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Die ganze Welt in Kunst gewandelt

Das Haus der Bossards bei Jesteburg

Eigentlich hatte "Nike" recht: Laut maunzend stand sie im Wohnzimmer, empört über die fremden Menschen, die sich in ihrem Heim umschauten. Mit hoch aufgerichtetem Schwanz machte sie durch die Küche ins Freie kehrt. Die betagte Katze gehörte der Bildhauerin Jutta Bossard, die 1996 mit 93 Jahren in ihrem Haus bei Jesteburg, südlich von Hamburg am Rande des Naturschutzparks Lüneburger Heide, verstarb.

Jutta und Johann Michael Bossard, 1926  
© Kunststätte Bossard
Jutta und Johann Michael Bossard, 1926

Ein Jahr zuvor war ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen: Im Angedenken an ihren Mann, den Künstler Johann Michael Bossard, konnte sie für ihr gemeinsames Anwesen die Stiftung "Kunststätte Johann und Jutta Bossard" gründen.


Das Anwesen des Künstlerehepaars, in dem "Nike" noch bis vor kurzem als letztes Familienmitglied lebte, ist in der Tat ein außergewöhnliches Fleckchen Erde. Abgelegen in der Stille eines Waldes schufen die Bossards zwischen 1912 und 1950 auf einem drei Hektar großen Grundstück ein einmaliges Gesamtkunstwerk. In ihm spiegelt sich unmittelbar der Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts. Damals sagte sich die Avantgarde von den Konventionen des Großbürgertums los, indem sie Leben und Kunst zu reformieren suchte. Sie kreierte neue Lebensentwürfe, die alle Facetten des Daseins einbezogen: Nicht nur Kunst, Musik, Dichtung und Architektur, sondern auch Natur und Nahrung sowie die Alltagskultur bis hin zur Kleidung sollten neu gestaltet werden. Das Gesamtkunstwerk zu erschaffen, gegründet auf theosophisch-anthroposophischer Anschauung, danach trachtete eine ganze Generation von Künstlern. Die "Lebensreformbewegung" brachte so manche Stätte hervor, in der sich Kunst und Leben begegneten. Die bekanntesten sind wohl die Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt und die Künstlerkolonie in Worpswede.

In der Ruhe der Lüneburger Heide gelang Johann Michael Bossard, wovon viele träumten: Kaum von der kulturhungrigen Kunstwelt beachtet, setzte er seinen Lebensentwurf in die Wirklichkeit um. In der stillen, lauschigen Waldrandlage erwarb er 1912 das Heidegrundstück und entwarf die Pläne für sein Wohn- und Atelierhaus sowie für den Kunsttempel, der den Heidewanderern eine Stätte der "Andacht" sein sollte. Kunsthistorisch betrachtet ist das Ensemble in seiner Form einmalig. Allein der Kunsttempel, den Bossard 1926 bauen ließ, kann mit expressionistischen Meisterwerken wie etwa der Böttcherstraße in Bremen oder dem Chilehaus in Hamburg durchaus in einem Atemzug genannt werden.

Der 1874 in der Schweiz geborene Johann Michael Bossard war Bildhauer, Maler und Graphiker aus Leidenschaft. Nach einer Lehre zum Kachelofenbauer und einem über Stipendien finanzierten Kunststudium in München und Berlin erhielt er 1907 eine Stelle als Professor für Bildhauerei an der Staatlichen Kunstgewerbeschule in Hamburg, die er bis zu seiner Pensionierung 1944 inne hatte. Zu seinen Schülern zählte auch die 29 Jahre jüngere Jutta Krull. 1926 heiratete er seine Schülerin. Jutta Krull-Bossard machte sein Lebenswerk auch zu dem ihren.

Bossard nahm bis 1912 verschiedene öffentliche Aufträge an: So stammt zum Beispiel in Berlin-Treptow der Fassadenschmuck am Rathaus von ihm, in Hamburg gestaltete er unter anderem das Ziffernblatt am Börsenturm und den Figurenschmuck am Völkerkundemuseum.

Durch einen seiner Auftraggeber lernte er die Lüneburger Heide kennen, war er angetan von der Ruhe in ihrer schöpferischen Weite. Südlich von Jesteburg, zurückgezogen vom Getümmel der Großstadt, begann er seine Vorstellung von einem Gesamtkunstwerk aus Architektur, Bildhauerei, Malerei, Kunstgewerbe und Gartenkunst sowie Musik und Dichtung zu verwirklichen.

Das Erossaal genannte Atelier des Künstlers. 
© R. Rossner
Das Erossaal genannte Atelier des Künstlers.

Er richtete sein Haus nach Süden zur Heide hin aus und ließ es im Heimatstil aus Backstein mit dem typischen, tief heruntergezogenen Dach erbauen. Den Park gestaltete er hingebungsvoll mit einzelnen Kunst- und Nutzinseln, wobei er Blickachsen und Geraden vermied. Im Einklang mit der vielfältigen Natur sollte seine Kunststätte ein harmonisches Ganzes werden.

Jeder Raum und jedes Möbelstück im Haus ist nach eigenen Entwürfen künstlerisch mit Malereien, Plastiken, Keramiken, Teppichen und Geschirr ausgestaltet. Wo das Auge hinschaut, entdeckt es Unerwartetes, und erst nach und nach erschließt sich die Komplexität dieses Kunstwerks - ob Pflanzen oder Skulpturen, sie alle tragen organisch zur Gestaltung bei.

Thematisch kreisten Bossards Gedanken um die Weltenschöpfung, um den Lebenskreislauf, um Körper- und Geisteskraft, um menschliches Handeln und Wandeln, um die Gegensätze von Aufgang und Untergang. Die Mythologie des Nordens hat seine Kunst stark geprägt, sie war ihm eine nie versiegende Quelle der Inspiration.

Johann Michael Bossard war ein sehr zurückhaltender Mensch, der sich ungern in Gesellschaft aufhielt. Sein introvertiertes Wesen wurde zudem durch eine Behinderung verstärkt: Als Elfjähriger erblindete er auf dem rechten Auge, was ihm wohl Zeit seines Lebens schwer zu schaffen machte. Seine Kunst war ihm das Lebenselixier, vermarktet sehen wollte er sie aber nicht. So blieb er nicht nur in Hamburgs Gesellschaft unauffällig, auch die kunsthistorische Forschung hat ihn bis heute noch nicht richtig entdeckt.

Auch die Fliesen auf dem verglasten Balkon sind eine Eigenkreation.  
© R. Rossner
Auch die Fliesen auf dem verglasten Balkon sind eine Eigenkreation.

Mit dem Alter wurde Bossard zunehmend lichtempfindlicher. Er bevorzugte in der Malerei immer häufiger ein tiefes Blau und ein sattes Dunkelrot. Die Fenster des Kunsttempels, des Edda-Saals und sogar die seines letzten Ateliers versah er mit Glasmalereien, um die Räume in ein diffuses Licht zu tauchen. In den Wohnräumen hingegen sollte der Ausblick in die Natur frei bleiben, dort sind die Sprossenfenster klar, aber klein gehalten.

Bossards lebten ihre Kunst. Zugleich war ihr Haus ein sehr gastfreundlicher Ort. Verwandte und Freunde waren bei dem Künstlerehepaar gern und oft gesehene Gäste, die dort zwischen Kunst, Hühnern, Schafen, Hunden und Katzen ein naturverbundenes und ungezwungenes Leben führen konnten. Besonders für die Kinder war es in den Sommermonaten wie im Paradies. Den gesamten Haushalt führte von 1929 bis 1979 Wilma Krull, eines von fünf Geschwistern der Künstlerin, die von ihr sagte: "Wilma ist das Beste, das ich in meine Ehe eingebracht habe."

Nach dem Tode Bossards im Jahr 1950 lag seiner Frau Jutta sehr daran, das umfangreiche Lebenswerk ihres menschenscheuen Mannes, das über 7.000 Kunstwerke umfaßt, bekannt zu machen. Sie, die Kontaktfreudige, die Energische, hatte ihm oftmals nahe gelegt, mehr die Öffentlichkeit zu suchen. Johann Michael Bossard aber war nicht umzustimmen: "Die Meinen werden mich schon finden."

Die Kunststätte Bossard arbeitet mit Elan weiter daran, das außergewöhnliche expressionistische Kunstwerk bekannt zu machen und zu bewahren. Sie bietet mit Kunstkursen - besonders für Kinder -, Führungen, Lesungen, Theateraufführungen sowie Wechselausstellungen ein abwechslungsreiches Programm an.

Die Besucher der Kunststätte waren Katze "Nike" sogar ganz lieb, sofern sie ihr nicht zu nahe kamen: Sie ruhte gern schlafentspannt auf dem alten Gartenstuhl von Jutta Bossard und blinzelte auf die Welt, die auch für sie erschaffen wurde.

Christiane Rossner

Kunststätte Bossard, Bossardweg 95, 21266 Jesteburg

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