Sehen und Erkennen Handwerk Februar 2006
Im Außenmauerwerk großer mittelalterlicher Bauten fallen häufig regelmäßig angeordnete Löcher auf, die sich viele Betrachter nicht recht erklären können. Es handelt sich um Aussparungen zur Aufnahme der horizontalen Tragbalken für die Gerüste. Heute werden die Baudenkmale mit Stahlrohrgerüsten vom Boden aus eingerüstet, was Kosten erfordert, die gelegentlich höher sind als die der nötigen Reparaturen.
Im Mittelalter mauerte man dagegen vom Boden aus soweit hoch, wie die Arme der Maurer reichten, sparte dann oben Löcher aus und schob Balken in das Mauerwerk hinein, auf denen die Gerüstbretter auflagen. Durch Schrägstreben wurde eine Binderkonstruktion geschaffen, die den auskragenden Balken davor bewahrte, abzubrechen oder aus dem Gerüstloch herausgezogen zu werden. Wurde der horizontale Querbalken nicht nur ganz durch das Mauerwerk gesteckt, sondern auch an der Innenraumseite durch ein Zapfenschloss gesichert, hatte die Konstruktion eine so große Festigkeit, dass sie vier Gerüstetagen tragen konnte, wobei die drei oberen Balken nur bis zur halben Mauerstärke im Gerüstloch stecken mussten.
Reichte die Armhöhe von den so geschaffenen Arbeitsetagen zum Mauern nicht mehr aus, steckte man die Gerüstkonstruktion weiter nach oben, nachdem man die Horizontalbalken aus den Löchern herausgezogen hatte. Da man diese nun nicht mehr erreichen konnte, ließ man sie offen stehen, was nicht nur bei Mauern aus Naturstein, sondern noch häufiger bei Backsteinbauten, wie zum Beispiel in Vietlübbe, vorkommt.
In spätere Zeiten störte man sich an den offenen Gerüstlöchern und man hat sie deshalb nachträglich geschlossen, so bei der Stadtkirche von Tribsees, wo man sie bei genauem Hinsehen immer noch erahnen kann. Im Innenraum sind die Löcher unter den Putzflächen und dem Innenanstrich verborgen. Wo beide fehlen, zum Beispiel bei Ruinen, bleiben sie auch von innen sichtbar, so an der Stiftskirche Limburg an der Haardt (bei Bad Dürkheim, Rheinland-Pfalz, s. Kopfgrafik rechts).
Nicht alle Gerüste werden so solide konstruiert gewesen sein, wie sie Viollet-le-Duc in seiner "Encyclopédie médiévale" zeichnete, denn es kam trotz handwerklicher Sorgfalt der Hüttentradition immer wieder zu schweren Arbeitsunfällen. So stürzte der Baumeister der Kathedrale von Canterbury, Wilhem von Sens, 1178 von dem Gerüst, von dem aus er die Bauarbeiten dirigierte. Er überlebte zwar den Sturz schwer verletzt, versuchte auch, den Bau weiterhin vom Krankenlager aus zu leiten, musste aber schließlich als Invalide in seine Heimat zurückkehren.
Der wichtigste Vorteil der von unten nach oben wandernden, auskragenden Steckkonstruktionen der Gerüste gegenüber der Gesamteinrüstung vom Boden bis zur abschließenden Mauerkrone liegt im sparsamen Umgang mit Bauholz, das im Mittelalter äußerst kostbar war. Denn der Bau der unzähligen Kathedralen, Klosterkirchen, Pfarrkirchen und Kapellen verschlang ganze Wälder. Man brauchte Holz nicht nur für die Gerüste und Leitern, sondern auch zum Aussteifen bei der Einwölbung, für die riesigen Dachstühle und Turmhelme sowie für die Herstellung von Holzkohle. Diese war wiederum Voraussetzung für die Gewinnung von Schmiedeeisen als Anker und Windeisen, von Blei für das Vergießen von Fugen, das Kehlen der Dächer und die Bleisprossen der Fenster sowie für die Glasherstellung. Zu den Gründen für die Einstellung des Kathedralbaues im Spätmittelalter werden nicht nur die Unruhen der Reformationszeit, sondern auch der gravierende Holzmangel nach dem zuvor erfolgten rücksichtslosen Abholzen der Wälder gerechnet.
Löcher in den Kappen mittelalterlicher Steingewölbe haben eine ganz andere Bedeutung. Sie sollten wohl zum Luftaustausch zwischen dem meist nasskalten Kirchenraum und dem durch die Sonneneinstrahlung eher warmen und trockenen Dachraum dienen. In der Marienkirche von Greifswald wurden sie in das Dekorationssystem der Gewölbemalereien integriert, indem man sie als Mund für die gemalten Köpfe in den Gewölbezwickeln benutzte. Nur wer davon weiß, kann die Löcher als solche wahrnehmen. Ähnlich ging man mit den Lüftungslöchern in den Gewölben der Katharinenkirche von Brandenburg um. Dies ist charakteristisch für die mittelalterliche Kunst, die sich stets bemühte, das technisch notwendige Detail, wenn irgend möglich, auch künstlerisch auszugestalten.
Prof. Dr. Dr.-Ing. e. H. Gottfried Kiesow
Kopfgrafiken: Gerüstlöcher an San Isidoro im spanischen León (links). Unverputzte Gerüstlöcher im Inneren der Kirchenruine von Limburg an der Haardt (rechts, beide Fotos: G. Kiesow).
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Diese Erklärung der wandernden Gerüste kann man immer wieder lesen. Mir stellen sich dabei praktische Fragen: wie soll man sich das Herausziehen der unteren Tragbalken von der darüber liegenden Gerüstetage vorstellen? Sie konnten ja nicht von der Etage aus herausgezogen werden, deren tragendes Gerüst sie waren. Ferner: wie konnte das Zapfenschloss entfernt werden, nachdem die Mauer über vielleicht 4 Etagen darüber hochgemauert war und man von der Außenseite nicht mehr heran konnte? Schließlich: wenn man über Leiterhöhe hinaus gekommen war, wie kamen die Arbeiter von den Gerüsten in der Höhe wieder auf den Erdboden?
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