Interieur C
Als Mitarbeiter des Leipziger Grassimuseums Ende März 1948 eine wertvolle Chinoiserie-Tapete aus dem zum Abbruch freigegebenen Herrenhaus im sächsischen Zehmen bergen wollten, wurde ihnen der Weg versperrt. Denn der Abriss sollte mit dem auf rund 50.000 Mark geschätzten Erlös aus dem Verkauf der Tapete beglichen werden.
So kehrten die Museumsleute zunächst unverrichteter Dinge nach Leipzig zurück. Doch die "Landeskommission für die Sicherstellung und Verwertung des nichtlandwirtschaftlichen Inventars der durch die Bodenreform enteigneten Herrenhäuser", die die Tapete dem Grassimuseum als Leihgabe überlassen wollte, rief die Zehmener zur Räson. Anfang Juli wurde das wertvolle Stück nach Leipzig transportiert.
Hans Volckmar, ein begeisterter Sammler ostasiatischer Kunst, hatte die Leinwandtapete um 1900 von einer Reise mitgebracht und sie im Herrenhaus seines Rittergutes in Zehmen einbauen lassen. Der Maler ist nicht bekannt, gehörte aber vermutlich zum Umkreis des bayerischen Hofbaumeisters François de Cuvilliés d. Ä. (1695-1768). Denn Motive auf Wandverkleidungen in der Amalien- und der Badenburg im Nymphenburger Schlosspark, die von Cuvilliés entworfen wurden, sind denen der Zehmener Tapete sehr ähnlich. Man weiß, dass der Baumeister nicht nur für den Münchener Hof arbeitete. Daher ist es durchaus denkbar, dass die Tapete nach Nymphenburger Vorbild für das Schloss eines bayerischen Adeligen gemalt wurde.
Die Wandbespannung ist besonders wertvoll, weil sie nicht die üblichen Figurengruppen in dekorativ gerahmten Panneaus, sondern eine sich über mehrere Bahnen erstreckende Phantasiewelt zeigt: Auf kleinen Inseln, die durch Brücken miteinander verbunden sind, stehen zierliche Pagoden, Zelte und elegante Paläste, deren Bewohner, in prächtige Gewänder gekleidet, von Akrobaten unterhalten werden. Jäger verfolgen skurrile Vögel, Insekten, Drachen und andere Ungeheuer. Dennoch vermitteln die Szenen eine heitere und sorglose Atmosphäre - ganz im Sinn des europäischen Chinaverständnisses im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Bahnen der Leinwandtapete befanden sich in keinem guten Zustand, als sie 1948 in Leipzig ankamen. Doch das Museum war finanziell erst in den 1980er Jahren in der Lage, vier kleinere Partien zu sichern, um sie präsentieren zu können.
Während der Sanierung des Grassi-Museums nutzte man die Zeit, um einige Exponate zu restaurieren, darunter auch fünf Bahnen der Tapete. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz beteiligte sich zusammen mit dem Leipziger Unternehmen J.U.S. Aktiengesellschaft für Grundbesitz mit 30.000 Euro an der Sicherung und Konservierung des mit sieben Metern Länge und 2,5 Metern Höhe größten Stücks. Weitere Mittel kamen vom Museum selbst und vom Freistaat Sachsen.
Am 3. Dezember 2007 wird das Museum für Angewandte Kunst im Grassimuseum, das außerdem aus den Museen für Völkerkunde und Musikinstrumente besteht, wieder eröffnet. Die Chinoiserie-Tapete nimmt dann einen ganz besonderen Platz unter den rund 3.000 Exponaten ein.
Carola Nathan
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