Ikonographie April 2015 H

Eine kleine Kulturgeschichte der Heiligen Gräber

Reise nach Jerusalem

Das Teufelchen war weg. Es gehörte zu einer Kreuzigungsgruppe auf dem Kalvarienberg in Weilburg an der Lahn, die aus der Werkstatt des bekannten Mainzer Bildhauers Hans Backoffen stammen soll (Foto o.r.). Die Figur hing über dem Schächer, der Jesus verspottete. 1940 war sie in die Bauhütte des Weilburger Schlosses gebracht worden, wo sie restauriert werden sollte. Dort verliert sich ihre Spur.

Die lebensgroße Kreuzigungsgruppe wurde Anfang des 16. Jahrhunderts zusammen mit einer dazugehörenden Heiliggrabkapelle vermutlich auf Initiative des damaligen Landesherrn Graf Johann von Nassau-Dillenburg errichtet. Er mag dabei von seinem Onkel Johann Ludwig von Nassau-Saarbrücken beeinflußt worden sein, der am 31. März 1495 zu einer Pilgerreise nach Jerusalem aufgebrochen war und die Grabkapelle Christi nach seiner Rückkehr in Saarbrücken nachbauen ließ. Sie ist allerdings nicht mehr erhalten.

Die Weilburger Kreuzigungsgruppe ist durch ein Zeltdach geschützt. 
© ML Preiss
Die Weilburger Kreuzigungsgruppe ist durch ein Zeltdach geschützt.

Onkel und Neffe bildeten mit ihrer Verehrung für die heiligen Stätten keine Ausnahme. Seit dem frühen Mittelalter gaben viele Landesfürsten und private Stifter Nachbauten des Heiligen Grabes in Auftrag. Sie wollten dem Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu nahe sein, ohne weite Pilgerreisen machen zu müssen. Dabei gingen sie sehr unterschiedlich ans Werk: Manche errichteten nur eine Kapelle, andere kopierten die heiligen Stätten und hielten dabei die Abstände zwischen den einzelnen Stationen des Originalschauplatzes peinlich genau ein.

Heute gibt es noch 17 Heiliggrab-Kapellen aus allen Epochen in Deutschland. Eine von ihnen, die Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet wurde, trägt den klingenden Namen Klein-Jerusalem und steht bei Willich-Neersen unweit von Viersen. Sie wird manchmal "originaler als das Original" genannt, denn sie bezieht sich in ihrer Form und ihrer Symbolik auf die Grabeskirche in Jerusalem, wie diese aber seit dem 16. Jahrhundert schon nicht mehr aussieht.

Kaiser Konstantin hatte ab 326 eine Rotunde über dem Ort errichten lassen, an dem das Grab Jesu vermutet wird. Daneben entstand eine, 335 geweihte Grabeskirche, die 1009 durch den ägyptischen Kalifen al-Hakim beinahe vollständig zerstört wurde. 1119 ließen Kreuzfahren eine neue Kirche errichten, die in weiten Teilen bis heute erhalten ist. Die eigentliche Grabrotunde wurde 1555 und - nach einem Brand - 1809/10 umgebaut.

Ein anderes Ensemble, das die heiligen Stätten sehr originalgetreu kopiert, steht in Görlitz. Es wurde vor über fünfhundert Jahren auf Betreiben des einflußreichen Tuchhändlers Georg Emmerich gebaut. Er kannte die Grabeskirche ebenfalls von einer Pilgerreise. Sie hatte er 1465 antreten müssen, nachdem er Benigna Hörschel geschwängert hatte, aber nicht heiraten wollte oder durfte. Die Ratsherren Emmerich und Hörschel gehörten verschiedenen politischen Lagern an. Benignas Vater Niklas Hörschel war Anhänger des böhmisch-hussitischen Königs Georg Boczko von Podiebrad und Kunstat, der mit dem katholischen Ungarnkönig Matthias I. Corvinus um die Gunst des Sechsstädtebundes und damit auch um Görlitz buhlte.

Das Heilige Grab in Görlitz auf einem Kupferstich aus dem Jahr 1719. 
© Evangelische Kulturstiftung Görlitz
Das Heilige Grab in Görlitz auf einem Kupferstich aus dem Jahr 1719.

Georgs Vater, Urban Emmerich, gehörte zu den "Rechtgläubigen" um Corvinus. Sie hatten am 30. März 1467 gerade noch rechtzeitig entdeckt, daß die Anhänger Podiebrads an drei Stellen der Stadt Schießpulver zünden wollten, damit die Söldner des Böhmenkönigs in die Stadt gelangen konnten. Die Mittäter dieser "Pulververschwörung" wurden zum Tode verurteilt oder der Stadt verwiesen. Drei von ihnen befand man "schlimmen Bestrickungen" für schuldig - darunter auch Niklas Hörschel, der damit politisch erledigt war. Görlitz sagte sich schließlich von Podiebrad los, und die "rechtgläubigen" Emmerichs gewannen einen noch größeren Einfluß in der Stadt.

Der als "sehr ehrsam" in die Annalen eingegangene Georg Emmerich lenkte sechsmal als Bürgermeister die Geschicke von Görlitz. Er war am 11. Juni 1465 in Jerusalem zum Ritter des Heiligen Grabes geschlagen worden und kehrte vollkommen rehabilitiert in seine Heimatstadt zurück. Er trug mit dem Rat der Stadt im wesentlichen zur Finanzierung der Kreuzkapelle bei, die zusammen mit dem Salbhaus und der Grabkapelle das Görlitzer Heilige Grab bildet. Die Abstände zwischen den Gebäuden entsprechen denen der heiligen Stätten in Jerusalem.

Das Ensemble des Heiligen Grabes in Görlitz besteht aus der Grabkapelle (Foto), der Kreuzkapelle und dem Salbhaus. 
© ML Preiss
Das Ensemble des Heiligen Grabes in Görlitz besteht aus der Grabkapelle (Foto), der Kreuzkapelle und dem Salbhaus.

1481 wurde mit dem Bau der aus zwei Geschossen bestehenden Kreuzkapelle begonnen. An ihrer Stelle außerhalb der Stadtmauern hatte es bereits im 14. Jahrhundert ein Andachtskreuz zur Fürbitte für ungetaufte Kinder und Hingerichtete gegeben. Zunächst entstand die untere Adamskapelle, die sich durch die unterschiedliche Größe der verwendeten Quadersteine schon äußerlich von der darüberliegenden Golgathakapelle unterscheidet. Hinter dem Altar der einer Krypta ähnelnden Adamskapelle gibt es einen künstlichen Riss, der bis zur Golgathakapelle hinaufführt. Er erinnert an biblische Berichte, die von einem Erdbeben erzählen, das bei Jesu Tod einen ebensolchen Riss in seinem Felsengrab hinterlassen haben soll.

In der Görlitzer Golgathakapelle fallen drei kreisrunde Vertiefungen auf, die die Löcher für die Kreuze Christi und der beiden Schächer darstellen. An der Westseite der Kapelle befindet sich seit 1578 ein Epitaph Georg Emmerichs, das von seinen Enkeln in Auftrag gegeben wurde. Auf ihm wird die Geschichte seiner Pilgerreise erzählt. Sein unehrenhaftes Verhalten Benigna Hörschel gegenüber findet jedoch keine Erwähnung.

Die um 1500 errichtete Grabkapelle ist eine exakte, wenn auch verkleinerte Kopie des Jerusalemer Originals, wie es zu dieser Zeit ausgesehen hat. Man erzählte daher, daß Georg Emmerich eine zweite Pilgerreise nach Jerusalem unternommen hätte, auf der er von einem Bauzeichner begleitet worden wäre. Viel wahrscheinlicher ist aber, daß der Plan für die Görlitzer Kapelle nach Illustrationen Erhard Reuwichs entstand, der zusammen mit dem Mainzer Domherrn, Bernhard von Breydenbach, nach Jerusalem gereist war und seine Skizzen in Breydenbachs 1486 erschienenen Buch "Peregrinatio in terram sanctam" veröffentlicht hatte.

Die Stiftskirche St. Cyriakus gehört ebenfalls zu den Förderprojekten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. 
© ML Preiss
Die Stiftskirche St. Cyriakus gehört ebenfalls zu den Förderprojekten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.

Georg Emmerich ging in seiner Heiligengrabverehrung aber noch einen Schritt weiter: Er ließ in Görlitz einen Kreuzweg anlegen, der am Westportal der Stadtkirche St. Peter und Paul beginnt. Das Portal symbolisiert das Richthaus des römischen Statthalters in Judäa, Pontius Pilatus, in dem Jesus gegeißelt und verurteilt wurde. Die Görlitzer Via Dolorosa mißt wie ihr Jerusalemer Vorbild knapp tausend Schritte. Von den ursprünglich sieben Stationen sind in Görlitz aber nur noch zwei auszumachen. Die hügelige und parkähnliche Landschaft um das Heilige Grab erinnert darüber hinaus an das Jerusalemer Kidrontal mit Ölberg und Ölberggarten.

Nicht immer sind die Nachbauten des Heiligen Grabes von Jerusalem freistehende Kapellen. In der Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode fügt sich das Heilige Grab zum Beispiel wie ein Schmuckkästchen in das südliche Seitenschiff. Eine genaue Datierung des aus zwei Kammern bestehenden Einbaus ist bis heute nicht gelungen. Man vermutet aber mehrere Bauphasen aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Dieses Heilige Grab gehört zu den ältesten in Deutschland. Die aus Stuck gearbeiteten Figuren und die Motive auf den Wandfriesen erzählen die Passionsgeschichte. Die Bildfolgen werden jedes Jahr beim "Gernröder Osterspiel", dessen Anfänge bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen, in Szene gesetzt. Als Symbol für den Leichnam Christi wird dabei am Karfreitag die gelöschte Altarkerze in den Vorraum des Heiligen Grabes gelegt. Das eigentliche Mysterienspiel, das Menschen aus ganz Deutschland begleiten, beginnt am frühen Ostersonntag.

Auf den Wandfriesen des Heiligen Grabes von Gernrode wird die Passionsgeschichte erzählt. 
Auf den Wandfriesen des Heiligen Grabes von Gernrode wird die Passionsgeschichte erzählt.
Auf den Wandfriesen des Heiligen Grabes von Gernrode wird die Passionsgeschichte erzählt.

Noch vor einigen Jahren konnte das Heilige Grab zwei Wochen um Ostern herum besichtigt werden. Es ist jedoch in einem derart schlechten Erhaltungszustand, daß Pfarrer Andreas Müller eine Ausnahmegenehmigung benötigt, um zumindest den Vorraum betreten zu dürfen. Seit mehreren Jahren schon ermöglicht die Bodenstein-Stiftung, die von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz treuhänderisch verwaltet wird, eine umfangreiche und technisch aufwendige Sicherung und Konservierung der Heilig Grab Kapelle, die auf der Grundlage von genauen Schadensbewertungen durch Fachrestauratoren durchgeführt werden. Inzwischen konnte auch das südliche Seitenschiffdach der Stiftskirche saniert werden, was dem Heiligen Grab zugute kommt.

Es gibt Heilige Gräber in mehreren Formen und Stilrichtungen, darunter auch Sarkophage, die zu Ostern ebenfalls eine wichtige dramaturgische Funktion hatten. Sie wurden auf fahrbaren Untergestellen an eine zentrale Stelle in der Kirche gerollt.

Dieses Heilige Grab aus der Chemnitzer Marktkirche ist einer chorlosen gotischen Kathedrale nachempfunden. 
© Lazlo Toth, Schlossbergmuseum
Dieses Heilige Grab aus der Chemnitzer Marktkirche ist einer chorlosen gotischen Kathedrale nachempfunden.

Ein besonders prächtiges spätgotisches Exemplar befindet sich im Chemnitzer Schloßbergmuseum. Das filigrane, aus Lindenholz gearbeitete Kunstwerk, das um 1500 für die Chemnitzer Jakobikirche geschaffen wurde, ist einer chorlosen gotischen Kathedrale nachempfunden. Über Sockelreliefs, auf denen die schlafenden Grabwächter dargestellt sind, finden wir auf Konsolen vollplastische Figuren, die mit dem Begräbnis und der Auferstehung Christi eng verbunden sind: Joseph von Arimathäa, der von Pontius Pilatus die Erlaubnis erhielt, Jesus zu beerdigen, und Nikodemus, der ihm dabei half. Jesu Mutter Maria darf ebensowenig fehlen, wie ihre Schwester Maria Kleopha und Maria Magdalena als erste Zeugin der Auferstehung Christi. Außerdem sind die beiden Apostel Johannes Evangelista und Petrus dargestellt. Der für die Durchführung des österlichen Mysterienspiels unentbehrliche Korpus Christi ist nicht erhalten. Er war ähnlich wie eine Holzpuppe mit beweglichen Armen und Beinen ausgestattet, damit er symbolisch gekreuzigt, vom Kreuz genommen und beigesetzt werden konnte. Außerdem fehlen vier kleine Figuren, die sich an den Eckkonsolen befanden.

Das Chemnitzer Heilige Grab, eines der wenigen noch erhaltenen seiner Art, sollte im 17. Jahrhundert zerstört werden. Die Jakobikirche war mit der Reformation evangelisch geworden, und das Heilige Grab hatte seine liturgische Bestimmung verloren. Auf einer heute nicht mehr vorhandenen Tafel aus dem Jahr 1668 stand zu lesen, warum man sich dann doch anders entschied: "Wir ehren es nicht, sondern wir dulden es und stellen es auf diesen würdigen Platz, weil es dem ungelehrten Volk die heiligen Lehren predigt."

An diesem "würdigen Platz" auf der Orgelempore überstand das Heilige Grab die Jahrhunderte. Seine ganze Schönheit hat es bei einer 2001 beendeten Restaurierung entfaltet, bei der die abhanden gekommenen Figuren nicht ergänzt wurden. Anders in Weilburg, wo man sich bei der Restaurierung der Kreuzigungsgruppe entschied, einige wenige Fehlstellen zu ergänzen. Und so kam schließlich auch ein Teufelchen wieder nach Weilburg zurück.

Carola Nathan

Literatur:
Ernst-Heinz Lemper: Görlitz. Heiliges Grab mit Kreuzkapelle. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2004. ISBN 3-7954-5746-7.

Michael Rüdiger: Nachbauten des Heiligen Grabes in Jerusalem in der Zeit von Gegenreformation und Barock. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2003. ISBN 3-7954-1600-0.

Irmhild Heckmann-von Wehren: Das Heilige Grab der St. Jakobikirche zu Chemnitz und seine typologische Einordnung im Kontext des deutschsprachigen Kulturraums. In: Denkmalpflege in Sachsen 2003. ISBN 3-934544-57-6.

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