Wohnhäuser und Siedlungen Herrscher, Künstler, Architekten Oktober 2006

Der Freundschaftstempel von Halberstadt

Ein Abbild für das Zwiegespräch

Ich wollte Ihnen gestern, wie ich versprochen hatte, meines Mannes Bild schicken, es war aber nicht möglich (...)", schreibt Karoline Herder am 15. Juli 1800 aus Weimar. "Hier ist es nun. Es ist zwar um 15 Jahre jünger, u. an der Nase nicht ähnlich; es möge Sie aber an die beßern Jugendzeiten erinnern, wo wir noch nicht so viele graue Haare hatten. Das Bild selbst, als Kunstwerk macht Graf (sic!) Ehre. (...) In Ihrem Herzen aber, Einziger Freund, wird das Original unwandelbar durch Jugend u. Alter feststehen, das fühlen wir unaussprechlich!"

Gleim (Georg Friedrich Adolph Schöner, 1798) und Anton Graffs Herder-Porträt  
© R. Rossner
Gleim (Georg Friedrich Adolph Schöner, 1798) und Anton Graffs Herder-Porträt

Mit diesem Brief geht ein Porträt des Theologen, Philosophen und Dichters Johann Gottfried Herder (1744-1803) auf den Weg nach Halberstadt - an einen guten Freund des Ehepaares Herder, den damals bereits 81-jährigen Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Und dieser wird dem von Anton Graff 1785 gemalten Gemälde einen Ehrenplatz unter den fast 150 Porträts in seinem Wohnhaus geben.

Denn hier unmittelbar neben dem Halberstädter Dom hat sich Gleim ab Mitte des 18. Jahrhunderts einen Traum verwirklicht: Er, der Dichter, der als Domsekretär in Halberstadt meist räumlich getrennt von seinen Freunden - Dichtern und Denkern ganz verschiedenen Alters - lebt, will sie stets um sich versammeln. Und dies nicht nur in ihren Werken und ihren Briefen, sondern auch von Angesicht zu Angesicht. Er selbst nennt diese Gemäldesammlung, die drei Räume dicht an dicht gehängt füllte, seinen Freundschaftstempel.

Einer der Räume des Freundschaftstempels im Halberstädter Gleimhaus 
© R. Rossner
Einer der Räume des Freundschaftstempels im Halberstädter Gleimhaus

Freundschaft und Geselligkeit haben im 18. Jahrhundert einen ganz besonderen Stellenwert. Erstmals die Standesgrenzen zwischen Bürgertum und Adel überwindend, bringen sie gebildete Menschen zusammen. Freundschaftsbünde werden gegründet, in denen Gleichgesinnte sich austauschen, gegenseitig unterstützen und nach einer besseren Welt streben. Das Haus Gleims in Halberstadt wird in dieser Zeit zu einem Zentrum des Freundschaftskultes.

Geboren am 2. April 1719 in Ermsleben bei Aschersleben, verlieren Gleim und seine Geschwister schon früh ihre Eltern. Während seiner Schulausbildung in Wernigerode findet er Unterstützung bei seinem Lehrer Adolf Ludwig von Reinhardt, der in ihm auch das Interesse an der griechischen Lyrik weckt. Ab 1738 studiert er in Halle Jura und gründet dort mit Freunden den Halleschen Dichterkreis. Ihr Vorbild als Lyriker ist der griechische Dichter Anakreon (6. Jh. v. Chr.). Gleims 1744/45 erschienener "Versuch in scherzhaften Liedern" enthält Gedichte, die sich den zu dieser Zeit üblichen Regeln der Dichtkunst widersetzen. Die reimlosen Strophen, durchaus nicht frei von Sentimentalität, richten sich aber auch gegen die pietistische Schwärmerei und Frömmigkeit, die in diesen Jahren in Halle vorherrscht.

Der junge Gleim mit Flöte (Gottfried Hempel, um 1750)  
© R. Rossner
Der junge Gleim mit Flöte (Gottfried Hempel, um 1750)

Mit den "Scherzhaften Liedern" begründet Gleim seinen literarischen Ruf, von dem er sein ganzes Leben lang zehrt. Schiller, Goethe und Lessing eifern ihm in ihrer frühen Lyrik nach. Lessing schreibt auch das Vorwort zu Gleims "Preußischen Kriegsliedern in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier", die dieser während des Siebenjährigen Krieges 1758 veröffentlicht. Sie werden zu seinem populärsten Werk, zum einen wegen der Begeisterung für die Kriegserfolge Friedrichs II., zum anderen aber auch wegen des volkstümlichen Tons, den Gleim in seiner Lyrik trifft. Viele Komponisten der Zeit - wie Carl Philipp Emanuel Bach, Carl Heinrich Graun, aber auch Haydn und Mozart - vertonen seine Gedichte, die immer wieder in den Anthologien und Almanachen der Zeit erscheinen.

Der originale Schreibstuhl des Dichters im Freundschaftstempel 
© R. Rossner
Der originale Schreibstuhl des Dichters im Freundschaftstempel

Doch ab etwa 1760 sinkt Gleims Bedeutung als Dichter. Nach dem Studium und mehreren Tätigkeiten als Hauslehrer und Privatsekretär wird er 1747 Sekretär des Domstifts Halberstadt. Ein zusätzliches Kanonikat am Stift Walbeck sichert ihm weitere regelmäßige Einkünfte, und so kann er in den folgenden Jahrzehnten vorwiegend als Mäzen wirken. Er fördert insbesondere junge Talente - nicht nur durch Vermittlung bei Veröffentlichungen, sondern auch durch direkte finanzielle Hilfen. Großzügige Unterstützung erhalten zum Beispiel Jean Paul, Johann Heinrich Voß, Gottfried August Bürger und Anna Louisa Karsch, die als erste deutsche Schriftstellerin den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder mit Schreiben verdient und die Gleim in leidenschaftlicher Liebe zugetan ist. Gleim erwidert diese Liebe der "Karschin" (1722-1791) nicht, aber dennoch bleiben sie Zeit ihres Lebens Freunde. Noch heute haben sich im Gleimhaus etwa 1.400 Briefe und Briefgedichte erhalten, die die auch als "wiedererstandene Sappho" gefeierte Dichterin zwischen 1761 und 1791 geschrieben hat.

In Gleims Nachlass finden sich neben den Briefen der Karschin etwa 10.000 weitere Briefe der Freunde aus der Studienzeit, der Dichterkollegen Herder, Klopstock, Wieland und vieler anderer Persönlichkeiten.

Im hohen Alter von 83 Jahren stirbt Johann Wilhelm Ludwig Gleim am 18. Februar 1803 in Halberstadt. Selbst ohne Familie lebend - seine Nichte Sophie Dorothea führt ihm den Haushalt -, hat er seinen Nachlass bereits frühzeitig geregelt. 1781 gründet er gemeinsam mit zwei seiner Brüder die Gleimsche Familienstiftung zum Nutzen der Geschwister und ihrer Nachkommen. Für seine Sammlungen verfügt er 1787, dass "ein feuerfestes Haus zur beständigen Aufbewahrung meiner Bücher und Bilder meiner Freunde (...) gebauet werden soll". Galt es doch, neben der Gemälde- und Briefesammlung auch seine umfangreiche Bibliothek mit ungefähr 12.000 Bänden sicher unterzubringen. Nicht nur Autoren des 18. Jahrhunderts sammelte Gleim für sich und seine Freunde - "Gleimii et Amicorum", wie auf seinem Exlibris zu lesen ist -, auch zahlreiche Werke aus vorherigen Jahrhunderten finden sich noch heute in der Bibliothek.

Gleims Wohnhaus aus dem 17. Jahrhundert. Den Anbau rechts ließ Gleim 1751 errichten. 
© R. Rossner
Gleims Wohnhaus aus dem 17. Jahrhundert. Den Anbau rechts ließ Gleim 1751 errichten.

Aus dem feuerfesten Haus wird leider nichts, doch sein Großneffe Friedrich Heinrich Wilhelm Körte nimmt sich des Nachlasses an. 1861 erwirbt die Familienstiftung das Wohnhaus Gleims am Domplatz, und bereits 1862 werden die Sammlungen dort der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit ist das Halberstädter Gleimhaus eines der ältesten Literaturmuseen Deutschlands. 1898 gehen Haus und Sammlungen in den Besitz der Stadt Halberstadt über, die sich dabei auch zur dauerhaften Erhaltung verpflichtet. Heute steht das Gleimhaus, das den wohl vollständigsten Nachlass eines Dichters des 18. Jahrhunderts am historischen Ort beherbergt, in der Trägerschaft des 1990 gegründeten Förderkreises Gleimhaus e. V. Die Briefe- und Handschriftensammlung und die Gleimsche Bibliothek stehen für Forschungszwecke zur Verfügung, das Wohnhaus selbst ist Museum.

Mit Gleims Freundschaftstempel verfügt es über einen ganz besonderen Schatz, der die Besucher anlockt und sie rätseln lässt, welche Beziehungen die dargestellten Personen zu Gleim und untereinander hatten. Leider ist kaum bekannt, wie die Porträts zu Gleims Zeit gehängt waren. Sicher gehörten auch damals schon Wieland und seine Jugendliebe Marie Sophie La Roche zusammen wie auch die Karschin und ihre ebenfalls dichtende Tochter Caroline Luise von Klencke. Aber vermutlich wechselte die Reihenfolge auch häufig, schließlich sammelte Gleim die Porträts über Jahrzehnte. Er bat die Freunde selbst um Bildnisse oder bemühte sich, geeignete Maler zu finden. Es gelang ihm sogar, manchen mit einem Porträt zu überraschen, indem er anderswo bereits vorhandene Gemälde kopieren ließ. Unmittelbar nach Gleims Tod waren einige der Bilder verkauft worden, manche davon kamen später wieder hinzu, andere gingen im 20. Jahrhundert verloren, darunter das Porträt von Moses Mendelssohn, das zur Zeit des Nationalsozialismus entfernt wurde und seitdem verschollen ist.

Die Porträts von Anna Louise Karsch (Karl Christian Kehrer, 1791) und Friedrich Gottlieb Klopstock (Jens Juel, 1779) 
© R. Rossner
Die Porträts von Anna Louise Karsch (Karl Christian Kehrer, 1791) und Friedrich Gottlieb Klopstock (Jens Juel, 1779)

Gleim hatte stets Wert darauf gelegt, dass die Porträts den Dargestellten besonders ähnlich waren, denn die Bilder spielten eine ganz besondere Rolle bei der Inszenierung der Freundschaft. War ein Brief eines Freundes angekommen, so las ihn Gleim vor dessen Porträt, oder er lud gar Gleichgesinnte zu diesem Freundschaftserlebnis ein. Ein Ereignis, von dem er dem Freund dann im Gegenzug berichtete, häufig begleitet von Ausdrücken der Liebe und Zärtlichkeit.

So hat jede Zeit ihre Mittel, Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen. Was heute Telefon, E-Mail und Videos sind, waren zu Gleims Zeit die drei "B": Bücher, Briefe und Bilder.

Dr. Dorothee Reimann

Weitere Infos im WWW:

www.gleimhaus.de

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