Landschaften, Parks und Friedhöfe
Dass Ostfriesland neben der Küste auch ein geschichts- und kulturträchtiges Binnenland besitzt, in dem fast jeder Ort eine Sehenswürdigkeit bietet, ist den meisten Touristen unbekannt.
"Wie Irrlicht im Moor, flackert's empor, lösch aus, trink aus, genieße leise auf echte Friesenweise, den Friesen zur Ehr vom Friesengeist mehr."
Ein passender Trinkspruch für einen Kräuterschnaps, den man in Ostfriesland gerne nach Gerichten wie Speckscholle oder Grünkohl mit Pinkel zu sich nimmt. Der Friesen Geist wird allerorts gerne beschworen, und tatsächlich beseelt er die Menschen: Sie sind freundlich, geradlinig, traditionsverbunden und stets für einen Schnack zu haben. Ob das Gespräch nun "Schnack", "Klön" oder "Klönschnack" heißt, hängt vom plattdeutschen Dialekt ab. Und davon gibt es viele, ob um Emden, Aurich, Wittmund, Jever oder Norden - die Ostfriesen mögen ihre Mundart. Das Selbstbewusstsein der Friesen wurzelt tief in ihrer ungewöhnlichen Geschichte, die sich in der nicht minder eigenwilligen Landschaft zwischen Dollart und Jadebusen abspielte.
Gemeinhin reisen Besucher ohne zu halten durch Ostfriesland Richtung Küste, um noch rechtzeitig eine Fähre zu einer der Ferieninseln zu erreichen. Das Binnenland mit seinen Kanälen, den unwirtlichen Mooren, den friedlich weidenden Kühen und Schafen, den Gehöften, Windmühlen und den hohen Windrädern wird kaum wahrgenommen. Lästermäuler behaupten, es sei so langweilig flach, dass man schon Tage vorher sieht, wer zu Besuch kommt.
Doch damit tut man Ostfriesland unrecht. Die Halbinsel bietet zwar keine touristischen Höhepunkte, aber wenn man den Blick öffnet und sich Zeit für das Küstenland nimmt, offenbaren sich dort viele kleine Sehenswürdigkeiten, entwickelt sich seine reizvolle Vielfalt.
Schon die geologische Beschaffenheit ist ein Garant für kulturelle Eigenarten. Von hohen Deichen geschützt, säumt die Küste von der Ems bis zur Weser ein breites Marschband, das sich - im Laufe der Jahrhunderte durch Kanäle, Siele und Schöpfwerke mühsam entwässert und entsalzt - als sehr fruchtbarer Boden erwies. Die Landesmitte dominiert ein flacher Geestrücken, sandig-trockenes Ackerland, das weniger ergiebig ist. Nach Süden trennt ein breites Moorgebiet mit Binnenseen, die "Meere" genannt werden, die ostfriesische Halbinsel vom Hinterland ab. Ein Landstrich, der schwer zu bewirtschaften, noch schwerer einzunehmen war und der über die Jahrhunderte mit viel Knochenarbeit kultiviert wurde. Nicht von ungefähr sind die Menschen dort eigenwillig und hart im Nehmen. Eigenschaften, die schon im 1. Jahrhundert n. Chr. den römischen Geschichtsschreiber Plinius irritierten. Er wusste nicht recht zu sagen, ob das ständig überflutete Gebiet "zum Land oder zum Meer gehört". Auf jeden Fall würden die "beklagenswerten" Menschen auf hohen Erdhügeln leben und müssten sogar Schlamm - er kannte keinen Torf - an der Luft trocknen, um Feuer zu machen. Bald hatten die Friesen den Ruf, tüchtige Viehzüchter, geschickte Händler und wagemutige Seefahrer zu sein.
Nachdem Karl der Große 785 das Reich des Friesenkönigs Radbod zerschlagen hatte, das sich vom Ijsselmeer bis zur Weser erstreckte, zerfiel das Land in viele kleine, bäuerlich geprägte Herrschaften. Das fränkische Reich wurde immer wieder von den Normannen überfallen, und die Friesen hatten die mordenden Angreifer abzuwehren. Das gelang ihnen so erfolgreich, dass ihnen der Kaiser Privilegien gewährte, die sie noch heute als ihr höchstes Gut ansehen: die Friesische Freiheit. Allein dem Kaiser verpflichtet, brauchten sie nur im eigenen Land Kriegsdienst zu leisten, waren keine Leibeigenen und durften ihre Angelegenheiten autonom klären.
So bildeten die Friesen keine feudale Herrschaft aus, sondern mit den sogenannten Sieben Seelanden einen genossenschaftlich organisierten Bund von selbständigen Landgemeinden. Erst ab dem 14. Jahrhundert wurden sie von gewählten Häuptlingen, wie man die örtlichen Machthaber nannte, regiert. Der Bund der Freien Friesen traf sich einmal jährlich nach Pfingsten am Upstalsboom bei Aurich, das noch heute als geheime Hauptstadt Ostfrieslands gilt. An dieser Thingstätte verhandelten die Abgesandten der verschiedenen Stämme über Freiheit, Landfrieden, Aufgaben und Pflichten, die sich vor allem um den Küstenschutz drehten und in den "friesischen Küren", den Gesetzen, festgehalten wurden. Begehrliche Übergriffe auswärtiger Grafen wie derer von Holland, Westfalen oder Oldenburg wurden abgeschmettert, auch dank der Moore im Süden.
So geschlossen die Friesen nach außen hin auftraten, so erbittert kämpften die Häuptlinge untereinander um die Vorherrschaft. Diese ständigen Fehden beendete im 15. Jahrhundert Ulrich Cirksena, nicht nur weil sein Clan sich zum mächtigsten hochgekämpft hatte, sondern weil er vermutlich im Kreise der rauen Gesellen noch einen Hauch von diplomatischem Geschick besaß.
Er schaffte es, fast die ganze ostfriesische Halbinsel zu vereinen und sich 1464 von Kaiser Friedrich III. als Ulrich I. zum Reichsgrafen in Ostfriesland erheben zu lassen. Zwar sicherte der Kaiser den Ostfriesen weiterhin ihre Rechte und Freiheiten zu, die ein Ständeparlament, die Ostfriesische Landschaft, gegenüber Adel und Klerus zu wahren suchte, aber das Ende des Häuptlingswesens war eingeleitet. Der stolze Gruß: "Eyla Frya Fresena - Seid gegrüßt, Freie Friesen!" wurde zum geflügelten Wort, das noch heute allenthalben zitiert wird. Selbstverständlich ist die Ostfriesische Landschaft bis in unsere Tage aktiv, als kommunaler Verband, der sich engagiert für die friesische Kultur einsetzt.
Nur ein Gebiet widersetzte sich den Herrschaftsansprüchen der Cirksenas. Maßgeblichen Anteil daran hatten ihre unglückliche Heiratspolitik und das schlaue Fräulein Marie von Jever. Tief gekränkt, weil Enno Cirksena sie 1530 als Braut verschmähte, regierte die kinderlose Tochter aus der mächtigen Häuptlingsfamilie Wiemken bis ins hohe Alter. Sie wusste alle feindlichen Übergriffe abzuwehren, sogar bis über ihren Tod hinaus. Als sie 1575 hochbetagt starb, hatte sie testamentarisch ihren Cousin, den Oldenburger Grafen Johann XVI., als Erben eingesetzt. Bis zu seiner Ankunft wurde ihr Dahinscheiden vertuscht, indem man jeden Tag vor ihr Gemach im Schloss zu Jever ein Tablett mit frischen Speisen stellte, die ein Bediensteter heimlich essen musste. Der Trick funktionierte, und somit waren Jeverland und Wangerland für Ostfriesland endgültig verloren.
Die Oldenburger bezeichneten ihre neuen nördlichen Besitzungen mit Wilhelmshaven, das erst im 19. Jahrhundert zur bedeutenden Marinestadt aufstieg, kurz als Friesland. Bis heute pflegen eingefleischte Ostfriesen und Oldenburger eine herzhafte Abneigung gegeneinander.
Nach dem Tod des letzten Cirksena 1744 machte Friedrich der Große das Gebiet zur preußischen Provinz. Damit begann ein Ringelreihen der Machtverhältnisse: 1806 wurde Ostfriesland Department des Königreichs Holland, 1810 ging es an Frankreich, im Wiener Kongress wurde es Hannover zugesprochen, um 1866 wieder an Preußen zu fallen und schließlich 1946 in das Land Niedersachsen einzugehen.
All diese Veränderungen prallten an den Menschen ab. Was sie jedoch erschüttert und die Gemeinschaft zusammenschweißt, ist bis zum heutigen Tag die unberechenbare Gewalt der See. In der meernahen Marsch lebten sie auf sogenannten Warften oder Wurten, hohen, künstlich aufgeworfenen Erdhügeln, auf denen sie zum Schutz vor dem Wasser ihre Siedlungen errichteten. Auf der höchsten Stelle steht die Kirche, im Kreis darum hocken dicht gedrängt die Häuser. Erst im 11. Jahrhundert begann man mit dem organisierten Deichbau. Wer einmal einen leichten Sturm in Ostfriesland miterlebt, weiß, dass Wetter und Wasser eine ernstzunehmende Angelegenheit für die Friesen ist. Zu viele Menschenleben kosteten die Sturmfluten, zuviel Land holte sich das Meer zurück. Die Marschbauern, deren Äcker an die Deiche grenzten, waren für die Deichwartung verantwortlich. "Wer nich will dieken, der mut wieken". Nach diesem Spruch verfuhr man kurzerhand mit jedem, der beim Deichbau nicht half. Er wurde enteignet und musste weichen.
Ins Moorgebiet wagten sich die Menschen hingegen erst im 17. Jahrhundert. Hier sind die langgezogenen Dörfer der Fehnkolonien zu finden, wo die Menschen unter größten Mühen dem Moor Land abtrotzten, indem sie es durch ein kompliziertes Kanalsystem entwässerten und Torf abstachen. Hergeleitet vom niederländischen "veen" für Moor, reihen sich die Fehnhäuser über viele Kilometer an den Hauptkanälen, auf denen auch der Warentransport betrieben wurde, entlang.
Wo man hinblickt, schmiegen sich die roten Ziegelbauten mit den weißen Fensterrahmen geduckt gegen die steife Brise an den Boden. Verputzte Häuser sieht man selten, dafür bietet der Ziegelstein zu schönen Zierat. Wie in vielen Gegenden Deutschlands sind auch die neueren Wohnhäuser von einer gewissen Eintönigkeit. Vielleicht wirkt hier noch nach, dass bis ins 14. Jahrhundert kein Friese ein Steinhaus von über zwölf Metern Höhe errichten durfte. Mit der genossenschaftlichen Gleichheit und Einheitlichkeit war es erst vorbei, als die Häuptlinge an die Macht kamen. Aus den "festen Häusern" der Häuptlinge entstanden später die stattlichen Herrenhäuser und Wasserschlösser, die heute, oft in wunderbaren Parkanlagen gelegen, stolz Reichtum und Macht zeigen. Der letzte Erbherr in Dornum, Haro von Closter, brachte es auf den Punkt. Er setzte über einen Torbogen seines Barockschlosses den Spruch: "Neid ist mir lieber als Mitleid".
Doch auch die Bauern wussten ihren Wohlstand zum Ausdruck zu bringen. Sie lebten in den sogenannten Gulfhäusern - Scheunenhäusern, die, ob groß oder klein, von Nutzen gegen das raue Klima waren. Unter einem mächtigen, tief herabgezogenen Dach waren Getreide, Vieh, Wirtschaftsräume und Wohnstuben vereint. Gulf bezieht sich auf das Geviert, das den unter der Dachkonstruktion befindlichen großen Erntestapelraum bezeichnet. An diese Scheune schließt sich nahtlos das Wohnhaus der Bauern an, dessen Bauschmuck den jeweiligen Wohlstand der "Polderfürsten", wie sie in der Marsch genannt wurden, repräsentierte.
Doch nicht zu vergessen im Land der Windmühlen und Kanäle sind die zahllosen Dorfkirchen. Obwohl sie viele Jahrhunderte lang keine Herren über sich duldeten, gehört die Religion zum Alltag der Ostfriesen. Zwar hatten die angelsächsischen Missionare Willibrord und Bonifatius im 8. Jahrhundert keinen Erfolg, aber dank ihrer Nachfolger wurden die Ostfriesen dann doch fromm. Jedes noch so kleine Dorf wollte seine Kirche haben. Eiszeitliche Granitfindlinge lieferten den Stein für den Kirchenbau in der Geest, ins steinarme Marschgebiet wurde Tuffstein aus der Eifel per Schiff geschafft, bis die Mönche ihre Kunst des Backsteinbrennens verbreiteten.
Auffällig viele Gotteshäuser stammen noch aus romanischer Zeit und besitzen eine eigenwillige Bauform. Wenn der Baugrund zu weich war, wurden die Glockenstühle freistehend neben den Kirchen errichtet. Es sind keine schlichten aus Holz, sondern wuchtige, quadratisch gemauerte Türme, die dem Wind, der durch ihre Schallöffnungen pfeift, standhalten. Allein 28 Klöster konnte das Land bis zur Einführung der Reformation verzeichnen. Dann ließ Häuptling Enno II. Cirksena sie nach seiner Machtergreifung 1528 plündern und abbrechen. Er brauchte Geld für seine Kriegskasse, aber er legte auch Wert darauf, die Klosterarchive zu vernichten, die sein Unrecht preisgegeben hätten.
Denn die Klöster hatten großen Einfluss auf die regionale Politik und Kultur. Gerne zogen die Häuptlinge die gebildeten Mönche als Schriftführer bei Verhandlungen heran. Das bedeutende Zisterzienserkloster Ihlow, 1228 in der Nähe von Aurich gegründet, war Kanzlei und Archiv der Freien Friesen. Das Siegel der Ihlower Mönche verwendeten sie als Zeichen bei den Treffen am Upstalsboom.
Die Reformation machte die Ostfriesen zu überzeugten Protestanten. So groß wie die Zahl der friesischen Stämme ist auch die Zahl der evangelischen Glaubensrichtungen: Neben Lutheranern und Reformierten gibt es jede Menge evangelischer Freikirchen wie etwa Mennoniten, Baptisten oder Methodisten. Welcher Couleur auch immer, die Gotteshäuser sind sonntags gut besucht.
Adrette Orte und göttlicher Beistand scheinen in der manchmal struppig wirkenden Landschaft den Einheimischen hilfreich. Den Besuchern fällt dies angenehm auf, zumal die Gotteshäuser geöffnet sind. Und wenn eines doch mal verschlossen ist, verraten Zettel an der Pforte, wo der Schlüssel geholt werden kann. In Ostfriesland braucht man Zeit und Muße. Dann erst offenbart sich der Landstrich und entfaltet seinen Zauber. Wie nach einem grauen, regenschweren Sturmtief, wenn die Wolken aufreißen und das Sonnenlicht sich über das Land ergießt.
Christiane Rossner
Info:
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Ihr Weg zu den Sehenswürdigkeiten in Ostfriesland:
Fast 17 Millionen Dollar. Das ist auch für das Auktionshaus Christie's keine alltägliche Summe. Bei 16,8 Millionen Dollar ist im Mai bei einer Auktion in New York für Nachkriegs- und zeitgenössische Kunst der Zuschlag erfolgt, und zwar für - und das ist ebenso ungewöhnlich - ein Bauwerk. Nicht einmal ein besonders großes.
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
In der Dorfkirche von Behrenhoff haben sich eindrucksvolle Darstellungen des Fegefeuers erhalten.
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