Interviews und Statements April 2016

Interview mit Dr. Sandra Wagner-Conzelmann

Otto Bartning erforschen

Dr. Sandra Wagner-Conzelmann hat an der TU Darmstadt den künstlerischen und privaten Nachlass von Otto Bartning katalogisiert und erforscht ihn weiterhin. In Monumente berichtet sie über ihre Untersuchungsergebnisse.

Monumente Online: An der TU Darmstadt leiteten Sie ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Katalogisierung des Bartning-Nachlasses. Wie muss man sich den Archivbestand vorstellen?


Sandra Wagner-Conzelmann: Das Otto-Bartning-Archiv der TU Darmstadt umfasst den persönlichen Nachlass Bartnings. Hier werden Unterlagen aufbewahrt, die Bartning in seinem privaten Büro in seiner Wohnung im Ateliergebäude auf der Mathildenhöhe in Darmstadt gesammelt hat. Es beinhaltet Teile der beruflichen Korrespondenz, Manuskripte seiner Artikel, Vorträge und Bücher, aber auch persönliche Notizen und seine Tagebücher. Zudem gibt es im Nachlass viele originale Fotografien seiner Bauten und Projekte und einige wenige Entwurfszeichnungen. Besonders erwähnenswert ist eines der beiden noch existierenden originalen Modelle der 1922 entworfenen Sternkirche, das Bartning nach 1945 anfertigen ließ.


Diesen sehr reichhaltigen Bestand habe ich von 2009 bis 2013 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projektes gemeinsam mit studentischen Mitarbeitern gesichtet, in Einzelblatterfassung katalogisiert und in eine Datenbank eingegeben. Besonders spannend war es, den Inhalt der Kisten zu untersuchen und wissenschaftlich auszuwerten, die bislang noch nicht geöffnet worden waren. Hier haben sich einige überraschende Archivalien gefunden, die das Herz eines jeden Wissenschaftlers höher schlagen lassen. Ich hatte oft eine Goldgräberstimmung!

Sandra Wagner-Conzelmann mit dem Modell der Sternkirche aus den 1950er Jahren. Im Hintergrund zeigen historische Ausstellungstafeln die Standorte der Notkirchen in der Bundesrepublik und der DDR sowie den Aufbau einer Notkirche.
Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt
Sandra Wagner-Conzelmann mit dem Modell der Sternkirche aus den 1950er Jahren. Im Hintergrund zeigen historische Ausstellungstafeln die Standorte der Notkirchen in der Bundesrepublik und der DDR sowie den Aufbau einer Notkirche.

Monumente Online: Was begeistert Sie an Otto Bartnings Architektur? Gibt es einen Bau, der Sie besonders fasziniert und warum?


Sandra Wagner-Conzelmann: Bartnings Programm war es, eine dem „menschlichen Maß“ angemessene Architektur zu gestalten. Architektur sollte für ihn nicht willfährig den zeitgenössischen Stilen folgen. Auch als Protagonist der Moderne in den 1920er-Jahren warnte er vor einer dogmatischen Verkrustung, vielmehr strebte er an, in seiner Architektur den Ortsbezug und die kulturellen Grundzüge der Gesellschaft widerzuspiegeln. Er war stets auf der Suche nach Bauformen, welche gesellschaftlichen Werten und allgemeinen menschlichen Bedürfnisse entsprechen. In drei der vier gesellschaftlichen und politischen Epochen während seines Lebens – Kaiserzeit, Weimarer Republik und Bundesrepublik – hat er sich intensiv in die intellektuellen und gesellschaftlichen Debatten eingemischt und so auch diese Zeiten mitgeformt. Im Nationalsozialismus hat er sich aus den öffentlichen Diskussionen zurückgezogen und Aufträge für die Evangelische Kirche, auch im Ausland, ausgeführt. Spannend finde ich auch seinen Grundsatz der Verantwortung gegenüber den Menschen, der Natur und der Gesellschaft. Deshalb wollte Bartning einfach und kostengünstig bauen, jeweils unter Nutzung der neuesten Techniken und Materialien, und ohne dabei Massenware herzustellen.


Ein faszinierendes Projekt Bartnings ist die Sternkirche, die er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Gedankenkonstrukt in einem Modell und in Zeichnungen entwickelt hat. Sie ist nicht nur architektonisch und ästhetisch hochinteressant, sondern auch ein früher Kulminationspunkt seiner Suche nach dem geeigneten protestantischen Kirchenbau. Auch seine anderen Kirchen der 1920er-Jahre sind herausragend, wie die Gustav-Adolf-Kirche in Berlin, die Auferstehungskirche in Essen oder die leider nicht mehr bestehende Stahlkirche, die Bartning 1928 anlässlich der Pressa-Ausstellung in Köln errichtete.

Das Baumuster-Haus in Darmstadt, 1956
© Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt
Das Baumuster-Haus in Darmstadt, 1956

Einer meiner Favoriten ist jedoch ein heute nahezu unbekannter Profanbau, das Baumuster-Haus von 1956 in Darmstadt, das leider in den 1970er-Jahren einem Neubau weichen musste. Diese elegante, transparente, leichte und luftige Ausstellunghalle markierte durch ihre Lage am Hauptbahnhof und am Beginn der Rheinstraße, der westlichen Haupterschließung Darmstadts, einen modernen und zeitgemäßen Auftakt zur Stadt.


Monumente Online: Was reizt Sie an der Erforschung von Otto Bartning und seinem Werk?


Sandra Wagner-Conzelmann:  Bei der Sichtung des Nachlasses wurde schnell klar, dass seine Tätigkeitsbereiche viel umfangreicher waren als angenommen. So hat Bartning nicht nur ein architektonisches Oeuvre von etwa 250 Bauten hinterlassen, darunter neben seinen Kirchen auch viele sehr qualitätvolle Profanbauten, sondern er war zudem ein wichtiger Organisator, Programmatiker und Theoretiker des Bauens. In jeder seiner Lebensperioden hat sich Bartning aktiv mit den maßgeblichen gesellschaftlichen Diskussionen auseinandergesetzt. Seit 1918 gehörte er zu den Protagonisten der Moderne. Als Mitglied im revolutionären Arbeitsrat für Kunst entwarf er Konzepte einer radikalen Studienreform für Künstler und Architekten, auf die sich Walter Gropius bei der Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar stützen konnte. In der Weimarer Republik machten seine bereits erwähnten Kirchenbauten Furore. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beeinflusste Bartning wie kein anderer Architekt in den Jahren der Not die Baukultur der Nachkriegsmoderne. Mit seinem Aufruf zu einem schlichten, bescheidenen Wiederaufbau und einer Wiederbelebung der Städte im Sinne christlicher Solidargemeinschaft wurde der prominente, politisch unbelastete Architekt zur Instanz einer ethisch reflektierten Stadtplanung.


Als eine Art Zusammenspiel all seiner Grundsätze ist das ab 1945 entwickelte Notkirchenprogramm zu sehen. Es ist bis heute einzigartig. Es entstanden in 43 Städten Deutschlands Typenkirchen aus vorfabrizierten Elementen, die in Eigenleistung der jeweiligen Kirchengemeinden aufgebaut wurden. Diese Kirchenbauten, die in Bartnings Worten ein „Zelt in der äußeren und inneren Wüste“ sein sollten, werden bis heute von ihren Gemeinden hoch geschätzt.

Die Stahlkirche in Köln, 1928
Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt
Die Stahlkirche in Köln, 1928

Monumente Online: Welche Fragen stellen Sie an das Archivmaterial?


Sandra Wagner-Conzelmann:  Was waren die Konzepte, was war die Programmatik, die in den Bauten Bartnings zum Ausdruck kommen? Welche Werte spiegelt sein Oeuvre wieder? Was bedeutete das Bauen für ihn? Wie beeinflusste Bartning die Entwicklungen der Architektur, und inwiefern beeinflussten die zeitgenössischen Bedingungen ihn? Welchen Stellenwert hat die Programmatik Bartnings für aktuelle architektonische und städtebauliche Diskussionen?


Monumente Online: Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?


Sandra Wagner-Conzelmann: Bartning war bisher vor allem als Architekt von Kirchenbauten bekannt. Die Sternkirche, seine Kirchenbauten der 1920er-Jahre, das Notkirchenprogramm, oder auch das expressionistische Wohnhaus Schuster in Wylerberg in der Nähe von Kleve sind auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Weniger sichtbar war bisher, wie alle diese Signalbauten auf einer geistigen und intellektuellen Auseinandersetzung Bartnings mit den großen Fragen der Zeit beruhten. Auch Bartnings ungeheuer ausgeprägtes persönliches Netzwerk in seinen verschiedenen Lebensphasen kann nun deutlicher dargestellt werden. Außerdem konnte ich andere Aspekte deutlich herausarbeiten – etwa Bartnings entscheidenden Einfluss auf den Wiederaufbau nach 1945 nicht nur als Programmatiker, sondern auch als Preisrichter und Gutachter in außerordentlich vielen nationalen und internationalen Wettbewerben, seine prägende Rolle als Organisator und Moderator bei den Wiederaufbauplanungen beispielsweise von Frankfurt, Helgoland, Darmstadt und Berlin, und seine Wertevermittlung an die jüngeren Generationen.


Die Auswertung neu entdeckter Schriften lässt zudem die Entwicklung seiner Programmatik deutlich werden. Beginnend mit der frühen Schaffensperiode im Kaiserreich werden seine Grundsätze in der Weimarer Republik und auch in der Zeit des Nationalsozialismus konturiert und finden schließlich weite Verbreitung und Rezeption in der jungen Bundesrepublik.


Innenansicht der Stahlkirche in Köln, 1928
© Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt
Innenansicht der Stahlkirche in Köln, 1928

Monumente Online: Ihre Forschungsergebnisse werden in eine Bartning-Ausstellung fließen, die Sie für 2017 organisieren. Was werden die Besucher sehen können?


Sandra Wagner-Conzelmann: In dieser umfassenden Retrospektive wird der Besucher an Hand von originalen Fotos, Zeichnungen, Skizzen, handschriftlichen Aufzeichnungen und historischen und neu angefertigten Architekturmodellen einen umfassenden Einblick in das äußerst vielseitige und reichhaltige Oeuvre Bartnings erhalten. Da Bartnings Leben, Tätigkeitsfelder und Programmatik eng mit den zeitgenössischen Kunst- und Architekturentwicklungen vernetzt waren, werden auch diese schlaglichtartig illustriert. Besonders freue ich mich auf die erstmalige Gegenüberstellung einer neu entdeckten, in Paris aufbewahrten Skizze Bartnings von der Sternkirche mit dem Aquarell eines „Kultbaus“ von Wassili Luckhardt von 1920, die wunderbar aufzeigt, dass das künstlerische Umfeld des Arbeitsrats für Kunst und der Expressionismus ihm inhaltlich und auch formal große Inspiration waren. Der Entwurf der Sternkirche wird nicht nur durch die im Otto-Bartning-Archiv singulär vorhandene Sammlung der originalen Fotos von Otto Hartmann präsentiert, zu sehen sein wird auch das von ihm in den 1950er-Jahren beauftragte Modell. Visuell erlebbar wird der Innenraum der Sternkirche – und übrigens auch der der Stahlkirche – in einer 3D-Rekonstruktion. In Hörstationen wird der Besucher Bartnings Rundfunkbeiträge und Auftritte in Fernsehsendungen der 1950er-Jahre verfolgen können. Auch für die Präsentation des Notkirchenprogramms haben wir uns Überraschungen einfallen lassen.

Otto Bartning mit dem Modell der Berliner Gustav-Adolf-Kirche, ca. 1932
Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt
Otto Bartning mit dem Modell der Berliner Gustav-Adolf-Kirche, ca. 1932
Innenansicht der Gustav-Adolf-Kirche, 1932-1934
Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt
Innenansicht der Gustav-Adolf-Kirche, 1932-1934
 


Monumente Online: Wo wird die Ausstellung zu sehen sein?


Sandra Wagner-Conzelmann:  Bei dieser im Reformationsjahr 2017 stattfindenden Ausstellung handelt es sich um ein Kooperationsprojekt der Akademie der Künste in Berlin und der Wüstenrot Stiftung in Zusammenarbeit mit der Städtischen Galerie Karlsruhe, dem Institut Mathildenhöhe Darmstadt und der Technischen Universität Darmstadt. Zudem stützt sich das Projekt auf das Otto-Bartning-Archiv der TU Darmstadt unter Leitung von Prof. Dr. Werner Durth. Damit wird die Ausstellung in den Städten zu sehen sein, in denen Bartning einen Großteil seines Lebens verbracht hat: seine Heimatstadt Karlsruhe; Berlin, wo Bartning über 40 Jahre lang gelebt und gearbeitet hat, und schließlich Darmstadt, wo Bartning von 1951 bis 1959 den westlichen Flügel des Ernst-Ludwig-Hauses auf der Mathildenhöhe bewohnte.

 

An jedem Standort wird die Ausstellung eine thematische Vertiefung erhalten. Ein thematischer Schwerpunkt in Berlin werden Bartnings Tätigkeiten nach 1945 sein – beispielsweise die Interbau 1957 im Berliner Hansaviertel, deren Planung Bartning maßgeblich prägte. Schön ist es, dass wir die Schau in der Akademie der Künste am Hanseatenweg im Hansaviertel zeigen können, also auf dem ehemaligen Interbau-Gelände. In Karlsruhe wird ein besonderes Augenmerk auf die Jugend- und Studienzeit Bartnings sowie auf seine Auseinandersetzung etwa mit den Weinbrenner-Bauten in der Stadt gelegt, die er sehr schätzte. In Darmstadt schließlich rückt unter anderem die intellektuelle Ausstrahlung Bartnings auf die kulturelle und geistige Neufindung der jungen Bundesrepublik in den Mittelpunkt – etwa durch die berühmten Darmstädter Gespräche, die Bartning in den frühen 1950er-Jahren mitorganisierte.

 

Monumente Online: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Die Fragen stellte Julia Ricker


Lesen Sie hier den Artikel zum Thema 

Bartning-Ausstellung


Akademie der Künste Berlin 30.3.–18.6.2017

Städtische Galerie Karlsruhe 22.7.–22.10.2017

Institut Mathildenhöhe Darmstadt 19.11.2017–18.3.2018

 

Publikation


Zu den Ausstellungen erscheint ein Buch von Sandra Wagner-Conzelmann über Leben und Werk Bartnings, in das ihre neuesten Forschungsergebnisse einfließen.

 

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