Sehen und Erkennen Juni 2007

Wie der Bürgersteig den Bürgerstolz verletzte

Von Freitreppen und Bürgerstolz

Der wirtschaftliche Aufschwung nach der Reichsgründung 1871 hatte eine enorme Zunahme des Straßenverkehrs zur Folge, so dass man sich gezwungen sah, Fahr- und Fußgängerverkehr voneinander zu trennen. Der öffentliche Bürgersteig wurde überall eingeführt, ihm musste der halbprivate Bereich vor den Bürgerhäusern geopfert werden.

Die Danziger Frauengasse zeigt noch heute die historischen Beischläge. 
© G. Kiesow / G. Kiesow
Die Danziger Frauengasse zeigt noch heute die historischen Beischläge.

Er wurde zuvor von den Kellerabgängen, Eingangsstufen zu den Haustüren und Beischlägen - das sind Terrassen mit Brüstungen und Freitreppen vor den Häusern - eingenommen. Der Straßenraum war dadurch viel reicher gegliedert und ausgestattet. Am besten gibt nach wie vor die Frauengasse in Danzig/Gdansk das ursprüngliche Bild eines historischen Straßenraums wieder.


Dass dies heute noch so ist, verdanken wir Karl Friedrich Schinkel. Ihn kann man als den ersten staatlichen Denkmalpfleger bezeichnen, denn er hatte schon 1815 dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. den Vorschlag für die Gründung einer Denkmalschutzkommission gemacht, der allerdings nicht angenommen wurde.

Diese Steinwangen in der Danziger Frauengasse schirmen den öffentlichen vom privaten Bereich ab. 
© G. Kiesow
Diese Steinwangen in der Danziger Frauengasse schirmen den öffentlichen vom privaten Bereich ab.

Stattdessen beauftragte der König aber Schinkel in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Oberbaudeputation mit der Wahrnehmung des Denkmalschutzes. Bei einer Inspektionsreise durch die preußischen Provinzen 1834 freute sich Schinkel, in der vom Frauentor auf den Chor der Marienkirche in Danzig zulaufenden Frauengasse die alten Beischläge vorzufinden, für deren Rettung er fünfzehn Jahre zuvor ein Gutachten erstellt hatte. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurden die Häuser der Frauengasse im heutigen Gdansk von der polnischen Denkmalpflege mit allen Details sorgfältig wiederaufgebaut. Vor den hochliegenden Erdgeschossen der Patrizierhäuser künden die altanartigen Beischläge von dem Bedürfnis der Bewohner, am Leben und Treiben auf der Straße teilzunehmen. Sie waren auch ein Ersatz für die im dicht bebauten Altstadtgebiet fehlenden Hausgärten. Die zum tieferliegenden Straßenniveau herabführenden Treppen und ihre Geländer werden durch Poller in Gestalt steinerner Kugeln oder Baluster vor der Beschädigung durch die Pferdewagen geschützt. Vor einer der Freitreppen stehen zwei Beischlagwangen, hohe, schlanke Steinwangen, offensichtlich Kopien der beschädigten oder verlorenen Originale. Auf ihrer Straßenseite sind qualitätvolle Reliefs - links der Verkündigungsengel und rechts die Jungfrau Maria - unter Kielbogenbekrönungen dargestellt. Sie schirmen den Terrassenbereich an den Seiten dort ab, wo die Bänke für die Hausbewohner zu stehen pflegten. Man wollte sehen, ohne ungewollt gesehen werden zu können.

Die bronzene Beischlagwange am Lübecker Rathaus zeigt einen thronenden Kaiser. 
© G. Kiesow
Die bronzene Beischlagwange am Lübecker Rathaus zeigt einen thronenden Kaiser.

Auf der Ostseite des Rathauses in Lübeck flankieren zwei Beischlagwangen beiderseits des Hauptportals die dort stehenden Bänke. Sie wurden 1452 aus Bronze gegossen und stellen einen thronenden Kaiser und einen Wilden Mann dar, die wohl als Hinweise auf die Reichsfreiheit der Stadt zu deuten sind. Allgemein herrschten aber bei den spätmittelalterlichen Beischlagwangen die religiösen Themen vor, so bei den beiden aus der Zeit um 1520 bis 1530, die man in Stade im Museum aufbewahrt. Auf der einen ist St. Andreas, auf der anderen St. Georg dargestellt, darunter bruchstückhaft noch die Wappen wohl der Hauseigentümer. Diese tauchen auch bei der Apotheke in Lüneburg, Am Sand 16, auf (s. rechte Kopfgrafik). Sie sind von gotischem Rankenwerk umgeben und daher in die Zeit um 1500 zu datieren. Die ursprüngliche Sitzposition der Hausbewohner ist bei diesem Beispiel noch gut nachzuvollziehen, desgleichen beim Haus Am Stintmarkt 12 in Lüneburg, hier malerisch belebt durch die Rosenstöcke.

Rosenstöcke umrahmen diese Beischlagwangen am Lüneburger Stintmarkt. 
© G. Kiesow
Rosenstöcke umrahmen diese Beischlagwangen am Lüneburger Stintmarkt.

Bei diesem Bild kann man Schinkels Bedauern darüber verstehen, dass 1834 in Danzig Grünpflanzen oder Blumen auf den Beischlägen nicht gestattet waren. Einmal darauf aufmerksam gemacht, entdeckt man Beischlagwangen auch in der Fährstraße von Stralsund, in Hameln und anderen Städten, die losgelöst vom ursprünglichen Aufstellungsort häufig als Grabstelen missdeutet werden. Nachdem unsere historischen Stadtzentren verkehrsberuhigt worden sind, werden die Flächen vor den Häusern verstärkt wieder halböffentlich genutzt. Straßencafés grenzt man dabei vielfach durch hölzerne Brüstungen und erhöhte Podeste ab. Es sind dies die Nachkommen der Beischläge, jedoch auf die reine Zweckform reduziert, während man in der historischen Stadt auch jede praktische Einrichtung zur künstlerischen Gestaltung nutzte.

Professor Dr. Dr.-Ing. E. h. Gottfried Kiesow

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