Kurioses 800 Oktober 2008

Karolingische Malereien im Kloster Corvey

Odysseus in der Kirche

Wer kennt ihn nicht: Odysseus, den getriebenen Helden des Homer zugeschriebenen Epos "Odyssee"? Den König Ithakas, der am Troianischen Krieg teilnimmt und dessen Rückkehr sich zu einer jahrelangen Irrfahrt entwickelt, in der er alle Gefahren und Verlockungen mutig, schlau, wortgewandt und von den Göttern geprüft übersteht.

Odysseus kämpft gegen Skylla. Der Held steht auf dem Schwanz des Meeresungeheuers, das einen von Odysseus' Gefährten im Arm hält. 
© Roland Rossner
Odysseus kämpft gegen Skylla. Der Held steht auf dem Schwanz des Meeresungeheuers, das einen von Odysseus' Gefährten im Arm hält.

Seine Abenteuer sind Bestandteil des griechischen Sagenstoffes, der bis heute fasziniert und in Literatur, Musik, Theater und bildender Kunst verarbeitet wird. Dennoch verwundert es, Odysseus in einem christlichen Gotteshaus zu entdecken. In der Kirche des 822 gegründeten Benediktinerklosters Corvey bei Höxter ist der Ithaka-König in einer karolingischen Wandmalerei dargestellt. Er ist ein Held, ohne Zweifel - aber auch ein antiker Heide. Was hat er an durchaus exponierter Stelle in der mehrgeschossigen Emporenkirche zu suchen, die das 873-85 errichtete Westwerk der Klosterkirche birgt? Die Entdeckung der Malereien im ehemaligen Kloster Corvey, das unter den Karolingern eine bedeutende Glaubensbastion im Osten des fränkischen Reiches sein sollte, gab den Anlass zu jahrzehntelanger Forschungsarbeit, die von der Wissenschaftlerin und Denkmalpflegerin des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Hilde Claussen, zuletzt 2007 publiziert wurde.

Die heute nur noch schwer lesbare Szene aus dem 9. Jahrhundert ist Teil eines Bildprogramms, das vermutlich in einem Fries das Hauptgeschoss der Emporenkirche schmückte. Dort kämpft im sogenannten Westraum Odysseus mit der Skylla, einem grauenvollen Meeresungeheuer. Vor ihr hat ihn beim Abschied die verführerische Zauberin Kirke gewarnt. Sie entließ Odysseus von ihrer Insel, nachdem sie den Standhaften ein Jahr lang vergeblich "bezirzt" hatte. In einer Meerenge warten die menschenfressende Skylla und die einen gefährlichen Meeressog verursachende Charybdis auf unbedachte Seefahrer. Um die lauernden Gefahren wissend, steuert Odysseus in sicherer Entfernung an Charybdis vorbei, aber da verschlingt Skylla sechs von seinen Gefährten, ohne dass er dagegen etwas ausrichten kann.

In der griechischen Antike stellte man sich Skylla als ein Mischwesen vor: Der weibliche Oberkörper sitzt auf einem sich windenden Schlangenschwanz, und aus der Hüfte wachsen bis zu sechs fresswütige Hundeköpfe. Auch in der karolingischen Malerei von Corvey ist Skylla so dargestellt, und sie schwingt vermutlich, wie häufig in antiken Darstellungen, ein Ruder über ihrem Kopf, während sie mit einem Arm einen hilflosen Gefährten festhält. Ungewöhnlich hingegen ist, dass der mit einer Tunika bekleidete Odysseus auf ihrem Schwanz steht und mit einer Lanze einem der Hunde ins Maul sticht.

Das Geheimnis der Corveyer Darstellung liegt in der Allegorese, in der sinnbildlichen Deutung dieses Mythos, die seine innere Wahrheit für den christlichen Glauben annehmbar macht. Während in der byzantinischen Kirche die griechischen Textversionen bekannt blieben, ging in der westlichen, der lateinischen Kirche, das Wissen um die originalen Vorlagen unter. Doch die Ehrerbietung für die hohe antike Dichtkunst, die man mit dem Namen Homers gleichsetzte, blieb bewahrt. So wurde Odysseus auch im christlichen Sinn zu einem tugendhaften Helden. Nicht strahlend, sondern menschlich und sozial, mit großem Mut und Gottvertrauen - Odysseus war ein Spielball der Götter - besteht er alle Verlockungen und Prüfungen auf seiner langen und leidvollen Irrfahrt über die Meere.

Schon für die Menschen der Antike, die vornehmlich Küstenschifffahrt betrieben, stellte die Seefahrt auf den unendlichen Ozeanen ein Wagnis dar. So geriet das antike Meer mit seinen Dämonen im Christentum zum sündigen Meer der Welt, auf dem das Schiff der Kirche durch alle Gefahren sicher zum Hafen des ewigen Heils fährt. In diesem Kontext wird Skylla zum lasterhaften, wollüstigen Wesen, das Odysseus ins Verderben ziehen will. Er widersteht ihr ebenso wie den Sirenen, den schönen Frauen mit dem Unterkörper eines Greifvogels, die mit ihrem betörenden Gesang ins Unheil locken. Auch hier sind die Männer gefeit, indem sie sich Wachs in die Ohren stopfen und Odysseus sich als Kapitän des Schiffs an den Mastbaum fesseln lässt. Der Mastbaum wird zum Kreuz, an dem der Gläubige festhält, um die Prüfungen zu bestehen.

So war es vermutlich auch in dem Figurenfries im Kirchenraum des Corveyer Westwerks gemeint. Denn außer den wenigen, nur zu erahnenden Resten eines Delphinreiters, Delphinen, einem Meer-Kentauren und zwei Schiffen, die sich alle auf einem blauen Band, das Meereswogen symbolisiert, bewegen, ist im Anschluss an die Skylla-Szene eine fragmentarische Sirenendarstellung zu erkennen.

In der altchristlichen Deutung wird der Christ zum Seefahrer, werden Kirche und Seele zu Schiff und Boot, die eine gefährliche Fahrt auf dem Meer des Lebens zu meistern haben. So schreibt der Schriftsteller Methodios (gestorben um 311/12): "Ich aber bin kein Hörer solchen Gesangs, und es verlangt mich nicht, des Sirenenliedes zu lauschen, das da für die Menschen ein Grablied ist. Nein, ich bete darum, ein Ohr zu erhalten für eine göttliche Stimme (...) Und das Endziel möchte ich erreichen, nicht den Tod, sondern ewiges Heil." Auch nach Augustinus (354-430) kann das "gute Schiff der Kirche" nicht untergehen, denn es segle zwischen den Häresien des Arius und Sabellius hindurch wie zwischen Skylla und Charybdis.

In der Verehrung der antiken Schrift- und Baukultur im 9. Jahrhundert, die als karolingische Renaissance in die Geschichte einging, wird auch Odysseus zum Heiligen stilisiert. In Corvey steht er auf dem Schwanz der Skylla - ein Bildtypus, der dem der heiligen Drachentöter Michael und Georg entspricht.

In der zunehmenden Unkenntnis der griechischen Originaltexte wurde der verehrte Mythos im Mittelalter erweitert, verwoben und umgedeutet, so dass die eigentliche Figur des Odysseus verschwand. Erst die Gelehrten des Humanismus und der Renaissance entdeckten die Lyrik Homers in textkritischer Weise wieder.

Szenarien mit Meereswesen sind in mittelalterlichen Gotteshäusern ein durchaus gängiges Bildprogramm. Es gab die unteren und die oberen Wasser, die Tugenden und Laster versinnbildlichen. Doch die wiederentdeckte karolingische Darstellung mit Odysseus als Person ist bislang einmalig und gehört zu den frühesten erhaltenen Darstellungen einer christlich umgedeuteten antiken Meeresmythologie.

Christiane Rossner

Literatur:
Hilde Claussen, Anna Skriver: Die Klosterkirche in Corvey. Wandmalerei und Stuck aus karolingischer Zeit. Bd. 2, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007, ISBN 978-3-8053-3843-1, 522 S., 98 Euro

Sonderausstellung zum Thema
"HOMER - Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst", Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim C5, vom 14.09.2008 bis 18.01.2009.

Eine Rezension des Ausstellungskatalogs lesen Sie hier

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