Interviews und Statements Juni 2007

Interview mit Dipl-Ing Matthias P Gliemann

Alte Kirche - neue Nutzung

Das Thema der Umnutzung sakraler Bauten gewinnt gegenwärtig mehr und mehr an Aktualität. Wie soll mit einer Vielzahl von Kirchenräumen umgegangen werden, die heute nicht mehr gebraucht werden? Interview mit Dipl.-Ing. Matthias P. Gliemann, Architekt und Vorsitzender des Thüringer Landesdenkmalrates, über die Umnutzung der Mühlhausener Kirche St. Jakobi zur Stadtbibiothek

MO: Das Thema der Umnutzung sakraler Bauten gewinnt gegenwärtig mehr und mehr an Aktualität, denn angesichts einer schwindenden Finanzkraft sorgen sich die christlichen Kirchen in Deutschland zunehmend um die Erhaltung und den Unterhalt ihrer Gotteshäuser. Sie sehen sich auch mit der Frage konfrontiert, wie mit einer Vielzahl von Kirchenräumen umgegangen werden soll, die heute nicht mehr gebraucht werden.

Nicht wenige Gebäude stehen seit den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges oder nach Säkularisierungen leer und verfallen zusehends.  Welche Gegebenheiten haben in Mühlhausen zur veränderten Nutzung der gotischen Kirche St. Jakobi als Stadtbibliothek geführt?


Matthias P. Gliemann: Die Jakobikirche ist im 14. Jahrhundert als Filialkirche von St. Marien, der Hauptkirche der Oberstadt, erbaut worden und stand immer in deren Schatten. Anfang des 19. Jahrhunderts verschmolz die Jakobi- mit der größeren Mariengemeinde. St. Jakobi wurde 1832 profaniert und ging 1836 in das Eigentum der Stadt Mühlhausen über. Bis 1937 sind noch einzelne Gottesdienste in der Kirche gefeiert worden, danach diente sie verschiedenen Nutzern als Lager. In den letzten Jahren - vor seiner Umnutzung zur Bibliothek - wurde der Bau als Museumsmagazin und Depot für historische Baumaterialien genutzt. In der Vergangenheit gab es verschiedene Bemühungen und Überlegungen, eine neue dauerhafte Nutzung für die Jakobikirche zu finden. So wurde etwa 1973 vom Institut für Denkmalpflege Erfurt eine Nutzungsstudie erarbeitet, die z. B. einen Umbau des Gebäudes zur Ausstellungshalle, Bibliothek, Mehrzwecksaal oder Turnhalle empfahl.

Seit dem Jahr 2004 ist die dreischiffige gotische Hallenkirche ein Büchertempel. 
© ML Preiss
Seit dem Jahr 2004 ist die dreischiffige gotische Hallenkirche ein Büchertempel.

Als die Jakobikirche nach der politischen Wende aus dem Volkseigentum in den städtischen Besitz überging, wurde das Thema einer dauerhaften neuen Nutzung wieder aktuell. In den Jahren 1992 bis 1997 haben wir uns zunächst mit der Instandsetzung der einsturzgefährdeten Türme beschäftigt. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat uns dabei finanziell unterstützt. Mit der Vorbereitung für die Sanierung des Kirchenschiffes musste im Jahr 1997 die Nutzungsfrage endgültig geklärt werden. Da die Stadtbibliothek zu diesem Zeitpunkt an verschiedenen Standorten und in sehr beengten bzw. ungeeigneten Räumlichkeiten untergebracht war, wurde der Vorschlag, sie in die Jakobikirche zu integrieren in den Jahren 1998 bis 2000 vorangetrieben und im Jahr 2001 vom Stadtrat bestätigt.

MO: Als steinernes Zeugnis des christlichen Glaubens ist eine Kirche kein beliebiges Gebäude und bedarf einer entsprechenden Behandlung. Welche Institutionen haben das Nutzungskonzept für die Jakobikirche entwickelt, und hat man sich dabei an anderen Beispielen in Deutschland orientiert?

Matthias P. Gliemann: Das Nutzungskonzept der Jakobikirche ist im Baudezernat der Stadtverwaltung entwickelt worden. Wir suchten damals nach Beispielen für unser Vorhaben und fanden diese in Jüterbog und Müncheberg in Brandenburg. Beide Objekte wurden von uns besichtigt. In den Gesprächen mit den Nutzern konnten wir für unser Vorhaben einiges in Erfahrung bringen. Die Lösungen dieser Bibliotheksnutzungen sind sehr unterschiedlich. Die Kirche in Jüterbog hat nur einen zusätzlichen Emporenneubau zur Regalaufstellung erhalten und wurde sonst kaum verändert. Anders in Müncheberg - hier ist in das Kirchenschiff ein extra Gebäude gestellt worden, das die Bibliothek und einen Tagungsraum beinhaltet. Der verbleibende Kirchenraum und der Chor werden für Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen genutzt. Beide umgenutzten Kirchen entsprachen nicht unserer konkreten Aufgabenstellung, und wir mussten ein individuelles Konzept für die Jakobikirche entwickeln.

MO: Welche baulichen Veränderungen wurden vorgenommen, und wie hat man die Stadtbibliothek in das alte Gotteshaus integriert?

Matthias P. Gliemann: Die Sanierung der Jakobikirche und der Einbau der Bibliothek war eine zweigeteilte Aufgabe. Die Kirchensanierung begann 1992 und endete mit der Eröffnung 2004. Sie wurde vom Hochbauamt der Stadt unter meiner Leitung geplant und durchgeführt.

Wie ein gigantisches Regal fügen sich die drei Etagen des Bibliotheksraumes in den Kirchenbau. 
© ML Preiss
Wie ein gigantisches Regal fügen sich die drei Etagen des Bibliotheksraumes in den Kirchenbau.

Die vollständige Sanierung erstreckte sich von den Fundamenten über die Außenwände bis hin zum Dachstuhl und einer neuen Ziegeldeckung. Dabei erhielt der Dachstuhl zur Aufnahme der Lasten der Haustechnik zusätzliche Hängewerke. Für die notwendigen Zu- und Abluftöffnungen der Lüftungsanlage wurden, statt ursprünglich einer, beidseitig drei Fledermausgauben in die Dachfläche eingebaut. Im Rahmen der Kirchensanierung sind die zum Teil von der Moderfäule stark beschädigten barocken Einbauten, wie der Kanzelaltar, die Seitenempore, die Doppelempore am Westgiebel und der Orgelprospekt, demontiert worden. Der Orgelprospekt ist für spätere Ausstellungen in den Besitz der Mühlhäuser Museen übergegangen. Teile der Emporen und den Kanzelaltar erhielt das Kunstgut-Magazin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Thüringen.

Mit dem leer geräumten und sanierten Kirchenraum waren nun alle Voraussetzungen für die neue Nutzung geschaffen: Der Bibliothekseinbau ist anfangs vom Architekturbüro Winkler + Dehnel und nach der Trennung der beiden Partner vom Architekten Hans Winkler realisiert worden. Grundlage des Entwurfs ist eine offene Lösung, bei der der gotische Kirchenraum erlebbar bleibt und sich interessante Blickbeziehungen zwischen historischen und modernen Bauteilen ergeben. Geschlossen sind die beidseitig, sich konvex in den Kirchenraum verjüngenden Funktionstürme, in denen unter anderem die Büros untergebracht sind, und die durch ihre Form den Blick des Besuchers in den Bibliotheksraum lenken. Eine Stahlkonstruktion - bestehend aus drei Etagen - steht als Solitär im Gebäude. Sie ist mit einem Wandabstand von ca. 90 Zentimetern eingebaut und nimmt zwei Drittel der Kirchenfläche ein - von der Ostwand beginnend. Mit den doppelseitig in Nordsüdrichtung aufgestellten Bücherregalen und den Leseplätzen auf den Ausleihebenen bildet sie das Herzstück der Bibliothek. Die beidseitige Anordnung der Bücherregale in Nordsüdrichtung ist so gestaltet, dass einmal über den zwei Meter breiten Mittelgang eine Blickachse von der Westwand mit den Funktionstürmen bis zum Chor besteht und dass durch den äußeren Umgang auf jeder Ausleihebene ein direkter Kontakt zur Kirchenaußenwand und den Maßwerkfenstern besteht.

MO: Wie nimmt die Öffentlichkeit die neue Funktion der Kirche an?

Der gotische Kirchenraum ist vom äußeren Umgang der Ausleihebenen aus auf eine reizvolle Weise erlebbar. 
© Deutsche Stiftung Denkmalschutz
Der gotische Kirchenraum ist vom äußeren Umgang der Ausleihebenen aus auf eine reizvolle Weise erlebbar.

Matthias P. Gliemann: Schon während der Bauarbeiten an der Kirche war das öffentliche Interesse sehr groß. So konnte beispielsweise zum "Tag des offenen Denkmals" der aktuelle Sanierungsstand bzw. der Stand der Bibliothekseinbauarbeiten besichtigt werden. Nach der Eröffnung entwickelte sich die Jakobikirche schnell zu einem Besuchermagnet. Die Zahl der Bibliotheksnutzer ist um 25 Prozent gestiegen, und die "Bibliothekskirche" wird für die verschiedensten kulturellen Veranstaltungen, wie Lesungen, Ausstellungen, Konzerte und Podiumsdiskussionen genutzt. Im Jahr 2006 fanden Führungen, Ausstellungen bzw. Veranstaltungen statt, zu denen 3.500 Besucher kamen. Der Bibliothekseinbau in die Jakobikirche in Mühlhausen ist, aus meiner Sicht, ein gelungenes Projekt, das für viele umzunutzende Kirchen als Beispiel dienen kann.

 Mehr über das Thema der Umnutzung alter Kirchengebäude können Sie in unserer Ausgabe vom Januar 2005 nachlesen.

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