Sehen und Erkennen April 2005

Vier Thesen zur Achsenverschiebung im Kirchenbau

Die Sonne und der Achsenknick

Betrachtet man den Dom in Bautzen von Südosten aus, kann man den Knick in der Südwand nicht übersehen, setzt er sich doch auch deutlich in dem mächtigen Dach bis in den First hinein fort. Der Blick auf den Grundriss bestätigt die Wahrnehmung, und sogar im Innenraum ist die Achsenabweichung unübersehbar. Beim Blick nach Osten wandert die südliche Pfeilerreihe aus dem Bild heraus, die nördliche hinein. Beim Dom in Bautzen kann man einen Achsenknick am stärksten wahrnehmen, aber er findet sich auch bei anderen mittelalterlichen Kirchenbauten.

Der Dom in Bautzen 
© G. Kiesow
Der Dom in Bautzen

Ein besonders frühes Beispiel ist die Stiftskirche in Gernrode, wo der Knick im Grundriss zwischen dem Querschiff und dem Langhaus auffällt. Er wird im Innenraum aber nur dann bemerkt, wenn man darauf aufmerksam gemacht worden ist. Forscht man nach den Gründen für diese auffällige Abweichung von der sonst üblichen Regelmäßigkeit, könnte man zunächst Messfehler in Erwägung ziehen.

Betrachtet man jedoch die Kühnheit und Eleganz der spätgotischen Hallenkirche von Bautzen mit ihren schlanken, relativ weit auseinanderstehenden Achteckpfeilern, kommen Zweifel auf, dass Baumeistern, die mit einfachen Hilfsmitteln so große technische und künstlerische Leistungen vollbringen konnten, derartige Messfehler unterlaufen sein sollen. Wie virtuos und äußerst maßgerecht sie mit dem Zirkel konstruieren konnten, erkennt man etwa an den Maßwerkfenstern der Südseite.

Die Stiftskirche in Gernrode 
© G. Kiesow
Die Stiftskirche in Gernrode

Es handelt sich also nicht um Unachtsamkeit, sondern man muss zwingende Gründe für den Achsenknick annehmen. Sie könnten bei Bautzen in der rund 500 Jahre umfassenden Baugeschichte zu finden sein. Vom ersten Bau aus der Zeit um 1000 wurden bisher keine Reste gefunden. Ein zweiter soll mit dem Chor 1213 begonnen worden sein. Seine Weihe fand vermutlich 1221 statt. Auch davon sind keine Baureste auszumachen. Die frühesten finden sich erst im Westbau, der um 1225 als einziger quadratischer Turm mit besonders dicken Mauern entstand. Am Ende des 13. Jahrhunderts wurde er zu einer Doppelturmfassade erweitert, erreichte allerdings nur im Südturm eine für die Fernwirkung wirksame Höhe. Zu diesem noch bestehenden Westbau gehörte eine dreischiffige Hallenkirche, auf deren Fundamenten wahrscheinlich die heutigen Langhauspfeiler stehen. Der Achsenknick wurde durch den Bau des Hallenchores nach 1463 ausgelöst.

Drei Gründe könnten dafür bestanden haben: Als man mit dem Chorbau begann, plante man einen nach Westen wesentlich längeren Bau und beabsichtigte dafür die Aufgabe des Westbaus mit der Verschiebung eines neuen nach Nordwesten. Als man angesichts der hohen Baukosten beschloss, die ehrgeizigen Pläne zu reduzieren und den Westbau zu erhalten, musste man mit dem Schiff nach Westen umschwenken.

Der Dom in Bautzen von Südosten 
© ML Preiss
Der Dom in Bautzen von Südosten

Für diese Theorie spricht, dass man bei der ehemaligen südlichen Außenwand, die durch den nachträglichen Anbau eines dritten Seitenschiffes nach innen geriet, die Achsenverschiebung in zwei Phasen vornahm, um den Knick nicht zu stark werden zu lassen. Dies ist allerdings nur im Grundriss zu erkennen, da das etwas später angebaute südliche Seitenschiff nur eine Abknickung von der Sakristei aufweist und deshalb so stark in Erscheinung tritt.

Der zweite Grund für die Achsenverschiebung wie auch für einen Verzicht auf die Verlängerung der Kirche nach Nordwesten könnte im Untergrund liegen. Zwar liegt Bautzen auf einem Granitfelsen, der jedoch nicht gleichmäßig bis an die Oberfläche der Bergkuppe reicht. So könnte er nördlich der heutigen Kirche erst in einer gewissen Tiefe liegen, so dass hier kein tragfähiger Boden ansteht. Dies bemerkte man erst beim Ausheben der Fundamentgräben und änderte dann die Baupläne.

Ein dritter Grund für die Achsenverschiebung, wenn nicht in Bautzen, so vielleicht bei anderen Beispielen, könnte im Wechsel des Titelheiligen liegen. Es wird vermutet, dass man die liturgisch vorgeschriebene, möglichst genaue Ostung der Kirche am Tag des Namenspatrons - bei Bautzen also des Heiligen Petrus und damit am 29. Juni - vornahm. Nach dem Planieren des Baugrunds wurde die Mittelachse durch Einschlagen eines Pflockes mit einer langen Leine festgelegt, deren Ausrichtung nach Osten durch das Einschlagen des zweiten, östlichen Pflockes genau im Augenblick des Sonnenaufgangs erfolgte.

Die Maßwerkfenster am Bautzener Dom bezeugen, wie genau die Baumeister planen konnten. 
© G. Kiesow
Die Maßwerkfenster am Bautzener Dom bezeugen, wie genau die Baumeister planen konnten.

Hatte nun nach längerer Bauunterbrechung der Titelheilige gewechselt und lag dessen Namenstag in einer anderen Jahreszeit, so ging dann die Sonne an einer anderen Stelle auf. Da man einen Messfehler der Vorgänger vermutete, korrigierte man die Achse, denn über den Lauf der Gestirne wusste man sehr wenig, oder durfte nichts wissen, was von der Auffassung der Kirche abwich. Diese setzte fälschlich, aber mit dogmatischer Strenge voraus, dass die Erde eine Scheibe sei und die Sonne sich um sie drehe. So gingen die mittelalterlichen Baumeister zwar bewundernswert pragmatisch mit der Trigonometrie um, verfügten aber über kein theoretisches Wissen, denn sie bauten ihr Können nicht auf Schulbildung oder Studium, sondern auf der praktischen Erfahrung der Bauhütten auf.

Für den Achsenknick in Bautzen sei eine vierte These nicht verschwiegen, die darin das im Tode zur Seite geknickte Haupt des Erlösers symbolhaft wiedergegeben sehen will. Doch wäre dieses Symbol für den mittelalterlichen Menschen nicht erkennbar gewesen, denn er verfügte weder über eine Grundrisszeichnung, noch über eine Luftansicht der jeweiligen Kirche. Nun bin ich gespannt, ob Sie, verehrte Leserinnen und Leser, andere Beispiele für den Achsenknick und weitere Erklärungen dafür kennen.

Prof. Dr. Dr.-Ing. E. h. Gottfried Kiesow

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2 Kommentare

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    Hans Rudolf Hertig schrieb am 03.01.2021 11:24 Uhr

    Die erste nachgewiesene Kirche (St. Peter) in Gelterkinden (Schweiz, nähe Basel, erbaut im 10. Jh.) mit einem Innenraum von 12.5 auf 7.5 m und versehen mit einem Halbrundapsis war vermutlich (z.Zt. in Abklärung) auf die Sommer-Sonnenwende ausgerichtet. Im beginnenden 15. Jh. erfolgte eine Erweiterung mit einem 6 m tiefen Altarraum (Chor) mit abschliessendem Polygon-Apsis, wobei die Achse des Anbaus einige Grad nach Süden von der Kirchenschiff-Achse abweicht, was darauf hindeutet, dass der Altarraum auf den Sonnenaufgang am 29. Juni (Namenstag Peter und Paul) ausgerichtet ist. Dies wäre eine mögliche Erklärung für den Achsenknick.

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  • Kommentar als unangemessen melden
    Dr. Christian Wiltsch schrieb am 21.02.2023 23:19 Uhr

    Es wird hier wie sehr oft die Hypothese eines Wechsels des Kirchenpatrons unterstellt sowie eine angebliche Pflicht, die Kirche nach dem Heiligen zu orientieren. In der Disseratation "Das Prinzip der Heliometrie im Lageplan mittelalterlicher Kirchen" (Aachen 2014) habe ich anhand von 1000 Kirchen aus NRW nachweisen können, dass Kirchen selten zum Kirchenheiligen orientiert wurden, dafür fast doppelt so oft zu ihrem Weihetag, der regelmäßig davon verschieden ist. Ohne die Achsknicke zu thematisieren iost dabei eine Quelle zitiert aus Straßburg, Anfang 16. Jahrhundert, die einen Achsknick beschreibt: Wenn an einen Kirche ein Chor neu gebaut werden soll, nehme man den Kompass, und dann korrigiere man die Gradzahlen und legt die Achse des Chores fest. Mit anderen Worten, der unzulängliche Julianische Kalender hat bei Bauänderungen mit einigen Jahrhunderten Differenz oft zu Achsknicken geführt. Allerdings gibt es auch andere Gründe, wie den Baugrund, Hindernisse und -sehr selten- Wechsel der Bezugsdaten für die Orientierung, die als Inszenierung der Ewigkeit zu verstehen war (Sonnenaufgang: Zukunft Christi, Messfeier: Gegenwart Christi, Kruzifix über Altar: abgeschlossene Vergangenheit Christi). Dazu wurde einer der beiden Kirchenfeste gewählt, an dem die meisten Bewohner der messe beigewohnt hatten, welches durch karolingische Synoden eben auf Kirchweih und Patrozinium festgelegt war.

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