Gotik Ikonographie Dezember 2012 K

Kruzifixe des hohen Mittelalters

Den Schmerz zur Schau gestellt

Für das Christentum ist der Opfertod von Gottes Sohn ein zentrales Motiv des Glaubens, deshalb kommt auch den plastischen Kruzifixen in den katholischen und lutherischen Kirchen eine wichtige Rolle zu. Sie bringen den Kern der christlichen Lehre zum Ausdruck: die Erlösung der Menschheit von den Sünden durch den Tod Christi und den Sieg Christi über den Tod durch die Auferstehung.

In der Romanik überwiegt die Darstellung des triumphierenden Jesus. Als Sieger über den Tod steht er aufrecht am Kreuz und schaut lebend, mit geöffneten Augen, den Betrachter an. In der Gotik wandelt sich die Form der Darstellung: Christus wird tot, als Erlöser, gezeigt.

Das Triumphkreuz im Halberstädter Dom stammt aus dem ottonischen Vorgängerbau der Kirche. 
© ML Preiss
Das Triumphkreuz im Halberstädter Dom stammt aus dem ottonischen Vorgängerbau der Kirche.

Die Entsendung von Gottes Sohn in Menschengestalt erfolgte schon mit dem Ziel des Opfertodes, um den Menschen die Befreiung von jener Erbsünde in Aussicht zu stellen, die Adam und Eva im Paradies begangen hatten. Dies kommt bei vielen Kreuzigungsszenen dadurch zum Ausdruck, dass am Fuß des Kreuzes der Schädel oder größere Teile des Skeletts von Adam erscheinen. Sie hatte man der Legende nach beim Ausheben des Erdloches für die Aufstellung des Kreuzes gefunden. Bei der großartigen, 17 Meter hohen Triumphkreuzgruppe von Bernt Notke im Dom zu Lübeck aus dem Jahr 1477 erscheint das erste Menschenpaar seitlich auf dem Tragbalken.

Ein weiterer Unterschied zwischen Romanik und Gotik ist die Anzahl der Kreuznägel. Bis zum Ende der Romanik wurde Christus meist mit vier Nägeln (durch jede Hand und jeden Fuß einen) dargestellt. In der Gotik werden beiden Füße nur noch mit einem Nagel angeheftet.

Der Westlettner im Naumburger Doms 
© ML Preiss
Der Westlettner im Naumburger Doms

Entscheidend für den Wechsel in der Zeit um 1250 war vermutlich die erneute Auffindung des Turiner Grabtuches, das bis heute in der "Capella Regia" des Domes von Turin aufbewahrt wird. Man nimmt an, dass sich das mehr als vier Meter lange und etwa ein Meter breite Leinentuch zuvor in Byzanz befand, wohin es aus dem Heiligen Land wegen der vordringenden Sarazenen um das Jahr 600 gebracht worden sein könnte. Nach der Plünderung von Byzanz durch die Kreuzfahrer 1204 gelangte es nach Frankreich, schließlich in den Besitz der Herzöge von Savoyen, der späteren Könige von Italien, die es dem Dom in Turin schenkten. Auf der Leinwand zeichnet sich das Bildnis eines Gekreuzigten ab. Der Vatikan hat nie behauptet, dass es sich mit Sicherheit um das Leichentuch Christi handele. Papst Clemens VII. erlaubte im 14. Jahrhundert den Gläubigen, es zu verehren.

In der ehemaligen Stiftskirche des sächsischen Wechselburgs befindet sich diese Triumphkreuzgruppe aus dem 13. Jahrhundert. 
© C. Beyer
In der ehemaligen Stiftskirche des sächsischen Wechselburgs befindet sich diese Triumphkreuzgruppe aus dem 13. Jahrhundert.

Sein Einfluss auf die Darstellung Christi am Kreuz beruht darauf, dass es den Toten nicht mit vier, sondern nur mit drei Nagelstellen wiedergibt. Beim großen Triumphkreuz im Dom zu Halberstadt stützt Christus jeden Fuß einzeln auf eine Konsole - das sogenannte Suppedaneum, das hier die Form eines demütig verschlungenen Drachens hat. Am Westlettner des Naumburger Domes wird er mit übereinandergelegten Füßen dargestellt, durch die nur ein Nagel getrieben worden ist. Man spricht in der Kunstwissenschaft vom Übergang des romanischen Viernageltyps zum gotischen Dreinageltyp. Es handelt sich wohl ursprünglich um verschiedene Formen dieser Todesstrafe. Bei Verwendung eines Suppedaneums stützt der Verurteilte sich mit den Beinen ab, hängt nicht so stark an den Armen wie beim Dreinageltyp, wodurch die Schmerzen geringer sind, der Todeskampf allerdings länger dauert.

Was das Turiner Grabtuch außerdem lehrt, ist die richtige Nagelung der Hände an den Kreuzesbalken durch die Handgelenke und nicht, wie stets dargestellt, durch die Handflächen, aus denen die Nägel durch das Körpergewicht herausgerissen worden wären, worauf der französische Chirurg Pierre Barbet bei der Untersuchung des Leichentuches hingewiesen hat. Diese Erkenntnis haben jedoch die Bildhauer allgemein nicht bei ihren Darstellungen berücksichtigt.

Beim Vergleich des Halberstädter mit dem Naumburger Kruzifixus ist die Weiterentwicklung zwischen ca. 1220 und etwa 1240 vom noch stärker der romanischen Kunst nahestehenden zu der schon der Gotik angehörenden Darstellung nicht allein im Übergang vom Viernageltyp zum Dreinageltyp zu sehen. Gewand und Haupthaar sind in Naumburg weniger stilisiert, plastischer und stärker einem natürlichen Haar mit einzelnen Strähnen angeglichen.

Crucifixus dolorosus in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol 
© M. Thuns
Crucifixus dolorosus in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol

Diese Entwicklung zu größerer Plastizität und naturalistischer Durchformung des Körpers Christi setzt sich bei der Triumphkreuzgruppe in der ehemaligen Stiftskirche von Wechselburg fort. Sie ist mit den Assistenzfiguren von Maria sowie Johannes und Reliefs an den Enden der Kreuzesbalken reich ausgestattet und gehört damit ebenso wie das in Halberstadt zur Gruppe sächsischer Großkreuze des 13. Jahrhunderts.

Von diesen mehr durch stille Trauer geprägten spätromanisch-frühgotischen Bildnissen des am Kreuz anscheinend friedlich verschiedenen Gottessohns ist der Wandel zu Werken aus dem frühen 14. Jahrhundert drastisch, betrachtet man den Crucifixus dolorosus in der ehemaligen Damenstiftskirche St. Maria im Kapitol zu Köln. In einem nahezu brutalen Realismus wird hier der geschundene Leib Christi zur Schau gestellt, und es liegt einem sogleich der Vers aus dem Kirchenlied "Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn" auf den Lippen. Das Martyrium wird hier mit expressiver Dynamik geschildert. Zur Seitenwunde, die vom eingetretenen Tod zeugt, kommen zahlreiche, den ganzen Körper überdeckende Wunden hinzu, die von der Folter herzurühren scheinen. Dabei gehen diese auf die nach 1400 vorgenommene Zweitfassung von hoher Qualität zurück, die vermutlich der originalen von 1304 sehr nahe kommt.

Für die technischen Fähigkeiten des Bildschnitzers war die expressive Gestaltung mit dem stark vorgewölbten Brustkorb und dem tief herabgesunkenen Haupt des Toten eine starke Herausforderung. Er konnte den Corpus nicht aus einem Nussbaumholz schnitzen, sondern musste Teile wie die Arme, das rechte Knie und die Zipfel des Lendentuches anstücken. Das heutige Gabelkreuz ist nicht das originale von 1304, das aber auf Grund der Armhaltung eine ähnliche Form gehabt haben könnte. Der Crucifixus dolorosus steht in seiner expressiven Ausdrucksform nicht allein in der Bildschnitzerkunst des 14. Jahrhunderts. Zum Beispiel vertritt diesen Stil unter anderem auch die sogenannte Pietà Roettgen im Rheinischen Landesmuseum Bonn aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts.

Das Kruzifix in der Stiftskirche von Baden-Baden schuf der niederländische Meister Nilolaus Gerhaert von Leiden 1467. 
© K. Gramer
Das Kruzifix in der Stiftskirche von Baden-Baden schuf der niederländische Meister Nilolaus Gerhaert von Leiden 1467.

Von hier bis zur großen Blütezeit deutscher Bildhauerkunst im ausgehenden Mittelalter kann man eine beachtliche Entwicklung beobachten. So beim Vergleich mit dem Kruzifixus des Nikolaus Gerhaert van Leiden in der Stiftskirche von Baden-Baden, signiert und datiert 1467. In der spätgotischen Kunst nimmt dieser niederländische Meister eine zentrale Stellung ein. Er hat überwiegend in Naturstein gearbeitet, seine Werke aus Holz sind bisher nur urkundlich überliefert. Der Realismus in der Körperdarstellung des qualvoll gestorbenen Gottessohnes ist nicht geringer. Die Dramatik wird vom flatternden Lendentuch noch unterstützt. Und doch scheint insbesondere das Haupt eher Ruhe als Qual auszustrahlen. Neu ist die naturalistische Gestaltung der oberen Enden des Kreuzesbalkens mit seinen Rissen, Resten der Rinde und Ansätzen der Äste. Sie verdeutlichen den Arbeitsprozess, in dem mit der Breitaxt aus einem Rundholz ein im Querschnitt quadratischer Balken gebeilt wurde.

Professor Dr. Dr.-Ing. E. h. Gottfried Kiesow †

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