleskop ist eines der ungewöhnlichsten Instrumente innerhalb des Fernrohrbaus. Die Firma Repsold fertigte den Bergedorfer Meridiankreis, mit dem bis in die 1960er Jahre die "Bergedorfer Sternenkataloge" erstellt wurden, die die Grundlage der noch heute verwendeten Koordinatensysteme am Himmel und auf der Erde bilden. Neben diesen großen Fernrohren gehört das funktionsfähige Äquatorial von 1867 zusammen mit seinem ebenso alten, hölzernen Beobachtungsstuhl zu den wichtigen historischen Dokumenten der astronomischen Wissenschaftsgeschichte in Deutschland. Von den modernen Instrumenten ist das Oskar-Lühning-Teleskop mit einer Öffnung von 1,20 Meter das größte der Hamburger Sternwarte und gegenwärtig das zweitgrößte Teleskop in Deutschland. Es wurde in jüngster Zeit so aufgerüstet, dass die Bedienung und Beobachtung per Internet möglich ist.

Es gibt in Deutschland ohne Zweifel andere bedeutende historische Sternwarten, doch die Hamburger Sternwarte ist für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufgrund ihrer Anlageform und repräsentativen Architektur, der instrumentellen Ausstattung, ihrer Bedeutung für die Forschung und ihres guten Erhaltungszustands - zumindest unter den bewahrten Sternwarten in Deutschland - ohne Beispiel.

MO: Welche Bedeutung kommt dem fast 100 Jahre alten 1-Meter-Spiegelteleskop in der Entwicklung von der Astronomie zur Astrophysik zu?

Dr. Matthias Hünsch: Natürlich ist nicht dieses Teleskop allein für den Wechsel zur Astrophysik verantwortlich, sondern es haben mehrere Sternwarten den Wandel der wissenschaftlichen Zielsetzungen aufgegriffen. Potsdam und Meudon bei Paris waren die ersten Observatorien, die sich hauptsächlich der neuen Aufgabe stellten. Andere, wie auch Bergedorf, betrieben noch für längere Zeit klassische (Positions-)Astronomie und moderne Astrophysik nebeneinander her.

Mit dem 1-Meter-Spiegel fotografierte Walter Baade Sternhaufen, Gasnebel und Galaxien. 
© ML Preiss
Mit dem 1-Meter-Spiegel fotografierte Walter Baade Sternhaufen, Gasnebel und Galaxien.

Sowohl Potsdam als auch Meudon hatten anfangs eine für die astrophysikalischen Beobachtungsaufgaben eher unzureichende instrumentelle Ausstattung. Beide besaßen einen großen Doppelrefraktor als Hauptinstrument, der jedoch für fotografische und spektroskopische* Beobachtungen eher wenig geeignet war. Auch wenn mit dem Potsdamer Refraktor immerhin der spektroskopische Nachweis der Existenz interstellarer Materie** gelang. Der Grund dafür ist einerseits die lange Brennweite und folglich geringe Lichtstärke der Refraktoren, andererseits der unvermeidbare Farbfehler der Objektive, der die Qualität fotografischer Aufnahmen mindert. Spiegelteleskope haben diese Nachteile nicht. Meudon erhielt schon 1875 einen 1,2-Meter-Spiegel, der anfangs jedoch technisch unzulänglich war. Er wurde später umgebaut und an das Observertoire de Haute-Provence verbracht. Das zur damaligen Zeit führende Instrument in Bezug auf astrophysikalische Beobachtungen war der 1,5-Meter-Spiegel auf dem kalifornischen Mount Wilson, der 1908 in Betrieb ging.

Die Anfänge der Astrophysik liegen eigentlich schon in den ersten spektroskopischen Beobachtungen Fraunhofers um 1810 bis 1820, aber erst mit dem Bau großer Teleskope mit Glasspiegeln ab etwa 1870 konnten sowohl Fotografie als auch Spektroskopie von astronomischen Objekten in größerem Umfang durchgeführt werden. Der Bergedorfer 1-Meter-Spiegel ist also nicht das erste und einzige Teleskop, das für den Umbruch steht, wohl aber ein wichtiges und frühes Element dieser Entwicklung. Die bedeutendsten Arbeiten mit diesem Instrument fanden in den 1920er Jahren unter Walter Baade statt.

MO: Das 1-Meter-Spiegelteleskop ist in einem Bau mit Stahlblech-Kuppel untergebracht. Der 1998 gegründete Förderverein Hamburger Sternwarte e. V. engagiert sich aktuell für die Restaurierung des Fernrohrs und seines Gehäuses, wobei er auf die Unterstützung der MONUMENTE-Leser hofft. Welche Arbeiten sind zur Rettung dieses technikgeschichtlich einzigartigen Monuments notwendig?

Rostschäden und abblätternde Farbe am Kuppelgebäude sind nicht zu übersehen. 
© ML Preiss
Rostschäden und abblätternde Farbe am Kuppelgebäude sind nicht zu übersehen.

Dr. Agnes Seemann: Es ist geplant, in zwei Schritten zunächst das Gebäude zu sanieren, bevor in einem dritten Schritt die Sanierung des 1-Meter-Spiegels vorgenommen werden kann. Im ersten Bauabschnitt soll der Baukörper von oben gegen eindringendes Wasser abgedichtet und dieses durch die Reparatur bzw. die Erneuerung der Regenrinnen vom Gebäude abgeführt werden. Durch Sandstrahlen muss die alte Farbe auf der Kuppel entfernt und der Rostbefall gestoppt werden, danach kann ein Neuanstrich nach historischem Befund erfolgen. Im zweiten Bauabschnitt sollen die Wasserschäden behoben, Kellerwände abgegraben, abgedichtet und eine Drainage hergestellt sowie der gesamte Bau von der schädlichen Latex-Farbe befreit und mit einem Neuanstrich nach historischem Vorbild versehen werden.

MO: Angesichts der gewandelten technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts, man denke etwa an das Hubble-Weltraumteleskop, mag die Ausstattung der Sternwarte heute nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Für welche Forschungsgebiete sind die astronomischen Instrumente weiterhin relevant?

Dr. Agnes Seemann: Die historischen Instrumente werden heute in erster Linie für universitäre Ausbildungszwecke und für die Schul- und Volksbildung genutzt. Am Lippert-Teleskop finden darüber hinaus Testbeobachtungen im Infrarot-Bereich statt, die der technischen Entwicklung von Messapparaturen dienen. Am ausgiebigsten wird das moderne Oskar-Lühning-Teleskop von den Forschern der Universität verwendet und zwar für den Bereich der stellaren Astrophysik. Hier werden photometrische Beobachtungen (= Helligkeits- und Farbmessungen) an bestimmten Sterntypen durchgeführt. Schließlich ist noch das HRT (Hamburg Robotic Telescope) zu erwähnen, das hier technisch erprobt wird und später an einem klimatisch günstigeren Ort (voraussichtlich in Mexiko) aufgestellt werden soll.

Die Beobachtungsgebäude auf dem Sternwartengelände in einer Luftaufnahme von 1911. 
© Hamburger Sternwarte
Die Beobachtungsgebäude auf dem Sternwartengelände in einer Luftaufnahme von 1911.

MO: Wie notwendig ist der Fortbestand des Universitätsinstituts auf dem Sternwartengelände für das Denkmalensemble, und welche zusätzlichen Nutzungsmöglichkeiten kommen für die Gebäude in Frage?

Dr. Agnes Seemann: Es ist äußerst wünschenswert, dass das astronomische Institut auf dem Gelände bleibt, da für die Zukunft eine Kombination aus astronomischer Universitäts-, Schul- und Volksbildung angestrebt wird. Schon jetzt wird die Hamburger Sternwarte zusätzlich durch Schulen und für öffentliche Veranstaltung genutzt. Dies soll in Zukunft, im Rahmen eines Astronomiepark-Konzeptes eventuell in Kombination mit einem Science-Center, noch ausgebaut werden.

MO: Wie groß ist das öffentliche Interesse an der Bergedorfer Sternwarte und welche Veranstaltungen bietet der Förderverein, um das Augenmerk des astronomisch interessierten Laien auf das Denkmalensemble zu lenken?

Dr. Agnes Seemann: Neben Führungen beim Tag des offenen Denkmals richtet der Förderverein zahlreiche Großveranstaltungen aus, zum Beispiel anlässlich von Sonnen- oder Mondfinsternissen, bei Tagen der offenen Tür und jährlich zur Langen Nacht der Museen und zum Lyrikfestival. Zudem hat er die Ausstellung Weltbild im Wandel konzipiert und führt regelmäßig öffentliche Vortragsveranstaltungen sowie zahlreiche Führungen für private Gruppen durch. In den Wintermonaten werden auch Beobachtungsabende für Einzelbesucher angeboten. Alle Aktivitäten treffen auf großes Interesse der Öffentlichkeit und sind sehr gut besucht.

MO: Inwieweit ist die große ICOMOS-Tagung im Oktober eine Chance für die Bergedorfer Sternwarte?

Dr. Agnes Seemann: Ziel der internationalen ICOMOS-Tagung im Oktober ist es, internationale Partnersternwarten aus der Zeit um 1900 für eine gemeinsame Bewerbung für das UNESCO-Weltkulturerbe zu finden. Allein schon die öffentliche Ausstrahlung dieser Tagung und die Beschäftigung mit dem Thema Sternwarten wird dazu beitragen, die Bedeutung dieses kultur- und wissenschaftshistorischen Schatzes deutlich zu machen. Sollte darüber hinaus eine Bewerbung um das UNESCO-Weltkulturerbe daraus erwachsen, wäre das für die Zukunft der Hamburger Sternwarte sicherlich eine große zusätzliche Chance.

Das Interview führte Julia Ricker

Dr. Agnes Seemann ist Kunsthistorikerin und arbeitet seit 1993 als Referentin in der wissenschaftlichen Inventarisation des Denkmalschutzamtes in Hamburg. 1998 initiierte sie die Gründung des Fördervereins Hamburger Sternwarte e.V., in dem sie seither als Vorstandsmitglied aktiv tätig ist.

Dr. Matthias Hünsch
ist Astrophysiker und war 1989 bis 2003 in der Forschung und Lehre an den Universitäten Cambridge (England), Hamburg und Kiel sowie am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching tätig. Seit 2008 arbeitet er als Lehrer im Hamburger Schuldienst und wirkt am Schulprojekt "Astronomiewerkstatt Hamburger Sternwarte" mit. Matthias Hünsch ist stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins Hamburger Sternwarte e.V.

* Die Spektroskopie ist ein Untersuchungsverfahren, mittels dessen die Lichtquellen in ihr Farbenspektrum zerlegt werden.

** Materie, die sich zwischen den Sternen innerhalb einer Galaxie befindet, wie zum Beispiel Sternenstaub oder Gas.

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