Kurioses Oktober 2005

Der Rosenstock am Hildesheimer Dom

Tausend Jahre und kein bisschen müde

Anfang Juni in Hildesheim: Wie in jedem Sommer zieht es wieder Tausende Besucher in den Kreuzgang am Dom, Journalisten und Fotografen drängen sich auf dem kleinen Friedhof um die St. Annenkapelle. Doch nicht allein die bemerkenswerte Architektur wird hier bestaunt, die Menschen betrachten vielmehr ein jährlich wiederkehrendes Wunder und versuchen, es auf Zelluloid zu bannen: Der "Tausendjährige Rosenstock" steht in voller Blüte!

Der „Tausendjährige Rosenstock“ rankt sich am romanischen Chor des Domes empor. 
© ML Preiss
Der „Tausendjährige Rosenstock“ rankt sich am romanischen Chor des Domes empor.

Dieser wundersame Rosenstock wird mit der Gründungsgeschichte Hildesheims in Verbindung gebracht, die im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts unter Verwendung älterer Quellen in der Fundatio Ecclesiae Hildensemensis niedergeschrieben wurde. Bei einem Jagdausflug rastete Kaiser Ludwig der Fromme, der Sohn Karls des Großen, an der Stelle der heutigen Stadt Hildesheim. Um eine Messe lesen zu lassen, wurde ein kostbares Marienreliquiar herbeigeschafft. Bei der Rückkehr nach Elze, wo Ludwig eine von seinem Vater gegründete Kirche zum Bischofssitz erheben sollte, stellte man fest, dass der Verantwortliche das Reliquiar am Rastplatz - an einem Baum hängend - vergessen hatte. Dort fand man es zwar wieder, konnte es aber nicht mehr herabnehmen. Der Legende nach wurde es von den Ranken eines Rosenstocks festgehalten. Ludwig sah darin ein göttliches Zeichen und ließ an diesem Ort um 815 eine Marienkapelle errichten. Auch den neuen Bischof setzte er hier ein.

Später entstand unter den Bischöfen Godehard (1022-1038), Hezilo (1055-1061) und Berthold (1119-1130) anstelle der Marienkapelle der romanische Dom, der seit nunmehr 20 Jahren - zusammen mit St. Michael - zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört. Das Gründungsreliquiar, das vermutlich im Umfeld der Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen entstanden ist, ist eines der wertvollsten Teile des Hildesheimer Domsschatzes. Es ist auch noch bis zum 11. Dezember 2005 in einer Sonderausstellung "Die Macht des Silbers. Karolingische Schätze im Norden" im Hildesheimer Dommuseum zu sehen.

Über das Alter des Rosenstocks ist lange Zeit gerätselt worden. Bei archäologischen Forschungen nach 1945 wurden im Bereich des Wurzelwerks Reste der Krypta des 872 von Bischof Altfried errichteten Dombaus gefunden, den er über der Marienkapelle Ludwigs des Frommen erbauen ließ. So kann man sagen, dass der Rosenstock zumindest die Erinnerung an den Gründungsort wach hält, auch wenn die ältesten Nachrichten über die heutige Pflanze erst aus dem 17. Jahrhundert stammen. Immerhin ist sie keine Züchtung aus fernen Landen, sondern eine heimische Wildrose, botanisch "Rosa canina" oder Hundsrose genannt.

Der Dom und die St. Annakapelle zu Hildesheim vom Kreuzgang aus gesehen 
© J. F. Lange 1852, Dommuseum Hildesheim
Der Dom und die St. Annakapelle zu Hildesheim vom Kreuzgang aus gesehen

Im Verlauf der Jahrhunderte hat die Rose immer wieder Grund zur Sorge gegeben: Da gab es eiskalte Winter und Spätfröste im Mai oder es kam zu Schild- und Blattlausbefall. Die Hildesheimer aber pflegten ihren Rosenstock, denn man glaubte, dass die Stadt ein Unglück ereilen würde, wenn der Rosenstock nicht blühe.
Doch ein Ereignis hätte der Rose beinahe endgültig den Garaus gemacht: Am 22. März 1945 versank die Stadt Hildesheim nach einem Bombenangriff in Schutt und Asche und mit ihr der Dom. Auch der Rosenstock, der im Sommer 1944 noch so reich geblüht hatte wie schon lange nicht, war verbrannt und meterhoch von Trümmern bedeckt. Doch befreit vom Schutt begann sich zur Freude aller bald wieder Leben zu regen: Noch 1945 wurden 21 neue Triebe gezählt und die ersten Blüten öffneten sich.

Zartrosa sind die Blüten dieser heimischen Wildrose. 
© ML Preiss
Zartrosa sind die Blüten dieser heimischen Wildrose.

Der Dom wurde bis 1960 in der Form des romanischen Hezilo-Baus wieder aufgebaut. Sehr sorgfältig wurde dabei mit dem Rosenstock umgegangen, denn die jungen Triebe mussten besonders geschützt werden. Noch einmal gab es Grund zur Sorge, als man eine Drainage einbaute, um die von Nässe bedrohten Fundamente im Bereich des Kreuzgangs und des Friedhofs zu sichern. Durch diese Maßnahme wurde der Grundwasserspiegel abgesenkt, und die Rose erhielt nicht mehr ausreichend Wasser. Es gelang aber, den Wasserstand im Wurzelbereich wieder anzuheben.

Doch die Pflanze, die so viele unruhige Zeiten überdauert hat, hat nicht nur botanische Pflege wie Schnitt, Düngung und Schädlingsbekämpfung nötig. Der Rosenstock bedarf im Zeitalter hoher Umweltbelastung durch Industrie und Straßenverkehr wohl auch besonderer menschlicher Aufmerksamkeit. Wird ihm die von den zahlreichen Besuchern des Doms zuteil, erfreut er sie jedes Jahr im Juni mit einem Meer aus blassrosa Blüten.

Dr. Dorothee Reimann

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