Öffentliche Bauten Oktober 2005
Nach dem Brandenburger Tor in Berlin kann das Lübecker Holstentor für sich in Anspruch nehmen, das bekannteste Stadttor Deutschlands zu sein. Mehr als die berühmten Kirchen der Welterbestadt, mehr auch als das traditionsreiche Rathaus ist der massige Backsteinbau über der Trave zum Wahrzeichen der Hansestadt geworden - und das, obgleich die Funktionen, die man gemeinhin mit einem solchen Wehrbau assoziiert, hier historisch niemals zum Tragen kamen.
Die Lübecker hatten sich nämlich zu einem Zeitpunkt für diese doppeltürmige Verteidigungsanlage entschieden, als die Wehrtechnik eigentlich schon nach anderen, moderneren Lösungen verlangte. Die Stadtväter verfolgten den Bau denn auch vornehmlich aus politischen Erwägungen, galt es doch, dem expandierenden dänischen Nachbarn, der der Stadt um die Mitte des 15. Jahrhunderts mächtig auf den Leib gerückt war, mit einer demonstrativen Geste die Zähne zu zeigen.
Das neue Holstentor übersetzte die intendierte Botschaft in die Sprache der Steine: Es stellte die Verteidigungsbereitschaft der Hansestadt machtvoll zur Schau und führte ihren Wohlstand, ihre Solidität und Unabhängigkeit als gute Argumente mit ins Feld. Die eigene Bevölkerung galt es, auf diese Weise zu beruhigen und auf die hanseatische Gemeinschaft einzuschwören, für die Nachbarn wiederum las sich der Bau als eine unmissverständliche Warnung, wusste doch ein jeder, dass hinter den schießschartengespickten Türmen dreißig Kanonen lauerten, um Lübecks Wunsch nach Frieden auch das nötige Gewicht zu verleihen.
Zweierlei Sprache
Als Stadtbaumeister Hinrich Helmstede irgendwann zwischen 1464 und 1466 die Fundamente für das neue Holstentor legte, war Lübeck längst eine »boomende« Stadt. Seit 1226 reichsfrei und damit nur dem König selbst unterstellt, hatte die Mutter der Hanse seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert einen rasanten Aufstieg erlebt. Das Netz der Fernhandelskaufleute verzweigte sich kontinuierlich, und ihre Koggen beherrschten schon bald den gesamten Ostseeraum. Im Norden drangen sie bis nach Norwegen und Schweden, im Osten bis weit hinter Nowgorod vor; London, Brügge und Gent hießen die Anlaufstationen im Westen, Dortmund und Soest im Süden. Für »mercatores« von nah und fern stellte die junge Hansestadt die wichtigste Drehscheibe im überregionalen Ost-West-Handel dar. Durch enge organisatorische und rechtliche Verbindungen zu den neu gegründeten deutschen Ostseestädten wussten die Lübecker ihren wirtschaftlichen Einfluss überdies noch geschickt zu vermehren. Mit ihren zirka 20.000 Einwohnern konnte die Stadt bereits im 13. Jahrhundert in die Riege der größten Städte des Deutschen Reiches aufsteigen. Man spielte von da an sozusagen in der gleichen Liga wie das altehrwürdige Köln, wie Erfurt oder Regensburg.
Das emsige Kommen und Gehen der Fernhändler auf der von Trave und Wakenitz umflossenen Altstadtinsel begleitete nicht von ungefähr schon bald eine rege Bautätigkeit: Fünf stolze Hauptkirchen wuchsen im Nu aus dem Boden, ein Maßstäbe setzendes Rathaus sowie die stadtbildprägenden Giebelhäuser, Klöster, Hospize und Gänge. Daneben gehörte die Modernisierung vorhandener Bausubstanz zum Tagesgeschäft. Die stolze Backsteinstadt konnte es sich gar leisten, die gotische Marienkirche binnen 80 Jahren zweimal grundlegend umzubauen. Als Ausweis der eigenen Wirtschaftskraft schien offensichtlich jeder Aufwand gerechtfertigt. Kein Wunder, dass auch die neue städtische Visitenkarte, das Holstentor, dem Credo hanseatischer Macht und Stärke huldigte.
Dank einer großzügigen Dotation des Ratsherrn Johann Broling zwischen 1466 und 1478 in Anlehnung an flandrische Vorbilder errichtet, wartete das imposante Brückentor über der Trave von jeher mit zweierlei Gesicht auf - einer einladend-offenen Stadtseite und einer wehrhaft geschlossenen Feldseite. Den unerwünschten neuen Nachbarn vor allem führte es auf der Feldseite mit seinen Wehrtürmen und Schießscharten die Verteidigungsbereitschaft der Hansestadt vor Augen. Darüber hinaus pochte es mit der wiederholten Darstellung des Reichsdoppeladlers unübersehbar auf die angestammte Rechtsfreiheit der Lübecker. Hiermit waren kurz und knapp die Bedingungen formuliert, unter denen Einlass in die Handelsstadt gewährt werden konnte - die Einhaltung von Frieden und Recht.
Die eigentliche Zufahrt zur Stadt war denn auch bezeichnenderweise in einen Zwischentrakt eingefügt, der gegenüber den beiden Wehrtürmen um dreieinhalb Meter zurücktrat. Anders als bei diesen setzte der Baumeister hier erste dekorative Akzente, ließ er für all diejenigen, denen Einlass gewährt werden sollte, die Schauseite der Hansestadt sozusagen schon einmal aufblitzen: Unter einem prächtigen gotischen Stufengiebel waren die beiden Geschosse über der Tordurchfahrt durch eine Folge von jeweils sechs kleinen Fensteröffnungen beziehungsweise sechs hohen Blendarkaden symmetrisch gegliedert. Diese feldseitige Auflockerung der Fassade verbarg hinter der freundlichen Willkommensgeste allerdings nicht den tiefer liegenden Zweck des Baukörpers - Fenster wie Blendfenster ließen die auch hier vorhandenen Schießscharten nur etwas verbindlicher aussehen.
Auf der Stadtseite hat der Baumeister die wehrtechnische Aussage des Bauwerks naturgemäß zurücknehmen können. Nach innen galt es ja niemandem zu drohen; hier sollte stattdessen der Stolz auf die Zugehörigkeit zu der prosperierenden städtischen Gemeinschaft im Vordergrund stehen. Folglich wartete das backsteinerne Tor zur Stadt hin mit ungleich repräsentativeren Qualitäten auf: Türme und Durchfahrt waren hier zu einer einheitlichen, durch reiche Blendfolgen einladend gegliederten filigranen Schmuckfassade zusammengezogen. Um das Außen und Innen schlüssig miteinander zu verbinden, ließ Helmstede zwei Friese aus unglasierten Terrakotten das Bauwerk wie Gurtbänder umlaufen, auf denen sich ein Wechselspiel aus ornamentalen Plattenmustern, Gittern aus Maßwerkstäben und heraldischen Lilien mit Rosetten entfaltete. Mittig zwischen diesen Ornamenten hatte als Zeichen reichsstädtischer Freiheit der von so genannten wilden Männern flankierte lübische Doppeladler seinen Platz gefunden. Die Friese markierten nach außen drei Geschosse und fassten die beiden Seiten des Baus mit dem gemeinsamen Hauptgesims stilistisch zu einer Einheit zusammen. Bei aller nutzungsbedingten Unterschiedlichkeit der Fassaden des Tores ist eines doch beiden gemeinsam: Jede vermittelt ihre je eigentümlichen Botschaften außerordentlich imposant und selbstbewusst.
Dabei steht das scheinbar felsenfeste Stadttor mit seinen charakteristischen schiefergedeckten Kegelhelmen, das allem Anschein nach nichts wirklich erschüttern kann, in einem seltsamen Widerspruch zu dem morastigen Grund, auf dem es Stabilität zu gewinnen sucht. Um das gen Holstein gerichtete Tor an ebenso historischer wie stadtbildprägender Stelle errichten zu können, hatte Baumeister Helmstede allerlei Anstrengungen unternehmen müssen, immerhin plante er für die beiden Rundtürme feldseitig eine Mauerstärke von bis zu dreieinhalb Metern ein. Die beiden Türme errichtete er folglich über einer Balkenrost-Konstruktion, nachdem der Bau mit Pfählen in seinem moorigen Untergrund gesichert worden war und eine zusätzlich etwa sieben Meter hohe Aufschüttung die erforderliche Stabilität garantieren sollte.
All diesen Maßnahmen zum Trotz machte sich aber bereits während der Bauzeit eine Neigung des Südturms bemerkbar; auch sein nördliches Pendant bewegte sich allmählich aus der Lotrechten; gleichzeitig begann das Bauwerk als Gesamtes abzusinken. Ein Halten sollte es danach, allen Anstrengungen zum Trotz, nicht mehr wirklich geben. Die untersten Schießscharten liegen heute etwa einen Meter unterhalb der Oberfläche. Lübecks repräsentative »schiefe Türme« sind einander nach wie vor leicht zugewandt - so als befänden sie sich in einem langen, vertrauten Zwiegespräch.
Denkmal im Wandel der Zeit
Das Lübecker Holstentor repräsentiert einen Typus von Bauwerken, die - obzwar sie anderes verheißen - eigentlich von Beginn an Denkmale sind. Ausgestattet mit den Attributen von Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft, hat sich die Bedeutung des Tores seit jeher niemals in seiner bloßen Funktion als Stadttor erschöpft. Hier sollte vielmehr die Fahne reichsstädtischer Freiheit hochgehalten und der Selbstbehauptungswillen der Kommune machtvoll unterstrichen werden - eine Warnung und Mahnung in wechselnden Lagen aus schwarz und rot gebranntem Stein, ein Denkmal städtischer Unabhängigkeit und bürgerlicher Freiheit.
In seiner wehrtechnischen Funktion schon zur Erbauungszeit nahezu überholt und bereits wenige Jahrzehnte später in die modernen Festungsanlagen integriert, ist das Holstentor auch zu späterer Zeit immer wieder als Denkmal beschworen worden. Dabei nahmen sich die nachfolgenden Generationen durchaus die Freiheit, den Wert und die Bedeutung eben dieses Denkmals ganz unterschiedlich zu definieren. Das gilt vornehmlich für die denkmalpflegerischen Maßnahmen der Jahre nach 1850.
Erst in dieser Zeit nämlich pellten die Lübecker ihr altes Wahrzeichen aus den Schalen der frühneuzeitlichen und barocken Verteidigungsanlagen. Diese waren dem alten Tor in Form von steilen Wällen, Bastionen und Toren nach und nach in dichtem Abstand vorgeblendet worden, sodass man den Backsteinbau schließlich über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, von der Feldseite aus gar nicht mehr recht hatte zu Gesicht bekommen können.
Als dann jedoch in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der unweit des Holstentores geplanten Errichtung des Lübecker Bahnhofs die Niederlegung der überkommenen Wälle und die funktionale Anbindung des neuen Verkehrsknotenpunkts an die Altstadt zur Debatte stand, rückte das Tor feldseitig erstmals wieder aus seiner dichten Umbauung heraus in das Blickfeld der Bürger. Nicht nur hatten dafür die um die Mitte des 16. Jahrhunderts errichteten Wälle fallen müssen, auch das 1585 in nur geringem Abstand zum Holstentor errichtete Vortor mit seiner prachtvollen, hoch übergiebelten Hausteinfassade in der Formensprache der Spätrenaissance wurde nun bereitwillig preisgegeben. Mit dem Anbruch des Industriezeitalters sollte das Neue das Altehrwürdige mit aller Macht verdrängen; selbst das Holstentor hielten viele Lübecker für nicht mehr erhaltenswert. Zehn Jahre nahm sich die Bürgerschaft Zeit, um über Erhalt oder Abriss des Bauwerks zu diskutieren, bevor sie schließlich 1863 mit einer Stimme Mehrheit für seinen Bestand votierte.
Damit war zugleich der Weg für die Restaurierung von 1864-71 geebnet. Diese sollte dann jedoch in vielem über das hinausgehen, was sich heute mit Restaurierung verbindet, und nicht davor zurückscheuen, die Erhaltung des historisch Überlieferten eigenem Gestaltungswillen unterzuordnen. Große Bereiche der Außenfassaden wurden beispielsweise neu verblendet beziehungsweise gänzlich rekonstruiert. Die feldseitige Inschrift über dem Durchfahrtsbogen des ehemaligen Vortores, Concordia Domi Foris Pax, die traditionsreiche Beschwörung von innerer Eintracht und äußerem Frieden, integrierte man nun - in textlich leicht veränderter Form - in das alte Tor. Auch der Stufengiebel, der die Tordurchfahrt heute so schmuckvoll bekrönt, wurde frei vom historischen Vorbild neu gestaltet.
Auch zur Stadtseite hin definierten die Restauratoren das spätgotische Denkmal städtischer Rechtsfreiheit und Wehrhaftigkeit partiell in ihrem Sinne um. Sie überschrieben die Tordurchfahrt mit dem ebenfalls dem ehemaligen Vortor entnommenen Kürzel S.P.Q.L. - dem traditionsmächtigen »Senatus Populusque Lubicensis« - und fügten dem die Jahreszahl 1871, das Datum der Reichseinigung, hinzu. Lübecks altes Wahrzeichen hatte seinen angestammten Denkmalcharakter mit einem Mal abgestreift und war nun zum zeitgemäßen Denkmal der geeinten Nation mutiert. Die Reichsgründungsgegenwart hatte sich so am repräsentativen historischen Bestand eine kongeniale Gedenkstätte geschaffen.
Siebzig Jahre später beschäftigte der ehrwürdige Bau die Denkmalpfleger erneut. Nicht nur führte man - alarmiert durch die notorische Westneigung und zunehmende Instabilität des Bauwerks - nun umfangreiche statische Sicherungsarbeiten durch und richtete eine Grünanlage im Umfeld des inzwischen vollkommen frei stehenden Tores ein, auch das Innere wurde gründlich restauriert. Dabei änderten die zuständigen Denkmalpfleger die Geschossabfolge im Nordturm und fügten in die Bogenöffnung der Tordurchfahrt ein so nie zuvor vorhandenes Fallgitter ein. Für die geplante Einrichtung eines Waffenmuseums sahen sie zudem eine Ausstattung sämtlicher Innenräume mit Wandmalereien vor, die unter anderem den zeitgenössischen Führerkult beschwören und das Tun der nunmehr herrschenden Nationalsozialisten mit dem Glorienschein der Tradition bereichern sollten. Lediglich die schlechte Qualität der Entwürfe bewahrte das Bauwerk vor der Realisierung des geplanten Missbrauchs.
Seit nunmehr fünfzig Jahren beherbergt das Holstentor das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, das sich in Lübecks berühmtester Immobilie nach wie vor eines kontinuierlichen Besucherstroms sicher sein kann. Lübecks Wahrzeichen - erneut als Symbol städtischer Freiheit gefeiert - hat sich auf dem ehemaligen Fünfzigmarkschein, auf Briefmarken und Marzipanverpackungen immer wieder in Erinnerung gebracht und prägt das Erscheinungsbild des Deutschen Städtetages. Um die historischen Innenräume des berühmten Tores für die angestammte museale Nutzung sachgerecht instand zu setzen und zu restaurieren, waren im Jahr 2002 einige Anstrengungen vonnöten. An den sich auf etwa 500.000 Euro belaufenden Gesamtmaßnahmen einschließlich der musealen Neugestaltung der Räume beteiligte sich die Deutsche Stiftung Denkmalschutz mit einem Betrag von mehr als 150.000 Euro. Die dringlich notwendige Restaurierung der stark verwitterten Terrakottenfriese an den Fassaden konnte erst 2005 durchgeführt werden. Auch für diese Arbeiten wird eine großzügige Förderung bewilligt.
Die Sicherung des berühmten Tores wird auch hernach noch Generationen von Denkmalpflegern beschäftigen. An seinen dicken Mauern werden ihre Vorstellungen wohl ebenso ihre Spuren hinterlassen wie es bei den Vorgängern der Fall war. Hinrich Helmstedes Holstentor ist schon längst mehr als ein Dokument des ausgehenden 15. Jahrhunderts; mit dem Fortschreiten der Geschichte wird es sich mit großer Wahrscheinlichkeit stellenweise weiter verjüngen und den sich wandelnden Gegebenheiten auch weiterhin ebenso eindrucksvoll wie geduldig anpassen.
Dr. Ingrid Scheurmann
Sie spüren Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien auf: Heutige Astronomen können Milliarden Lichtjahre weit ins All blicken. Vor 500 Jahren – das Fernrohr war noch nicht erfunden – sah unser Bild vom Himmel ganz anders aus.
In den alten Zeiten der Frachtsegler musste die gesamte Habe des Seemanns in eine hölzerne Kiste passen. Manchmal liebevoll bemalt, war sie das einzige persönliche Stück, das ihn auf seinen Reisen über die Weltmeere begleitete.
Otto Bartning gehört zu den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Wegweisend sind seine Raumschöpfungen im Bereich des protestantischen Kirchenbaus.
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