Wohnhäuser und Siedlungen Jugendstil / Art Déco Herrscher, Künstler, Architekten Interieur Dezember 2009 J

Henry van de Velde bleibt auch 50 Jahre nach seinem Tod aktuell

Die Schönheit der Linie

Er war auf dem besten Weg, einen unerschütterlichen Platz in der Hautevolee Berlins einzunehmen. Als Henry van de Velde 1901 für den Hof- und - man kann es wohl nicht anders nennen - Promifriseur Felix Haby die Ausstattung seines Salons entworfen hatte, stand er im Mittelpunkt der gehobenen Gesellschaft.

Eleganz ist van de Veldes Markenzeichen: der Friseursalon Haby mit seinen verspielten Formen aus dem Jahre 1901 
© R. Rossner
Eleganz ist van de Veldes Markenzeichen: der Friseursalon Haby mit seinen verspielten Formen aus dem Jahre 1901

Da saßen die Damen und Herren inmitten der schwingenden und schmeichelnden Formen im schönsten Jugendstil auf Mahagoni-Mobiliar, konnten sich in Spiegeln über edlen grünen Marmorwaschbecken begutachten, sich präsentieren, neueste Gerüchte austauschen - und gleichzeitig dem als Stararchitekten geltenden van de Velde (geb. 1863) neue Aufträge erteilen. Es galt, noch viele Berliner auf den dernier cri zu bringen. Doch ihn, der noch gar nicht so viel gebaut hatte, sondern eher Interieurs schuf, also nach heutigem Verständnis Innenarchitekt und Designer war, trieben ganz andere Pläne um.


Denn van de Velde hatte eine Mission. Und kaum ein anderer verstand diese so gut wie Harry Graf Kessler, glücklicher Besitzer einer von van de Velde eingerichteten Wohnungsetage in Berlin. Graf Kessler war eine der schillerndsten Gestalten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dabei so international wie gebildet, mit angeblich 12.000 Bekannten, und gleichzeitig doch vereinsamt und traurig.

Dabei hatte er sich "Sérénité", Heiterkeit, gewünscht, vor allem auch von der Kunst. Aus Weimar wollte er, im Gegensatz zum pompösen Berlin, ein zweites Florenz machen, das Neue Weimar. Van de Velde sollte dafür die Grundlagen schaffen. Diese Idee kam dem Künstler aufs Beste entgegen: Er kämpfte seit seinen beruflichen Anfängen im belgischen Uccle - und mit mäßigem Erfolg auch eine Zeitlang in Paris - für die Verbindung von Schönheit und sozialer Gerechtigkeit, vom Entwurf industriell, aber gleichzeitig in gehobener Ästhetik hergestellter Dinge. Nach seinem Studium der Malerei hatte er sich sehr genau die Ideen der englischen Arts and Crafts-Bewegung angeschaut und sich mehr und mehr dem Kunstgewerbe und der Architektur als Gesamtkunstwerk zugewandt. Die Berliner Aufträge konnten ihn da nicht mehr befriedigen.

Familie van de Velde vor ihrem Haus Hohe Pappeln in Weimar, um 1912 
© Repro Louis Held
Familie van de Velde vor ihrem Haus Hohe Pappeln in Weimar, um 1912

Van de Velde zog, alle weiteren Hauptstadt-Karriere-Chancen hinter sich lassend, 1902 mit 39 Jahren und mit Frau und Kindern ins provinzielle Weimar. Kessler mit seinen quasireligiösen Kunst-Ambitionen hatte, zusammen mit seiner Freundin Elisabeth Förster-Nietzsche, die Berufung durch Großherzog Wilhelm Ernst bewirkt. Der wünschte sich von dem kleinen, südländisch temperamentvollen Belgier ein Aufblühen des thüringischen Handwerks, den Zuzug weiterer berühmter Künstler.

Zwar blieben von vielen der im ersten Eifer angedachten Projekte nur Entwürfe übrig. Dennoch machte van de Velde aus der traditionsreichen Residenzstadt wie bereits aus seinem Haus in Uccle einen Künstler-Treffpunkt und hinterließ ein reiches architektonisches Erbe. In seinem eigenen gemütlichen, weltoffenen Wohnhaus Hohe Pappeln etwas außerhalb Weimars empfing die Familie - ganz nach den Regeln der Lebensreformer in von ihm entworfenen Kleidern - die Künstler-Avantgarde und diskutierte über die Verbindung von Kunst und Handwerk, über die modernen schlichten Formen und das Haus als große gestalterische Einheit, in dem bis zu den Möbeln, zum Geschirr und zu den Bildern alles aus einer Hand stammen sollte.

In Stein überliefert sind in Weimar mehrere Villen, das Interieur des Nietzsche-Hauses, jetzt Nietzsche-Archiv und Museum, sowie die Kunstgewerbeschule mitsamt benachbarter Kunstschule. Jedes dieser Häuser lebte ein eigenes Leben, und man staunt über die Geschichten, die mit ihnen passierten, nachdem ihr Schöpfer sie aus seinen Händen entließ. Aus der von van de Velde geleiteten Kunstgewerbeschule wurde unter Walter Gropius das weltberühmte Bauhaus, das Haus Friedrich Nietzsches erkor Adolf Hitler mit tatkräftiger Unterstützung der Schwester des Philosophen zu einem auserwählten Wallfahrtsort im nationalsozialistischen Deutschland, und auch das Palais Dürckheim in der Weimarer Cranachstraße erzählt eine bewegte Geschichte: Die feudale Villa für die gräfliche Familie Dürckheim wurde Mädchenpensionat, darauf Sitz einer Elektrizitätsfirma, dann Gefängnis der Sowjetarmee, bis es ab 1967 viele Jahre der Stasi diente, von meterhohen Mauern gänzlich den Blicken entzogen.

1903 eingeweiht und eines der Projekte, die das von Harry Graf Kessler und van de Velde geplante "Neue Weimar" einleiten sollten: das Nietzsche-Archiv in Weimar. 
© ML Preiss
1903 eingeweiht und eines der Projekte, die das von Harry Graf Kessler und van de Velde geplante "Neue Weimar" einleiten sollten: das Nietzsche-Archiv in Weimar.

Im übrigen scheinen sich die großbürgerlichen Villen van de Veldes zu solchen unrühmlichen "Umwidmungen" angeboten zu haben. Auch in Chemnitz, wohin den Architekten von Weimar aus einige seiner zahlreichen Bauaufträge führten, wurde die eindrucksvolle Villa des Textil-Fabrikanten Eugen Esche einige Jahre als Kommandantur der Sowjets, später von der Staatssicherheit okkupiert.

Zu dieser Zeit war van de Velde selbst schon lange aus Deutschland geflohen, dem Land, dem er so viele Aufträge verdankte und dem er selbst so viel hinterließ. Nach 15 Jahren in Weimar zwang ihn die zunehmende Ausländerfeindlichkeit 1917 zur Flucht in die Schweiz. Nach einem Rückkehrversuch als Architekturprofessor ins heimatliche Belgien 1925 sah er sich in den 1940er Jahren mit Anschuldigungen der Kollaboration konfrontiert, so dass er endgültig 1947 in die Schweiz zog, wo er bis zu seinem Tod blieb.

Am 25. Oktober 1957 starb Henry van de Velde 94-jährig. Ein geeigneter Anlass, jetzt, knapp über ein halbes Jahrhundert später, einen Blick auf den Umgang mit seinem Erbe in Deutschland zu werfen: Unbestritten ist seine wegweisende Rolle in der Architektur- und Kunstgeschichte Europas, nicht nur wegen seiner künstlerischen Schöpfungen, sondern auch wegen seiner theoretischen Stellungnahmen zu Kunst und Leben allgemein. Legendär ist sein Gefühl für Formen und Eleganz. Er überzeugte gleichzeitig als Maler, Buchgestalter, Designer von Objekten und Textilien. Alles entwickelte er aus der Linie, in der er Kraft und Energie gespeichert sah. Sie hatte sich spielerisch aus floralen Formen entfaltet und konnte dennoch in ihrer Schnörkellosigkeit mit frappierender Modernität die gewohnten Silhouetten aufbrechen.

Eines der letzten Projekte van de Veldes in Deutschland: Haus Schulenburg in Gera, 1913/14 erbaut. 
© Sammlung Dr. Kielstein
Eines der letzten Projekte van de Veldes in Deutschland: Haus Schulenburg in Gera, 1913/14 erbaut.

Henry van de Velde als Wegbereiter des Bauhauses - was von den Bauhäuslern wegen seiner Wurzeln im Jugendstil allerdings lange nicht so gesehen wurde -, als Mitbegründer des Werkbundes, als Reformator des Kunstgewerbes ist das typische Beispiel eines Künstlers, über den schon alles und mehr gesagt scheint und der doch immer wieder - auch über 50 Jahre nach seinem Tod - mit Überraschungen aufwartet.

Seit 2001 wird unter der Leitung der Klassik Stiftung Weimar ein Werkverzeichnis über van de Veldes kunstgewerbliche Arbeiten angefertigt. Es zeichnet sich ab, dass man Platz für Nachträge lassen sollte. Nicht nur für die in aller Welt verstreuten, in zäher Arbeit bei privaten Sammlern aufgestöberten Gebrauchsgegenstände, sondern - man staune - darüber hinaus auch für Einrichtungen und selbst ganze Gebäude. In Lauterbach bei Chemnitz etwa entdeckte man in einer ramponierten Villa, dass hinter den vorgeschraubten Holzplatten weitaus mehr als jemals erhofft von der prominenten Handschrift der Inneneinrichtung die Zeiten überstanden hatte. 2002 wurde im polnischen Trzebiechów/Trebschen ein Sanatorium als van de Velde-Bau identifiziert.

Treppenhaus im Haus Schulenburg. Die Details zeichnen van de Veldes Interieurs aus: Hier begeistern unter anderem die Aquarien als eine Art Raumteiler zum sogenannten Blumenzimmer. 
© Sammlung Dr. Kielstein
Treppenhaus im Haus Schulenburg. Die Details zeichnen van de Veldes Interieurs aus: Hier begeistern unter anderem die Aquarien als eine Art Raumteiler zum sogenannten Blumenzimmer.

Aber auch bei der vielbeschriebenen Villa Schulenburg - ein Förderprojekt der Deutschen Stiftung Denkmalschutz - lässt sich immer noch Neues entdecken: Gemäß dem Anspruch des ganzheitlich denkenden Lebensreform-Künstlers hörte van de Veldes Gestaltungswille nicht an der Haustür auf. Oft entwarf er auch die Gartenanlagen der Villen. Auch in Gera, wo er nach Wunsch des Textil-Fabrikanten und passionierten Orchideen-Züchters Schulenburg eine riesige Gewächshaus-Anlage in Kaskadenform anlegte, ein Kunstwerk an sich.

Doch nach 1945 setzte man nicht nur politisch neue Zeichen: Die Industriellen-Villa wurde zu einer medizinischen Fachschule, die weitläufige Gartenanlage zerschnitt man durch ein Schwesternwohnheim in Form eines nüchternen Häuserriegels, die Glashäuser wurden zugunsten mehrerer Einfamilienhäuser abgetragen. Seit einiger Zeit macht sich in Nachbarschaft der aktiven Kielsteins nun ein weiterer Hausbesitzer und Architekt daran - wenn auch mit viel bescheideneren Mitteln und aufwendiger Eigenarbeit -, aus seinem Haus wieder das van de Velde-Gartenhaus herauszuschälen, das es einst war. Bislang braucht es viel Phantasie und historische Fotos, um zu erkennen, was für eine spannende Geschichte dahintersteckt. Aber auch hier wird ein Stück des faszinierenden Œuvres van de Veldes mit großer Sorgfalt bewahrt.

Teil der Gewächshausanlage von Haus Schulenburg. Das steinerne Gärtnerhaus an der rechten Ecke wird - so weit es geht - wieder rückgebaut. 
© Sammlung Dr. Kielstein
Teil der Gewächshausanlage von Haus Schulenburg. Das steinerne Gärtnerhaus an der rechten Ecke wird - so weit es geht - wieder rückgebaut.

Dass sich nicht wenige der langwierigen, kräfte- und geldzehrenden Aufgabe stellen, bis zur Unkenntlichkeit entstellte Häuser wieder an ihren ursprünglichen Zustand heranzuführen, Tapeten- und Farbreste millimeterweise aufzuspüren, Mobiliar in aller Welt aufzutreiben, zeigt die ungebrochene Faszination für die Kreationen des Multitalents. Und wer weiß: Vielleicht wird sogar irgendwo ein weiteres, von der Zeit überwuchertes und verstecktes van de Velde-Juwel entdeckt. Mit Linien und Formen, die pure "Sérénité" verströmen.

Beatrice Härig

Weitere Informationen

Haus Schulenburg, Förderprojekt der DSD, beherbergt ein kleines Privatmuseum. Tel. 0365/8 26 41 41 www.haus-schulenburg-gera.de

Ende August 2009 wurde das Osthaus Museum Hagen nach aufwendiger Renovierung und Erweiterung wiedereröffnet. Die Inneneinrichtung van de Veldes wurde rekonstruiert. Der Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus ließ sich auch sein Privathaus, den Hohenhof, von van de Velde erbauen. www.osthausmuseum.de

Van de Velde ist in Weimar im Haus Hohe Pappeln - auch mit Mitteln der Deutschen Stiftung Denkmalschutz gerettet -, im Nietzsche-Archiv, im Bauhaus-Museum und in der Bauhaus-Universität zu erleben. Informationen: 03643/49 95 19

In Chemnitz beherbergt die Villa Esche ein van de Velde Museum mit drei Kabinettausstellungen: 1. zur Firma und Familie Esche, 2. zum für den Tennisclub Chemnitz entworfenen Clubhaus und 3. zur Restaurierung der Villa Esche
www.villaesche.de

Die Familie Esche vergab mehrere Aufträge an van de Velde: Dazu gehört die Villa Koerner (Erdgeschoss kann besichtigt werden) www.villa-koerner.com und auch die Einrichtung von Schloss Lauterbach bei Chemnitz. Der dortige Besitzer möchte die van de Velde-Interessierten nicht von seinem Sanierungsprojekt ausschließen und lässt sie deshalb im Internet teilhaben www.schlosslauterbach.com

Die Henry van de Velde Gesellschaft Sachsen e. V. organisiert Ausstellungen und Vorträge, Tel. 0371/33 50 19-6
www.vandevelde-sachsen.de

Eine Architekturreise durch Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland:
www.van-de-velde-route.de

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